Die Musterschule (1)

Die Musterschule (1) – Über Long-Covid in Institutionen

Von Michael Ley & Carl Vierboom

(1) Wer zur Schule gegangen ist, der hat auch den Musterschüler kennengelernt: den Typus des fleißigen Arbeiters, der stets bemüht war, das vorgeschriebene Soll in vorbildlicher Weise zu erfüllen. Der Mitschüler, der alles daran setzte, den Lehrern zu gefallen und in seiner gesamten Schullaufbahn an keiner Stelle durch Unbotmäßigkeit oder Renitenz aufgefallen ist. Der Einser-Kandidat, der sich Vorwürfe machte, wenn es in der Klassenarbeit einmal nur zu einer Eins Minus gereicht hatte und der sich in Verzweiflung stürzte, wenn der Lehrer ausnahmsweise einmal mit seinen Antworten nicht zufrieden war.

Der Musterschüler wollte alles perfekt machen. Er wollte immer Erster und er wollte ohne Fehler sein. Besonders intelligent oder schlau musste er nicht sein. Er musste sich nur an das halten, was man von ihm verlangte oder was in den Lehrbüchern stand. Der Musterschüler war darauf spezialisiert, ein vorgegebenes Muster nachzuvollziehen und zu erfüllen. Ein neues Muster konnte er weder erkennen noch erfinden. Schon kleinste Abweichung vom bekannten Schema konnten zu schweren Lebenskrisen führen.

Der Musterschüler war weder bei den Lehrern noch bei seinen Mitschülern besonders beliebt. Wenn er sich wieder mal als erster meldete, verdrehten seine Nachbarn verächtlich die Augen, weil sie genau wussten, dass seine Antwort den Erwartungen des Lehrers am nächsten kam und die eigenen Überlegungen dagegen keine Chance hatten. Der Lehrer fürchtete ihn, weil der Musterschüler sich an guten Tagen dazu verstieg, selber eine Frage zu stellen und den Lehrer damit ernsthaft in Verlegenheit bringen konnte.

In den Zeiten, in denen die Schule noch nicht auf die Linie politischer Correctness gebürstet war, wurde der Musterschüler gelegentlich diskret zur Seite und in den Schwitzkasten genommen. Das konnte vor allem dann passieren, wenn er wieder einmal einen seiner Mitschüler angeschwärzt oder sich über die Missachtung schulischer Vorgaben beklagt hatte. Nach solchen Vorfällen war der Musterschüler für einige Zeit sehr hilfsbereit und ließ seine Mitschüler sogar bei den Klassenarbeiten abschreiben. Manchmal entschuldigte er sich auch wort- und gestenreich dafür, dass er vom Lehrer wieder einmal die Bestnote bekommen hatte.

Die größte Strafe für den Musterschüler war aber die Verachtung, die ihm seine Mitschülerinnen entgegenbrachten. Das andere Geschlecht war dem Musterschüler nicht ganz geheuer. Weil er sich mit Zwischentönen und Nuancen nicht besonders gut auskannte, hielt er sich von sexuellen Themen lieber fern. Die Frauen spürten das und machten sich heimlich oder offen über ihn lustig. Der Musterschüler war im Grunde eine ziemlich einsame und traurige Figur.

(2) In NRW hat die Landesregierung vor Kurzem beschlossen, die Maskenpflicht in Schulen zu lockern. Nach Angaben der zuständigen Ministerin stehen die Schulen nicht mehr im Zentrum des Infektionsgeschehens. Die meisten Lehrkräfte, zunehmend aber auch die Schülerinnen und Schüler sind inzwischen geimpft, so dass die Aufhebung der Maskenpflicht nach Abwägung aller Risiken zu verantworten sei.

Das klingt zunächst so, als hätte das Ministerium das Ende der Epidemie bekanntgegeben und als werde sollte demnächst der „freedom day“ gefeiert werden. In Wirklichkeit ist die Angelegenheit aber etwas komplizierter. Was als Aufhebung der Maskenpflicht angekündigt wird, gilt nur für Situationen, in denen sich die Schüler an ihrem Sitzplatz befinden. Sobald sie sich erheben, durch das Klassenzimmer, in die Pause oder zur Toilette gehen, müssen sie die Maske wieder aufsetzen.

Ähnliche Regelungen kennen wir von Aufenthalten in Restaurants, Hotels oder anderen Innenräumen. Die Maske kann abgelegt werden, wenn wir uns vereinzeln und uns in unserer privaten Zelle bewegen, die manchmal auch beschönigend als „VIP-Lounge“ bezeichnet wird. Sobald wir das Dasein als „homo clausus“ aufgeben und uns auf unsere Mitmenschen zubewegen, sind wir dagegen angehalten, die Maske wieder aufzusetzen.

In der Schule wie im übrigen gesellschaftlichen Verkehr hat die Maske, jenseits ihrer behaupteten medizinischen Funktion, in erster Linie eine symbolische Bedeutung. Sie ist ein Zeichen dafür, dass wir die Regeln des Corona-Regimes anerkennen und uns diesen Regeln unterwerfen. Wenn die NRW-Regierung eine Aufhebung der Maskenpflicht ankündigt, diese aber nur auf den Sitzplatz beschränkt, läutet sie daher auch nicht das Ende der Corona-Maßnahmen ein. Im Grunde werden diese Maßnahmen sogar noch verschärft: Durch die neue Regelung werden die Schüler dazu aufgefordert, das Aufsetzen der Maske immer wieder zu erneuern. Das ständig wiederholte Anlegen der Maske unterstreicht deren Bedeutung noch stärker als eine kontinuierliche, während vieler Stunden des Tages erzwungene Maskierung.

(3) Vermutlich hat die Landesregierung die Bürger im Lande, aber auch ihre eigenen Schulen mit dieser raffinierten Variante der bisher geltenden Vorschriften ein wenig überfordert. Unmittelbar nach der Ankündigung der Ministerin äußern sich Bürgermeister, Verbandsvertreter, Schulleitungen, Eltern und Schüler jedenfalls entsetzt und fassungslos. Sie bezeichnen die amtliche Maßnahme als falsches Signal, das zur Unzeit komme, das die gerade wieder ansteigenden Infektionszahlen ignoriere und die Schulen, aber auch die Gesellschaft im ganzen einer unzumutbaren Gefahr aussetze.

Weil die Schulen andererseits Bestandteil der Kultusadministration sind und sich den Weisungen des Ministeriums nicht entziehen können, sind sie dazu verpflichtet, den Beschluss auch umzusetzen. Sie tun das, indem sie die Aufhebung der Maskenpflicht offiziell bestätigen, gleichzeitig aber auf die Möglichkeit hinweisen, die Maske im Interesse von Solidarität und Verantwortung „freiwillig“ weiterzutragen. Die meisten Schulen machen deutlich, dass sie das Bekenntnis zur Solidarität höher einschätzen als die Weisungen der Landesregierung. Für solche Fälle, in denen unter Schülern oder Eltern Unklarheit darüber besteht, was sie unter Solidarität oder Verantwortung zu verstehen haben, werden vertrauensvolle „Gespräche“ mit Lehrkräften oder Schulleitung angekündigt, in denen die Angelegenheit gerade gerückt werden soll.

Die Antwort der Schulen auf die Weisung des Ministeriums kann man in juristischer Hinsicht als einen Rechtsbruch auffassen. Wenn die Regierung eine Anordnung erlässt, dann sind die Schulen angewiesen, diese Regelung auch im ursprünglichen Sinne umzusetzen. Sie können sie nicht unterlaufen, indem sie die Regelung nur dem Anschein nach erfüllen, in Wirklichkeit aber eine gegenteilige Praxis durchsetzen. Entweder wird die Maskenpflicht am Sitzplatz aufgehoben oder die Schüler werden gezwungen, die Maske weiter zu tragen. Auch wenn man noch bei „Hellrot“ über die Ampel fährt, ist das bereits ein Verstoß gegen die Straßenverkehrsordnung.

Die Schulen scheinen sich im Verhältnis zum Ministerium aber auch nicht besonders intelligent oder klug zu verhalten. Ihrer Reaktion ist anzusehen, dass sie sich seit anderthalb Jahren in einem Muster bewegen, das ihnen Halt und Sicherheit gegeben hat und das ihnen wohl irgendwie auch ans Herz gewachsen sein muss. Wenn man den Vergleich mit dem Autofahren noch etwas strapazieren will, könnte man auch sagen: Sie befinden sich gerade in voller Fahrt und werden von einem Signal überrascht, auf das sie nicht so schnell reagieren können. Sie haben ein Problem damit, die Bremse zu finden.

(4) Die Auswirkungen der Corona-Politik haben die Schulen, die ihren gewohnten Betrieb von einem Tag auf den anderen völlig neu organisieren mussten, besonders schwer getroffen. Es gibt wohl kaum eine andere gesellschaftliche Institution, die so häufig, so kurzfristig und so nachhaltig mit wechselnden Regeln und Vorschriften konfrontiert wurde wie die Schule. Eine riesige Organisation mit elf Millionen Schülern und fast einer Million Lehrkräften befindet sich seit anderthalb Jahren in einem nicht enden wollenden Ausnahmezustand.

Die Schule hat die Anforderungen, die aus diesem Ausnahmezustand resultieren, bisher mit bewunderungswürdigem Einsatz, weitgehend ohne Klagen und Proteste und letztlich auch äußerst effizient erfüllt. Sie hat Hygienekonzepte entwickelt, Einbahnstraßensysteme angelegt und Abstandshalter aufgeklebt. Sie hat Tische gewischt und die Fenster nach der Uhr aufgerissen, um für ausreichenden Luftaustausch zu sorgen. Sie hat Konferenzen abgehalten, Arbeitsgruppen eingerichtet und bis in die tiefe Nacht hinein abgewartet, um letzte Anweisungen aus Ministerien und Behörden zu empfangen. Sie hat mit Skeptikern und Gegnern der Corona-Politik diskutiert, Abweichler und Kritiker überzeugt und die sogenannten vulnerablen Gruppen entlastet.

Man kann der Schule Vieles vorhalten, aber sicherlich nicht, das sie während der Corona-Krise untätig gewesen ist. Von außen betrachtet hat es fast den Anschein, als hätten die Schulen Corona wie eine Bewährungsprobe aufgefasst. So viel Tatkraft und Entschlossenheit war nie. Während die halbe Republik in Apathie und Müdigkeit versunken ist, hat die Schule zu ungeahnter Leistungsfähigkeit zurückgefunden. Die Schulen sind gewissermaßen zu Musterschülern der Nation geworden.

(5) Allerdings kann man auch den Eindruck gewinnen, das dieser Einsatz häufig an den falschen Stellen geleistet wurde. An den wirklich wichtigen Dingen ist die Schule leider ein wenig ins Hintertreffen geraten. Das bezieht sich wie beim Musterschüler vor allem auf die Dinge, die sich nicht so leicht planen lassen: auf alles, was mit Kontakt, Beziehung, Mitbewegung zu tun hat. Hier hat die Schule schon immer einen blinden Fleck gehabt, und diese Stelle ist unter Corona noch ein wenig größer geworden.

Corona war für die Schule nämlich auch ein Anlass, noch ein bisschen mehr auf Abstand zu ihren Schülern zu gehen. Sie musste dafür sorgen, dass sich die Schüler nicht zu nahe kommen, dass die Schüler den Lehrkräften nicht zu nahe kommen, dass die Eltern der Schule nicht zu nahe kommen. Die sozialen Gruppen, deren Austausch und Auseinandersetzung normalerweise den Kern der Organisation ausmacht, wurden voneinander getrennt. Zugleich wurden Grenzen und Barrieren eingerichtet, die ein Überwinden dieser Grenzen unmöglich machen sollten.

Dazu gehörten nicht nur die bekannten Abstands- und Hygieneregeln, sondern auch neuartige Maßnahmen wie der Distanzunterricht, bei dem der Unterricht nur noch am Bildschirm und via Internet zu erfolgen hatte. Die Schule, in der sich das junge und das alte Leben in der Vergangenheit oft bunt, für manchen auch zu bunt vermischen konnte, wurde zu einer Schule auf Distanz, die nur noch im Fern-Unterricht praktizierte. Für lange Monate führte sie sich auf wie der Musterschüler, der dem heimlichen Objekt seiner Leidenschaften nur aus der Ferne ein paar Blicke zuwerfen konnte.

(6) Bei allen Maßnahmen, die von der Schule in Gang gesetzt wurden, spielt die Maske eine zentrale Rolle. Nach offizieller Lesart soll die Maske die Weitergabe von Ausscheidungen verhindern, in denen das gefährliche Virus enthalten sein könnte. Die Maske verhindert aber auch den Austausch mit der Wirklichkeit, die uns umgibt und die uns am Leben erhält. Sie verhindert das freie Atmen, die freie und ungehinderte Rede, den unverstellten Blick. Die Maske wirkt wie ein Filter, der den Kontakt mit allem, was über das Eigene hinausgeht, einschränkt. Die Maske wirft uns zurück auf die eigene, körperliche Existenz. Sie sperrt uns ein in das Lebensmuster, das wir immer schon gekannt haben.

Die Maske ist ein Instrument, das alle Menschen tendenziell zu Musterschülern werden lässt. Unter der Maske verlieren sich die individuellen Unterschiede und die Gesichter der Menschen sehen aus, als wären sie alle nach einem einzigen Muster zurecht geschneidert. In der Schule hindert die Maske vor allem auch daran, individuelle Unterschiede über die Sprache zum Ausdruck zu bringen. Die Maske erschwert oder unterdrückt die mündliche Rede. Sie raubt den Schülern mit dem Mund das wichtigste Organ ihrer Ausdrucksmöglichkeit und macht sie im Wortsinne mundtot. Die Maske bringt die Schüler zum Verstummen. In deutschen Klassenzimmern ist es noch nie so still gewesen wie seit Einführung der Maskenpflicht.

Die Schule wäre eigentlich angehalten, besonders sensibel auf sämtliche Konsequenzen einzugehen, die sich aus der Maskenpflicht ergeben. Gerade in einem Alter, in dem Kinder und Jugendliche überhaupt erst beginnen, die Möglichkeiten des sprachlichen Ausdrucks zu entdecken, bereits vorhandene Möglichkeiten zu erweitern und sich mit den Anforderungen der Hochsprache auseinanderzusetzen, kommt der Schule eine enorme Verantwortung zu. Die Sprache ist ein zentrales Medium von Entwicklung und Kultivierung. Ihre Ausformung im Rahmen der schulischen Erziehung darf nicht allein durch politische oder medizinische Gesichtspunkte bestimmt werden.

Genau das versucht die Schule aber, wenn sie die Anordnung der Landesregierung unterläuft und die Schüler dazu zwingt, die Maske weiterhin an ihrem Platz zu tragen. Im Klassenzimmer ist der Sitzplatz kein Ruheplatz. Er ist auch nicht der Platz, an dem man sich wie in den Konzerten von Nena oder Helge Schneider eine musikalische Aufführung anhört. In der Schule ist der Sitzplatz der Arbeitsplatz der Schüler, auf dem sie die Fragen des Lehrers beantworten und in einem gut gemachten Unterricht auch eigene Fragen stellen können.

Wer den Schülern vorschreibt, an diesem Platz eine Maske zu tragen, der macht damit auch deutlich, dass er auf die Mitarbeit der Kinder und Jugendlichen nicht viel Wert legt. Er deutet sogar an, dass er überhaupt auf Entwicklung nicht viel Wert legt und die Kinder am liebsten sofort und ohne Umstände in das Muster rücken würde, das auch für die Erwachsenen gilt. Er deutet an, dass er den Schülern keine Entwicklungszeit gönnt, sondern sie von Anfang bis Ende ihrer Schulzeit als gehorsame Musterschüler behandeln würde.

(7) Vor fast genau einhundert Jahren hat sich K. Tucholsky bereits mit dem Musterschüler befasst. Tucholsky hatte die Aussage eines französischen Redners gehört, der die Deutschen insgesamt mit dem Typus des Musterschülers verglichen hatte. Nachdem Tucholsky diesen Typus in seinen wesentlichen Zügen skizziert hat, deutet er an, dass der Musterschüler nicht nur wünschenswerte Seiten besitzt. Hinter Tugenden wie Pflicht, Gehorsam oder Fleiß, die dem Musterschüler zugeschrieben werden, können sich nach seiner Ansicht noch ganz andere, wenig tugendhafte Eigenschaften verbergen: Eitelkeit, Grausamkeit, Überheblichkeit.

Mit Blick auf das Schicksal der Deutschen fährt Tucholsky fort: „Die Tugend des deutschen Primus ist ein Laster, sein Fleiß eine unangenehme Angewohnheit, seine Artigkeit Mangel an Phantasie. In der Aula ist er eine große Nummer, und auch vor dem Herrn Direktor. Draußen zählt das alles nicht gar so sehr. Deutschland, Deutschland, über alles kann man dir hinwegsehen – aber daß du wirklich nur der Primus in der Welt bist: das ist bitter.“

 

Tucholsky, Kurt (1925): Der Primus. In: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 4. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, S. 75-76.  URL: http://www.zeno.org/nid/20005810388

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