Der Fuchsmajor

Der Fuchsmajor – Über das „Vakzinieren“ der Studenten

Von Michael Ley & Carl Vierboom

(1) Tübingen ist eine Stadt, deren Anziehungskraft zu großen Teilen vom Ansehen ihrer Universität lebt. Die Eberhard Karls Universität gehört zu den ältesten Universitäten in Europa. Die Liste bedeutender Persönlichkeiten, die als Gelehrte oder Studenten mit der Universität in Verbindung gebracht werden können, ist lang. Sie versammelt einige der wichtigsten und berühmtesten Persönlichkeiten in der Geschichte von Wissenschaft, Literatur, Kunst und Kultur. In jüngerer Zeit hat sie immerhin elf Nobelpreisträger hervorgebracht; der spätere Papst Benedikt hat hier gelehrt, aus dem Kreis der Absolventen sind zahlreiche Minister, Richter und einflussreiche Politiker hervorgegangen.

Seit 2012 gehört die Universität zu den wenigen ausgewählten Universitäten in Deutschland, die den Titel einer Exzellenz-Universitäten tragen dürfen. Auf dem Gebiet der Wissenschaften muss diese Bezeichnung eigentlich ein wenig irritieren, denn die Suche nach Wissen und Wahrheit hat mit der Verehrung der Exzellenzen eigentlich Schluss gemacht. Bis heute ist den Verantwortlichen dieser Widerspruch aber nicht aufgefallen. Für die deutschen Hochschulen bedeutet die Auszeichnung so etwas wie dem deutschen Fußball die Teilnahme an der Champions League. In beiden Fällen geht es um sehr viel Geld, aber auch darum, die Wettbewerber im eigenen Lande hinter sich zu lassen.

Weil Tübingen eine Stadt mit einer überschaubaren Einwohnerzahl und die Universität bei den Studierenden sehr begehrt ist, gehört fast jeder dritte Einwohner zur Gruppe der Studierenden. Die Studenten prägen das Stadtleben am Tage und vor allem in der Nacht. Sie werden umgekehrt aber auch durch die Stadt geprägt, durch die gemütlich der Neckar fließt, in der es noch eine verwinkelte Altstadt gibt und in der ein grüner Bürgermeister gelegentlich einen Prozess anstrengt, wenn ihm ein Student einmal nicht mit dem gehörigen Respekt begegnet. Der Eindruck mag täuschen, aber aus der Ferne erscheint Tübingen wie ein einziger großer Campus, in dem sich die Bewohner darauf verständigt haben, die Erzeugung von Vernunft und Wissenschaft zu ihrem einzigen Lebensinhalt zu machen.

(2) Wie alle Hochschulen ist auch die Tübinger Universität von Corona empfindlich getroffen worden. Für anderthalb Jahre musste der Lehrbetrieb zumindest in Form von Präsenzveranstaltungen eingestellt werden. Weil gleichzeitig auch die Restaurants, die Kneipen und die Musik-Clubs schließen mussten, weil der Umsatz der kleinen und mittleren Betriebe einbrach und weil die Mitarbeiter mit Teilzeitjobs als erste entlassen wurden, verloren auch die Studenten ihre Verdienstmöglichkeiten. Viele konnten die Mieten für ihre Studentenbuden nicht mehr bezahlen und sahen sich gezwungen, wieder bei den Eltern einzuziehen. Aus dem Aufstieg in die Champions League wurde der Abstieg in die Kreisklasse.

Seltsamerweise wurde über die damit verbundenen „Kollateralschäden“ kaum berichtet. Schulen und Familien waren immer wieder Thema auch in den sogenannten Mainstream-Medien. Man hat den volkswirtschaftliche Schaden berechnet, der in der Folge von Schulschließungen entstehen würde, auf die Belastungssituation in den Familien hingewiesen und davor gewarnt, dass den Kindern ihre Kindheit geraubt werden könnte. Die Situation an den Universitäten war dagegen so gut wie niemals Thema. Kein Wort darüber, dass Hörsäle und Seminare über Monate leer standen, dass Prüfungen und Examen nur noch online abgenommen werden konnten, dass Studienanfänger sich allein und ohne leibhaftige Unterstützung durch Dozenten oder Kommilitonen in der Welt des Studiums zurechtfinden mussten oder sich die Universitäten immer mehr in Geisterstädte verwandelten.

Seltsam auch, dass von Professoren und Dozenten kaum Einwände gegen die Schließung der Universitäten erhoben wurden. Bei den Schulen haben sich immerhin die Lehrerverbände zu Wort gemeldet, wenn ihnen die eine oder andere Regierungsmaßnahme gegen den Strich ging. Bis auf wenige Ausnahmen haben sich die Professoren an den Hochschulen dagegen zurückgezogen und geschwiegen. Allenfalls in privater Runde haben sie darüber gesprochen, dass mit den vielen Statistiken etwas nicht stimmen kann, dass eine Pandemie normalerweise andere Verläufe aufweist oder dass die politischen Entscheidungen in rechtlicher Hinsicht äußerst bedenklich sind. Wenn man sie aufforderte, diese Bedenken öffentlich zu äußern, haben sie meistens müde abgewunken.

(3) In einem aktuellen Newsletter hat sich der Rektor der Tübinger Universität immerhin erleichtert festgestellt, dass mit Beginn des Wintersemesters nun endlich wieder die Rückkehr zu Präsenzveranstaltungen möglich ist. Fast im gleichen Atemzug verweist er allerdings auch auf die Pflicht der Universitäten, den Impf- bzw. Teststatus der Studierenden zu kontrollieren. Ohne weitere Begründung macht er sich die offizielle Argumentation der Politik zu eigen, wonach nur durch regelmäßige und lückenlose Kontrollen eine erneute Schließung der Universität vermieden werden könne.

Ohne Übergang kommt er dann auf den in seinen Augen sehr erfreulichen Umstand zu sprechen, dass ein hoher Anteil der Studierenden inzwischen bereits vollständig geimpft ist. Der Rektor sieht darin einen wertvollen Beitrag für die eigenen Gesundheit, aber auch „einen Dienst an der Universität und der Gesellschaft insgesamt.“ Damit lässt er immerhin erkennen, dass er zwischen den Aufgaben der Hochschule und dem allgemeinen Interesse der Gesellschaft einen gewissen Zusammenhang erkennt. Warum er auf diesen Zusammenhang in den anderthalb Jahren, in denen die Hochschulen geschlossen waren, nicht verwiesen hat, führt er allerdings nicht weiter aus.

Statt dessen gibt er bekannt, das eine Entscheidung gegen die Impfung nach seiner Ansicht aus wissenschaftlicher Sicht nicht mehr rechtfertigt werden könne. Er zitiert das bekannte Argument von den überlasteten Intensivstationen und bezichtigt diejenigen, die sich angesichts der behaupteten Notlage immer noch nicht impfen lassen, als unsolidarisch und verantwortungslos. Gegen Ende des Newsletter fordert er sämtliche Mitarbeiter und Studierende der Universität „dringend“ dazu auf, sich unverzüglich impfen zu lassen.

Allerdings benutzt der Rektor bei der Formulierung dieser Aufforderung nicht das deutsche Wort für den Impfvorgang, sondern das Kunstwort „vakzinieren“. Wer nicht geimpft ist, so heißt es in der Brandrede des Rektors, an den ergeht die eindringliche Anweisung „sich endlich vakzinieren zu lassen“.

(4) Die meisten Menschen benutzen Fremdwörter, wenn sie nicht mehr weiter wissen, wenn ihnen etwas peinlich ist oder wenn sie eine Untat verbergen wollen. Die Medizin mit ihrer Kunstsprache und den vielen Lehnwörtern ist ein schönes Beispiel für diesen Sachverhalt. Die Mediziner sagen „Onkologie“ statt Krebsstation, sie sprechen von „Exitus“ anstatt vom Tod oder vom „Abortus“, wenn sie Fehlgeburt meinen. Die Medizin erzählt den Menschen, dass sie durch ihre Heilkunst gesund werden, aber dabei muss sie die Tatsache des Todes und die eigene Rolle, die sie in diesem Zusammenhang spielt, verschleiern.

Das Wort „Vakzinieren“ stammt aber wahrscheinlich nicht aus dem Bereich der Medizin. Die Medizin spricht von Vakzinen, aber sie bezeichnet den Vorgang der Einbringung dieser Vakzine normalerweise als Injektion. „Vakzinieren“ klingt eher wie ein Kunstwort aus dem Bereich der Hochschule oder aus der Studentensprache. Es erinnert an Begriffe wie „immatrikulieren“, „examinieren“, „promovieren“. Wir wollen der Wortwahl des Rektors nicht entnehmen , dass das Testen und Impfen in Zukunft die wissenschaftliche Examinierung der Studierenden ersetzen soll. Oder wird man in Tübingen demnächst in den Status der Exzellenz versetzt, indem man sich einer öffentlichen „Vakzinierung“ unterzieht? Das wäre allerdings eine Form von Initiation, die man eher aus den sogenannten Urvölkern kennt. Der Eingriff in den Körper als Ersatz für die Entwicklung einer wissenschaftlichen Haltung.

Körperliche Prüfungen als Ersatz für intellektuelle Anstrengungen findet man aber bereits an anderen Stellen des Hochschullebens, nämlich in den Bruderschaften der Studentenverbindungen. Auch die Burschenschaften haben eine eigene Kunstsprache entwickelt und das Wort „vakzinieren“ könnte sehr gut zu dieser Sprache passen. „Vakzinieren“, das ist derselbe Tonfall wie „kneipieren“, „sauphieren“ oder „chargieren“. Es ist eine Verballhornung der üblichen Bezeichnungen, die ziemlich direkt und plump daherkommt, die etwas von Anraunzen und Anrempeln an sich hat, die einbeziehen und vereinnahmen will, aber gleichzeitig wenig Spielraum für Einwände oder Nachdenklichkeiten lässt.

Der Begriff des „Vakzinierens“ passt zu der Rede eines Rektors, der seinen Leuten keine Chance lassen, sondern sofort klarmachen will, wo es langgehen soll. „Ich will dringend dazu auffordern, sich vakzinieren zu lassen“ – das klingt wie ein Einladung auf den Paukboden, auf dem den Kandidaten die Mensur verpasst werden soll. Es ist die Sprache von Studenten, die die das wissenschaftliche Denken im Grunde verabscheuen, weil es so viele Mühen und Schmerzen bereitet, weil man nie wissen kann, wo es einmal hinführt oder ob es überhaupt irgendwann einmal ein Ende haben wird. Es ist die Sprache der Leute, die sich lieber besaufen, als auch nur einmal im Leben eine klaren Gedanken zu fassen. Und es ist leider auch die Sprache der Männerbünde, die davon überzeugt sind, dass das geistige Niveau, das sie selbst erreicht haben, auch als Maßstab für alle anderen gelten soll.

(5) Für den Rektor einer deutschen Hochschule gibt es keinen Anlass, sich auf ein solches Niveau zu begeben. Von einem Hochschulrektor könnte man erwarten, dass er sich Sorgen um die Zukunft der eigenen Institution, vor allem aber auch um die der Studierenden macht. Eine Hochschule, die für mindestens anderthalb Jahre ihre Tore schließt, ist ein gesellschaftlicher Skandal erster Ordnung. Mit welchen Argumenten kann ein Erwachsener rechtfertigen, dass die jungen Leute, die zum ersten Mal einen Schritt ins Leben machen wollen, nach dem Abitur gleich wieder nach Hause geschickt werden? Wer kann allen Ernstes verlangen, wie dies die Bundesregierung in einem zynischen Werbe-Video getan hat, dass diese Menschen für sich und ihr Land am meisten leisten, indem sie einfach nichts tun? Durch Nichtstun soll der Aufstieg zu wissenschaftlicher Exzellenz gelingen? Soll das wirklich das neue Entwicklungsprogramm der deutschen Hochschulen werden?

Wie wir auf der Internetseite der Tübinger Universität erfahren können, ist der Rektor dieser Universität von Hause aus Literaturwissenschaftler. In seinen Forschungen hat er sich auch mit der Erzähltheorie befasst, in der die durchgängigen Strukturen fiktionaler Texte, darüber hinaus aber auch die Erzählmuster in sozialen, politischen oder Zusammenhängen herausgearbeitet werden. Wenn man schon nicht verlangen will, dass sich ein solcher Wissenschaftler auch das „Narrativ“ der Corona-Gesellschaft einmal etwas näher ansieht, dann könnte man doch immerhin erwarten, dass er die „Erzählungen“ seiner Studenten ernst nimmt, dass er nach ihren Erfahrungen während der Krise fragt und in diesem Zusammenhang auch ihre Entscheidung für oder gegen das Impfen angemessen einordnet.

Wahrscheinlich ist es aber so, dass der Rektor in den vergangenen anderthalb Jahren eher mit Seinesgleichen zu tun hatte als mit den Studierenden. Es scheint schon lange her zu sein, dass die Professoren sich dazu bekannt haben, die Universität als eine „Anwesenheitsinstitution“ (Stichweh 2015) zu begreifen. Wenn sie sich heutzutage überhaupt noch für die universitäre Lehre verantwortlich fühlen, dann scheinen sie eher dem Modell der Fern-Universität zu folgen und ihre Studenten virtuell auf Abstand zu halten. Das schützt sie davor, ihr mühsam erarbeitetes Wissen und ihre berufliche Reputation einer Überprüfung an den vorläufigen Entwürfen der Alltagswirklichkeit auszusetzen. Es verleiht ihnen den Nimbus der Exzellenz und verhüllt das Risiko, trotz unendlich vieler Auszeichnungen und Titel in intellektueller Nacktheit dazustehen.

(6) Tucholsky, den wir schon in anderem Zusammenhang zitiert haben, hat am Ende der 20er Jahre auch zur Situation an den deutschen Hochschulen und zur Rolle der Studentenverbindungen geschrieben. Seine Äußerungen nehmen auf geradezu visionäre Weise vorweg, was wenige Jahre später in Deutschland geschehen soll. Seine Kritik richtet sich nicht gegen die politischen Täter, die das Unheil anzetteln, sondern gegen diejenigen, die es geschehen lassen: gegen die Richter, die Beamten, die Lehrer und schließlich auch die Professoren, die so tun, als würden sie nicht bemerken, was sich vor ihren Augen zusammenbraut.

Wir wollen nicht behaupten, dass wir uns heute in derselben Situation befinden, in der sich Tucholsky vor fast hundert Jahren befunden hat. Tucholsky aber hat Recht, wenn er meint, das die Professoren in dieser Zeit vor allem feige waren. Der Professor einer deutschen Hochschule hat heute noch weniger zu befürchten als zur Zeit der Weimarer Republik. Als Inhaber eines Lehrstuhls ist er auf Lebenszeit versorgt und solange er nicht gegen das Gesetz verstößt, kann er auch in Zeiten der Wokeness-Bewegung noch alles sagen, was seiner wissenschaftlichen Überzeugung entspricht. Die Bezeichnung „Professor“ hat etwas mit dem lateinischen Wort „profiteri“ zu tun. Der Professor soll sich zu einer bestimmten Haltung „bekennen“, mit der man sich der Wirklichkeit annähern und sie verstehen kann. Nur durch eine entschiedene Haltung zur Wirklichkeit lässt sich aus dem allgemeinen Durcheinander des Alltags eine wissenschaftliche Wahrheit herausmodellieren.

An einem solchen Bekenntnis lassen es viele Herren und Frauen Professoren leider fehlen. Sie behaupten, sie würden an der endgültigen Verbesserung der Welt arbeiten, während sie in Wirklichkeit doch nur an ihre Pöstchen und Pensionen denken; sie schmücken sich mit der Auszeichnung von Exzellenz, während sie doch nur von den wissenschaftlichen Großtaten ihrer Vorgänger zehren; sie berufen sich auf wissenschaftliche Erkenntnis und verdecken damit, das sich dahinter nur geistige Leere verbirgt. Mit einem Wort: diese Professoren sind feige. Sie verraten die Aufgabe, die ihnen von der Gesellschaft übertragen wurde und die darin besteht, sich an der wissenschaftlichen Zukunft dieses Landes zu beteiligen. Ausgerechnet diejenigen, die lautstark von Verantwortung und Solidarität reden, sind die letzten, die bereit sind, sich zu ihrer beruflichen Aufgabe zu bekennen. Sie schreien lieber im Chor derjenigen, die fremde Meinungen unterdrücken, die Sündenböcke suchen und die das Land spalten. Je weniger sie noch zu sagen haben, um so lauter schreien sie.

 

Stichweh, Rudolf (2015). Die Universität als Anwesenheitsinstitution. Forschung und Lehre 22 (2), 85.

Tucholsky, Kurt (1928). Briefe an einen Fuchsmajor. Die Weltbühne, 31.01.1928, Nr. 5, S. 163. Wieder in: Gesammelte Werke in zehn Bänden (Band 6). Reinbek bei Hamburg (1975), S. 35-43. Link: http://www.zeno.org/nid/20005814480

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