Distanzunterricht

Distanzunterricht: Pädagogik von der Bettkante aus 

(1) Sachsens Ministerpräsident Kretschmer ist dafür bekannt, in Sachen Corona eine harte Linie zu fahren. Nachdem die Kanzlerin den Termin für die nächste Ministerrunde vorgezogen hatte, meldete er sich in einer Talkshow des deutschen Fernsehens mit dem Vorschlag zu Wort, die Schulen nun endgültig und ohne Ausnahme zu schließen. „Kindergärten komplett runterfahren, Schulen abschließen“, befahl er in die Runde der Talkshow-Gäste.

Absperren und herunterfahren, das sind markige Worte. Aus dem Alltag kennt man das Herunterfahren, wenn Motoren, Heizungs- oder Fabrikanlagen ausgeschaltet werden. In Science-Fiction-Filmen werden Antriebsaggregate heruntergefahren, wenn ein technisches Problem aufgetreten ist und Energie gespart werden soll. Nach dem Abschalten hält die Besatzung des Raumschiffs gewöhnlich den Atem an, denn für einen Moment ist ungewiss, ob die Motoren ihren Betrieb wieder aufnehmen können. Im schlimmsten Fall endet der Film mit dem Blick auf die Raumkapsel und der Zuschauer weiß, dass diese nun für immer in der einmal eingeschlagenen Richtung weiterfliegen wird.

Das Absperren ist auf den ersten Blick weniger dramatisch. Straßen und Brücken werden gesperrt, wenn Reparaturen durchgeführt werden oder ein Unfall passiert ist. Gebäude und Einrichtungen werden zugesperrt, wenn sie für längere Zeit nicht genutzt werden, beispielsweise zu Beginn von Urlaubs- und Ferienzeiten. Manchmal ist das Zusperren aber auch endgültig, etwa wenn Betriebe, Fabriken oder Kirchen dauerhaft nicht mehr verwendet und aufgegeben werden müssen. Mit dem Absperren werden die Gebäude ihrem Schicksal überlassen, bis eine andere Form der Nutzung gefunden ist oder ein Abriss vorgenommen wird.

Das Absperren ist aber auch im Zusammenhang mit der Politik der Abriegelung bekannt geworden. In China hat die politische Führung diese Strategie nach dem Auftreten des Corona-Virus zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit auf die Einwohner von Millionenstädten angewandt. Von einem Tag auf den anderen wurden Metropolen komplett vom Verkehr mit der Außenwelt abgetrennt und waren wie die Riesenraumschiffe aus Science-Fiction-Filmen plötzlich auf sich allein gestellt.

(2) In Deutschland ist der Schulbetrieb jetzt seit einer Woche „heruntergefahren“. Zwar sind die Schulen noch nicht komplett geschlossen, denn offiziell ist nur die Präsenzpflicht ausgesetzt. Der Unterricht findet aber nicht mehr in den Klassenräumen statt, sondern ist ins Home-Office verlegt worden. In einem historisch einmaligen Experiment werden seit Anfang des Jahres fast elf Millionen Schüler am Bildschirm oder Tablet unterrichtet (Online-Schule).

In den Schulen ist nur noch eine Notbesetzung übriggeblieben, die das von den Passagieren verlassene Raumschiff auf Kurs halten muss. Sekretärinnen und Verwaltungsangestellte nehmen die vielen Anfragen besorgter Eltern entgegen; die Hausmeister sorgen dafür, dass Heizungen und Wasserleitungen nicht einfrieren; die Mitglieder der Schulleitungen nehmen die Anweisungen der übergeordneten Behörden entgegen und haben immer noch alle Hände voll zu tun, die Notfallpläne an die sich dauernd ändernden amtlichen Vorgaben anzupassen.

In einigen Bundesländern sind auch noch pädagogische Kräfte anwesend, die sich um die Notbetreuung von Schülern und Schülerinnen kümmern, die nicht zu Hause bleiben können: um die Kinder von Arbeitnehmern mit „systemrelevanten“ Berufen, die Kinder alleinerziehender Mütter, die Kinder aus Familien in sozialen Notlagen.

Es sind aber nicht mehr die großen Schülermassen, die hier am Morgen in das Gebäude strömen. Auf den Fluren ist kein Johlen zu hören und kein Gerenne zu sehen, wie man es vielleicht noch aus früheren Zeiten kennt. Die wenigen Schüler, die noch eintreffen, bewegen sich in langsamem Schritt und mit gesenktem Kopf voran. Es sieht aus, was würden sie spüren, dass etwas nicht stimmt. Als müssten sie eine Stellung halten, die vom Rest der Mannschaft längst aufgegeben wurde.

(3) Die Mannschaft, das sind die Lehrerinnen und Lehrer sowie die Schülerinnen und Schüler, die jetzt zu Hause arbeiten. Als Schülermasse oder als Lehrerkollegium sind sie nicht mehr sichtbar. Sie sind nur noch vereinzelt anwesend und werden allenfalls über Glasfaserkabel und Computerbildschirme zu virtuellen Klassenzimmern zusammengeschaltet. Das Rettungsboot, in dem sie sich befinden, ist vom Mutterschiff abgekoppelt worden.

Eltern, Schüler und Lehrkräfte scheint das erst einmal nicht ernsthaft zu beunruhigen. Es gibt zwar Klagen darüber, dass die Internetverbindungen manchmal abbrechen oder dass es am Bildschirm viel schwerer fällt, sich für längere Zeit zu konzentrieren. Im Ganzen überwiegen aber die scheinbaren Vorteile. Die Schulstunden dauern nicht mehr so lang wie früher und es gibt auch deutlich mehr Pausen. Manchmal fallen auch Stunden aus, weil die Lehrer der Meinung sind, dass es sich nicht lohnen würde, die technischen „Aggregate“ für eine einzelne Schulstunde hochzufahren.

Manche Schüler haben sogar das Gefühl, der Unterricht verliefe viel entspannter als früher. Weil sie nicht gesehen werden können, sitzen sie im Schlafanzug oder Bademantel vor dem Tablet und kriechen nach jeder Stunde wieder unter die Bettdecke. Wenn der Stundenplan dies nicht zulässt, verbringen sie die Unterrichtszeit damit, Fingernägel zu maniküren oder im Internet zu surfen. Manchmal sieht man, dass auch die Lehrkräfte mit einer Tasse Tee in der Hand oder mit dem Hund auf dem Schoß vor dem Bildschirm sitzen. So etwas kennt man bereits aus dem Home-Office der Wirtschafts-Unternehmen.

Allerdings versuchen es die Lehrkräfte gelegentlich noch mit Strenge und Disziplin. Sie kontrollieren die Anwesenheit, bestehen auf Wortmeldungen und setzen Termine für die Erledigung von Übungsaufgaben. In einer Teams-Sitzung ist es aber schwierig, die Schüler zur Mitarbeit zu motivieren. „Warum antwortet niemand?“ ist wahrscheinlich die Frage, die Lehrkräfte in der vergangenen Woche am häufigsten gestellt haben.

Am Ende jeder Stunde lassen die Kinder die Erwachsenen einfach stehen. Ohne ein Wort des Abschieds schalten sie den Bildschirm aus und sind verschwunden. Die Lehrkräfte, die ihre Geräte häufig gar nicht so schnell bedienen können wie die Schülerinnen und Schüler, sitzen plötzlich allein in ihrem Arbeitszimmer. „Komm A.“, sagen sie manchmal. „Wink mir noch mal zu.“ Es winkt aber niemand. Die Schule ist nur noch ein verlassener Leer-Raum.

(4) Man kann solche Beobachtungen ganz entspannt zur Kenntnis nehmen und sich darüber freuen, dass die Schule aus einer schwierigen Situation das Beste zu machen versucht. Vielleicht kann es ja auch nicht schaden, wenn die Lehrkräfte einmal fünfe gerade sein lassen und den kindlichen Ausdrucksdrängen etwas mehr Raum geben als unter den traditionellen Bedingungen der Schule. Gerade in Zeiten, in denen Martinsumzüge und Karneval ausfallen, könnte man den Kindern doch ausnahmsweise erlauben, dem Online-Unterricht auch einmal in der Figur eines modernen Dandys zu folgen, der sich erst am Nachmittag ausgehfertig macht.

Aber sollte man das wirklich tun? Die kindlich-infantilen Ausdruckstendenzen sind ja auch im traditionellen Schulalltag nicht verschwunden. Im Unterricht sitzen keine Erwachsenen, die bereits gelernt haben, welche Rollen man von ihnen erwartet (Lortie 1975). Ein Ziel der Schule besteht vielmehr darin, dass die Schüler zwischen unterschiedlichen Rollenmustern überhaupt zu unterscheiden lernen und dabei vor allem die formalen, eher unpersönlichen Züge der Lehrerrolle kennenlernen. In unserer Kultur erzieht die Schule nun einmal dazu, sich auf einen sachlichen, überwiegend formalen Umgang mit Dingen und Menschen einzulassen und dabei die privaten oder „subjektiven“ Anteile zurückzustellen.

Dass das kein einfaches Unternehmen ist, das wissen Lehrkräfte ebenso wie Schüler und Eltern. Die Schule braucht mindestens zehn Jahre und mehr als zehntausend Unterrichtsstunden, ehe junge Menschen so weit sind, sich auf eine systematische Auseinandersetzung mit sachlichen Inhalten einzulassen und entweder Facharbeiter zu werden oder ein wissenschaftliches Studium aufzunehmen. So lange dauert es, ehe die infantilen Wünsche so weit umgearbeitet sind, dass Platz ist für die Konstruktion mathematischer Gleichungen, die Analyse eines Gedichtes oder das Verständnis ökonomischer und gesellschaftlicher Zusammenhänge.

(5) Wenn man den Präsenzunterricht aufgibt und auf Home-Office umstellt, dann verursacht das nicht nur enorme Kosten, die beispielsweise für den Unterhalt der leerstehenden Gebäude anfallen (Krisenbilanz). Noch viel weitreichender sind die Folgen, die aus der Aufgabe der traditionellen Unterrichtsverfassung und dem Verlust der fachlichen Haltung entstehen. Sollten die Erfahrungen zutreffen, die sich in der ersten Woche des Distanzunterrichts beobachten lassen, dann findet dieser Unterricht nämlich gerade nicht zu einer Form, die dem ursprünglichen Zweck der Schule entspricht. Der Unterricht verliert seine Zentrierung, die in der sachlichen Behandlung von Inhalten besteht, und droht in seinem Kern zu zerfallen.

Es ist schon jetzt abzusehen, dass die Kette von Schulschließungen, vorgezogene und verlängerte Ferien sowie ein ungeklärtes Unterrichts-Setting, das zwischen Hybrid-, Distanz- und Präsenzunterricht wechselt, zu erheblichen fachlichen und inhaltlichen Defiziten führen wird. Wer jetzt die dritte oder vierte Klasse einer Grundschule besucht, verfügt wahrscheinlich nicht über dieselben schulischen Fähigkeiten wie die Schüler früherer Jahrgänge. Und wahrscheinlich können diese Defizite auch während der restlichen Schulzeit nicht mehr aufgeholt werden.

Etwas Ähnliches gilt aber auch für die Schülerinnen und Schüler, die sich in diesem Jahr auf das Abitur vorbereiten müssen. Der Distanzunterricht läuft in der Oberstufe gegenwärtig auf ein Selbststudium hinaus, in dem die Schülerinnen und Schüler sich den Schulstoff mehr oder weniger auf eigene Faust aneignen müssen. Kontrollen und Rückmeldungen finden zwar statt, müssen aber auf ein Minimum reduziert werden. Diejenigen, die ohnehin Mühe haben, Anschluss zu finden, bleiben wie die Besatzung in den havarierten Raumschiffen auf sich allein gestellt.

Vielleicht gehört zu den Folgen der Corona-Schule aber noch eine Konsequenz, die viel weiter reicht. Wenn der Fachunterricht unter den Bedingungen des Home-Office so weit aufgeweicht wird, dass er in die Lebensformen der Familie, einer Teerunde oder eines Abenteuerspielplatzes übergeht, dann kann die Schule nichts mehr anbieten, was sie von diesen Alltagsformen unterscheidet. Weshalb sollen Jugendliche dann noch Facharbeiter, Ingenieure oder Mediziner werden? Wäre es nicht besser, das ganze Leben im Morgenmantel zu verbringen und als Dandy durch die Welt zu reisen?

(6) Kurz vor Weihnachten hatte die Kanzlerin in einer Regierungserklärung mitgeteilt, man wolle alles daran setzen, die Schulen „aufzuhalten“. Sie hat damit wahrscheinlich gemeint, man wolle die Schulen offen halten. Gesagt hat sie aber: Wir wollen die Schulen so lange wie möglich aufhalten. So ist es auch in den amtlichen Protokollen des Deutschen Bundestages vermerkt.

Vielleicht war die verunglückte Wortwahl nur ein Versprecher. Wenn der sächsische Ministerpräsident keine vier Wochen später meint, man wolle die Schulen „abschließen“, ist das kein Versprecher mehr, sondern eine klare Ansage. Wahrscheinlich weiß der Ministerpräsident nicht, dass man die Schule damit auch von ihrem ursprünglichen Auftrag abkoppeln würde. Es wäre eine Schule, die ohne Anbindung an ihren gesellschaftlichen Sinn im Universum taumeln würde.

 

Lortie, Dan C. (1975): Schoolteacher. A Sociological Study. Chicago & London: The University of Chicago Press.

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