Die Online-Schule

Die Online-Schule: Entgrenzungen einer gesellschaftlichen Institution

(1) Wegen des Lockdowns sind die Schulen zu Beginn dieser Woche mit einigen Tagen Verspätung in das neue Jahr gestartet. Die verlängerten Weihnachtsferien sollten dazu beitragen, über den Jahreswechsel hinweg die Anzahl der sozialen Kontakte und den Anstieg der Infektionszahlen zu reduzieren. Leider hat sich herausgestellt, dass diese Maßnahme wenig Wirkung gezeigt hat.

Das Besondere an diesem Jahresanfang ist aber nicht die verlängerte Weihnachtspause. Das Besondere ist der Umstand, dass seit diesem Montag der Schulunterricht in ganz Deutschland im Online-Verfahren durchgeführt wird. Der Präsenzunterricht, der vor den Weihnachtsferien in einigen Bundesländern zumindest noch in den unteren Jahrgängen durchgeführt wurde, ist gestrichen und der Schulbetrieb komplett auf den sogenannten Distanzunterricht umgestellt worden.

Damit findet zum ersten Mal in der Geschichte des staatlich organisierten Schulwesens der Unterricht nicht mehr in den eigens dafür errichteten und mit erheblichem Aufwand unterhaltenen Gebäuden statt, sondern in privaten Häusern und Wohnungen, nämlich in Kinderzimmern, Wohnzimmern oder Küchen, die von den Familien dafür zur Verfügung gestellt werden.

(2) Für die Familien, aber auch für die Lehrerinnen und Lehrer bedeutet das eine enorme Herausforderung. Im Gegensatz zu landläufigen Vorstellungen ist das Unterrichten nämlich keine Tätigkeit, die ohne nennenswerte Vorbereitung an jedem beliebigen Ort stattfinden kann. Damit so etwas wie Unterricht in Gang kommen kann, ist vielmehr ein langer Vorlauf erforderlich: angefangen von der Entwicklung der Lehrpläne über die Ausbildung der Lehrkräfte bis hin zur Einrichtung und Ausstattung von Schulgebäuden und Klassenräumen.

Zumindest bestimmte Anteile dieser Rahmenbedingungen müssen nun von den Familien eingerichtet und zur Verfügung gestellt werden. Die Eltern müssen dafür sorgen, dass möglichst jedem Kind ein eigenes Notebook oder Tablet zur Verfügung steht; sie müssen Räume freihalten, in denen die Kinder zu bestimmten Zeiten möglichst ungestört arbeiten können; vor allem bei jüngeren Kindern müssen sie darauf achten, dass die Kinder zu den vorgeschriebenen Zeiten auch wirklich am Platze sind usw.

Gleichzeitig dringen mit dem Online-Unterricht die Ordnungen und die Logik der Schule aber auch wesentlich stärker als bisher in das Familienleben ein. In allen deutschen Familien ist mindestens an den Vormittagen jetzt eine virtuelle Lehrkraft zu Gast, deren Stimme auch durch verschlossene Türen dringt und die bei den übrigen Familienmitgliedern Anlass zu Irritation oder Verwunderung geben kann. Den jüngeren Kindern müssen die Eltern erklären, mit wem der Bruder oder die Schwester gerade sprechen. Ältere Kinder werden auf einmal auf ihr Verhältnis zu Personen angesprochen, über die sie im Familienalltag aus guten Gründen geschwiegen haben.

Darüber hinaus sind Väter und Mütter von den Schulleitungen bereits im Vorfeld per E-Mail auf bestimmte Regeln für den Umgang mit den Online-Medien aufmerksam gemacht worden. Darin wird den Schülerinnen und Schülern beispielsweise untersagt, Aufzeichnungen der Unterrichtsstunden anzufertigen oder im Netz zu verbreiten, während der Unterrichtszeiten andere Websites zu besuchen oder auch „kontrafaktische“ und „verfassungsfeindliche“ Ansichten zu einzelnen Unterrichtsinhalten zu äußern.

Offenbar erwarten die Schulen, dass die Eltern sich an der Kontrolle und Überwachung solcher Regeln beteiligen und damit Aufgaben übernehmen, die ursprünglich der Schule oder den Lehrkräften zufielen. Der Alltag der Familien wird tendenziell in den Disziplinarraum der Schule eingebaut oder zu einem solchen Raum umgebaut.

(3) Umgekehrt findet ein solcher Stellungswechsel aber auch auf Seiten der Schule statt. Im Online-Unterricht sind die Lehrkräfte in ganz anderer Weise gegenwärtig als im Präsenzunterricht. Die Kamera hält jede einzelne Bewegung, jede Äußerung und natürlich auch jede Unsicherheit der Lehrkraft unbarmherzig fest. Die Online-Medien machen aus jeder Unterrichtsstunde in gewisser Hinsicht eine Lehrprobe. Die Fälle, in denen der Unterricht unerlaubterweise aufgezeichnet uns ins Netz gestellt wurde, belegen diese Auffassung.

Andererseits scheinen sich die Schülerinnen und Schüler der Sichtbarkeit aber tendenziell auch entziehen zu können. In der üblichen Darstellung über Bildschirm-Kacheln wird meistens nur der Kopf abgebildet und damit bleibt verborgen, welchen Tätigkeiten die Kinder sonst noch nachgehen, ob sie andere Programme auf Handys oder Tablets bedienen oder sich für ihre Antworten fremder Hilfsmittel bedienen.

Auch die Dynamik der Unterrichtsgruppe kann über Online-Medien nicht dargestellt werden. Für den Lehrer oder die Lehrerin ist es deshalb enorm schwer, diese Dynamik zu verfolgen und beispielsweise herauszufinden, ob der eigene Vortrag wirklich „angekommen“ ist. Eine zentrale Aufgabe des Unterrichtsgesprächs, nämlich die „Ratifizierung“ des Wissens in den Reaktionen der Schülerinnen und Schüler (z.B. McHoul 1978), wird dadurch nahezu unmöglich gemacht.

Wenn die Schule aus datenschutzrechtlichen Gründen darüber hinaus angeordnet hat, dass Mikrofon und Kamera während des Online-Unterrichts ausgeschaltet werden müssen, blicken Lehrer oder Lehrerin nur noch in eine Runde von Avataren. Sie können nie wissen, wer sich hinter diesen Stellvertretern verbirgt oder ob sich nicht noch weitere Personen im Raum befinden, die den Unterricht unerkannt verfolgen. Es wird wahrscheinlich nicht lange dauern, ehe uns Meldungen darüber erreichen, dass Eltern oder ältere Geschwister anstelle der eigentlichen Adressaten den Unterricht verfolgt haben.

(4) Man kann den Online-Unterricht als Symbol des Fortschritts verteidigen oder als Untergang des Abendlandes verteufeln. Man kann aber auch die Frage stellen, warum ein staatlich organisiertes Schulsystem in der Vergangenheit überhaupt darauf bestanden hat, dass der Unterricht in einem vom Leben in den Familien getrennten Sondermilieu stattfinden soll, d.h. in speziell ausgestatteten Räumen und Gebäuden, im Takt bestimmter Zeitvorgaben sowie im Kontext einer besonderen Gesprächsverfassung, die von einer professionell ausgebildeten Lehrkraft eingerichtet und verantwortet wird.

Die Antwort auf diese Frage ergibt sich aus dem Umstand, dass moderne, demokratisch verfasste Gesellschaften die Erziehung der nachfolgenden Generation nicht einzelnen Teilgesellschaften wie Familien, Kirchen oder lokalen Autoritäten überlassen wollen. Der bürgerliche Staat lebt von der sozialen und intellektuellen Mobilität seiner Mitglieder und das umfasst vor allem auch die Möglichkeit, diejenigen Lebensverhältnisse zu überschreiten, in die jemand zufällig hineingeboren wurde.

Die Welt der Moderne ist sozusagen größer als die Familie, die Kirchengemeinde oder die lokale Stammesgesellschaft. Durch ein staatlich organisiertes Schulwesen werden die jungen Mitglieder dieser Gesellschaft systematisch und mit mehr oder weniger sanfter Gewalt dazu gezwungen, diese Begrenzungen zu überschreiten. Die Schule ist eine vom Staat verordnete „Entprovinzialisierung der Geister und der Sinne“ (Rumpf 2001). Sie nimmt den Kindern ein Stück weit die Rolle, die sie in den Familien eingenommen hatten und versetzt sie statt dessen in ihre Rolle als Staatsbürger (vgl. Lenhardt 1984).

(5) Auch wenn das mal gut und mal weniger gut gelingt: die Staatsschule gehört zum Gründungsakt der modernen Gesellschaft und sie ist zugleich eine ihrer tragenden Institutionen. Nicht Industrialisierung und technischer Fortschritt haben zur Gründung des modernen Staates geführt, sondern dieser Staat hat überhaupt erst den Rahmen für die Entwicklung einer nach technischen Gesichtspunkten orientierten Massengesellschaft zur Verfügung gestellt. Die Schule und die Professionalisierung des Unterrichtswesens hatten an beiden Entwicklungen entscheidenden Anteil.

Wie kommt es dann, dass diese Gesellschaft sich zu Beginn des neuen Jahres dazu entscheidet, auf eine solche historische Errungenschaft zu verzichten und den Unterricht wieder in den Kreis des Familienlebens zu verbannen? Handelt es sich dabei um ein Rollback in vormoderne Zeiten, in denen der Unterricht von Privatlehren und Hofmeistern erledigt wurde? Wird hier klammheimlich die Etablierung des Home-Schooling betrieben, das von staatlicher Seite bisher immer vehement abgelehnt oder untersagt wurde? Oder ist das alles lediglich ein Ausdruck von Hilflosigkeit und Überforderungen angesichts einer Katastrophe, vor der sich niemand mehr in Sicherheit glaubt?

Nichts von alledem. Was wir beobachten können, das ist eine Form von Entgrenzung, in der die zentralen Funktionen sowohl des Familien- als auch des Schulsystems außer Kraft gesetzt werden. Der Online-Unterricht macht beide Institutionen füreinander durchlässig und sorgt gleichzeitig dafür, dass das eigentümliche Profil dieser Institutionen verschwindet: die Schule dringt in das Familienleben ein und macht daraus einen Unterrichtsbetrieb; umgekehrt dringt das familiäre Umfeld in das Unterrichtsgeschehen ein und lässt den ursprünglichen Rahmen dieses Geschehens zunehmen unkenntlich werden.

(6) Diese Entdifferenzierung der Institutionen geht weit über das hinaus, was vor zwei Jahrzehnten einmal unter dem Stichwort einer „Entscholarisierung“ der Schule beschrieben wurde (Fölling-Albers 2000). Im Grunde läuft der Online-Unterricht in seiner aktuellen Form auf eine Auflösung und Vermischung beider Institutionen hinaus. Was früher getrennt voneinander in Gang gesetzt wurde, das wird zu einer einzigen, „hybriden“ Konstruktion zusammengezogen, die offenbar in wesentlichen Zügen durch die Logik des Computers und seiner „Avatare“ bestimmt wird.

Die Angleichung oder „Gleichschaltung“ von Institutionen ist uns eigentlich nur aus totalitären Gesellschaften bekannt. Wenn man bedenkt, in welchem Umfang das Zusammenleben einer Gesellschaft von der Ordnung abhängt, die in Schulen und Familien verwirklicht wird, lässt das für die Zukunft dieser Gesellschaft nichts Gutes ahnen. Je länger die Angst vor dem Virus grassiert, um so wahrscheinlicher ist wohl mit dem Übergang in eine Gesellschaft zu rechnen, in der das demokratische Modell einer „Gewaltenteilung“ zwischen den gesellschaftlichen Institutionen aufgegeben wird.

Andererseits zeigt aber gerade das Beispiel der Schule, wie sich dieser Übergang fast unmerklich und mit gerade unheimlicher Folgerichtigkeit vollzieht: Vor knapp einem Jahr wurden Familien und Schulen von einer Situation überwältigt, die sie an den Rand des Scheiterns und der Verzweiflung gebracht hat. Im Frühsommer folgte eine Phase der Konsolidierung, in der beide Institutionen jedoch auch schon damit begonnen haben, wesentliche Grundzüge ihrer früheren Systeme aufzugeben. In der Phase, die kurz vor den Weihnachtsferien eingeläutet wurde, geht es jetzt offenbar darum, beide Institutionen durch eine neue Form zu ersetzen, die es in der Geschichte von Schule und Erziehung so noch nicht gegeben hat.

Als Symbol dieser Entwicklung kann nach wie vor die Maske gelten. Sie hat dazu geführt, dass nicht nur die Menschen ihr individuelles Gesicht verbergen mussten, sondern sie ist auch ein Bild für das Verschwinden der alten Institutionen und ihrer Regeln: Nach den Sommerferien saßen sich Lehrer und Schüler noch mit verdeckten Gesichtern in realen Klassenräumen gegenüber. Nach den Weihnachtsferien sind die Klassenräume verschwunden, aber auch die Gesichter auf den Bildschirmen der Online-Medien. Übrig geblieben sind nur noch Avatare, die nach der Regie von Moodle oder Zoom miteinander in Beziehung treten.

 

Fölling-Albers, Maria (2000): Entscholarisierung von Schule und Scholarisierung von Freizeit? Überlegungen zu Formen der Entgrenzung von Schule und Kindheit. In: Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation, 20 (2000) 2, S. 118-131

Lenhardt, Gero (1984): Schule und bürokratische Rationalität. Frankfurt/Main: Suhrkamp.

McHoul, Alexander W. (1978): The organization of turns at formal talk in the classroom. In: Language in Society 7, S. 183-213.

Rumpf, Horst (2001): Schule zwischen Ernstfall und Zufall. Über lehrgangsförmige und nicht lehrgangsförmige Prozesse des Lernens und Verstehens. In: Beiträge zur Lehrerinnen- und Lehrerbildung 19 (2001) 2, S. 287-292.

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