Danser encore: Über eine Traumszene des Alltags
(1) Im Netz machen die Videos einer französischen Musik- und Tanzgruppe die Runde; sie gehen „viral“, wie man so schön sagt. Die Videos zeigen Auftritte an öffentlichen Plätzen in Frankreich, bei denen getanzt und gesungen wird. Der Soundtrack zu den Aufführungen wird dabei von einem Song beherrscht, in dem es um den Wunsch nach Tanzen geht: Danser encore heißt der Hit, der von den Anhängern der Gruppe inzwischen als die „Hymne des Frühlings“ bezeichnet wird.
Das ist vielleicht eine Anspielung auf den arabischen Frühling, macht aber auf jeden Fall darauf aufmerksam, dass der Song eine politische Botschaft hat. Die Menschen wollen nicht einfach nur tanzen, sondern sie wenden sich auch gegen das Corona-Regime mit seinen Vorschriften und Gängeleien, die auch nach einem Jahr immer noch kleinlicher und biestiger werden. Der Tanz soll daran erinnern, dass das Leben zu kostbar ist, um es mit Kontrollen und Verboten einzumauern.
Der Chef der Tanzgruppe, der Künstler Kaddour Hadidi, wohnt in der Gascogne. Das ist die Gegend, aus der auch d’Artagnan herkommt, der Anführer der drei Musketiere aus dem Roman von Dumas. Hadidi und seine Truppe, die sich „Les Saltimbanks“ nennt, kämpfen allerdings nicht mit dem Degen, sondern mit Musik. Sie haben in den vergangenen Jahren mit Liedern gegen soziale Ungleichheit und Benachteiligung auf sich aufmerksam gemacht. Von ihren Anhängern werden sie manchmal auch als „les partisanes“, die Partisanen, bezeichnet.
(2) Das Video, mit dem die Franzosen inzwischen weltweit Furore machen, ist wirklich ein kleines Glück. Niemand, der sich die fünf Minuten ansieht, kann sich dem eingehenden Rhythmus der Musik und den Bewegungen der Tänzer entziehen. Für einen kurzen Moment werden selbst deutsche Corona-Beamte weich und vergessen ihre wichtigen Amtsgeschäfte. Alle anderen haben das Gefühl, als würde endlich die Sonne wieder aufgehen und als wäre doch noch nicht alles verloren.
Als Nicht-Franzose bekommt man vom Liedtext natürlich nur ein paar Bruchstücke mit. Das Lied hat einen eingängigen Refrain, wie man ihn aus Popsongs kennt und den jeder schon beim ersten Mal mitsingen kann: Non, non, non, das fängt schon mal gut an. Dazwischen ist aber auch von Eleganz, vom König und von den Vögeln die Rede, die immer weiterziehen und nicht dauernd irgendwo sitzenbleiben wollen. Den Psychologen interessiert vor allem die Zeile, in der HK davon spricht, dass man den Körper und die Seele nicht voneinander trennen sollte. Der Künstler hat offenbar erkannt, dass der große Irrtum des modernen Menschen schon bei Descartes anfängt.
Aber die Sache ist komplizierter. Die Szene, die sich da auf einem Bahnhof in Paris abspielt, ist nicht so richtig zu fassen. Man kann hören, dass da gesungen wird, aber man sieht nicht, wer da singt. Es ist auch schwer auszumachen, wer zu den „Saltimbanks“ gehört und wer von den Passanten bloß zufällig mitmacht. Auf der einen Seite scheint es eine einstudierte Choreographie zu geben, die sehr eindrucksvoll wirkt; auf der anderen Seite gibt es ein paar Tänzer, die die Schritte zur Musik erst lernen müssen – als wäre die Aufführung in Wirklichkeit eine öffentliche Tanzstunde, in der man nach langer Pause erst langsam wieder lernen muss, wie man sich im Takt der Musik bewegt.
Wenn man noch genauer hinsieht, dann sind es verschiedene Tanzformen, die da in Bewegung kommen. Es gibt Bewegungen, die sich wie bei einem Mäander ineinander verschlingen; es gibt Bewegungen, die nach vorne stoßen wie bei einem Angriff; es gibt einzelne Paare, die sich umeinander drehen; es gibt Formen, die an einen Volkstanz erinnern. Beim Zugucken überlegt man sich, wo man dazugehören will, an welcher Stelle man am besten einsteigen und mitmachen könnte. Es ist eine ganze Welt des Tanzes, die da vor unseren Augen entfaltet wird: ein Tanzfest, ein Ball – un bal.
(3) Der Rhythmus der Musk klingt so, als könnte er ewig weitergehen. Nous on veut danser encore, das kann man inzwischen schon mitsingen – und kriegt doch nicht genug davon. Viele Frauen, die das Video sehen und hören, fangen schon mal an zu tanzen, während sich die Männer auf den einschlägigen Streamingportalen umsehen, um herauszufinden, ob der Song dort schon registriert ist. Wer das Video sieht, schickt es häufig weiter, bevor er es noch zu Ende gesehen hat.
Der Auftritt der „Saltimbanks“ hat etwas Ansteckendes und das ist diesmal etwas, was man nicht auf Abstand halten, sondern mit anderen teilen will. Die Links, die man weitergibt, sind Einladungen zum Mittanzen und Mitmachen. Wenn man alle, die das Video „geliked“ oder „geshared“ haben, zusammenbringen würde, käme der größten Tanzball in der Geschichte der Menschheit zustande. Der Anblick wäre wahrscheinlich sehr viel erfreulicher als der Eindruck der grauen Gestalten, die sich in den Impfzentren versammeln.
Aber man fragt sich auch, wie lange das gut gehen kann. Man wundert sich darüber, dass noch keine Ordnungskräfte zu sehen sind oder die Polizei noch nicht eingegriffen hat. Immerhin spielt die Szene in einem der größten Bahnhöfe von Paris, einem Durchgangs- und Nicht-Ort, an dem die Menschen allenfalls warten und nicht verweilen, aneinander vorbei hasten, aber nicht miteinander in Kontakt kommen. Für einen Moment hat man den Eindruck, man würde mit offenen Augen träumen und das alles wäre seltsam „irreal“.
Dann wird die Musik auf einmal leiser, die gemeinsame Bewegungen der Tänzer löst sich auf, die Musiker packen einer nach dem anderen ihre Instrumente weg. Vielleicht ist die Gruppe davor gewarnt worden, dass die Polizei nun doch im Anmarsch ist und man nichts riskieren sollte. Ein Rest des Gesangs klingt noch aus, aber die Akteure verlassen die Bühne oder besser: die Bühne wird wieder zu der Bahnhofsszene, wie wir sie aus dem Alltag kennen. Die Sänger und Tänzer haben sich unter die Passanten gemischt und sind wieder zu Mitgliedern der großen Masse geworden.
Den Umstehenden kann man ansehen, dass sie verwundert und verblüfft zurückbleiben. Das Lied und die Bewegung des Tanzes hat sie verzaubert. Auf den Gesichtern ist zu lesen, dass sie von der Musik und der Sehnsucht nach einem anderen Leben, nach Nähe und Menschlichkeit berührt wurden. Genauso ist ihnen aber auch die Frage anzusehen, ob diese Sehnsucht auch bei anderen noch da ist und die Umstehenden dasselbe spüren wie sie selbst. Die Menschen blicken sich unsicher um und freuen sich, wenn sie ein Lächeln einfangen können. Dann wenden sie sich zum Gehen und verschwinden wie kurz zuvor die Musiker in der Menge.
(4) Danser encore, das ist nicht einfach ein Popsong, wie man ihn beim Kochen oder Bahnfahren hören kann. Was HK und seine „Saltimbanks“ da in den Bahnhof zaubern, ist ein Happening, der Anlauf zu einer Oper, das ist Kunst. In fünf Minuten haben die jungen Franzosen in einer zugemauerten Bahnhofswelt den Traum von Freiheit und Veränderung aufleben lassen. Sie haben gezeigt, dass dieser Traum noch lange nicht ausgeträumt ist und es diesen Traum geben wird, so lange die Menschheit existiert.
Der Tanz der „Saltimbanks“ ist aber auch ein Plädoyer für eine seelische Wirklichkeit, die nicht so geordnet ist wie die Fahrpläne über den Köpfen der Tanzenden und auch nicht so glatt und abweisend wie der Boden unter ihren Füßen. In der Welt, in der wir leben, sind Farben und Rhythmen, Musik und Worte, Eigenes und Fremdes immer gleichzeitig da. Die seelische Welt ist eine Welt, die nicht auf Abstand, sondern auf Mitbewegung angelegt ist.
An den Wiederholungen der Musik und an den gewundenen Bewegungen des Tanzes spüren wir, dass wir von dieser seelischen Welt tatsächlich gepackt und mitgenommen werden können. Wir spüren, dass die unterschiedlichen Stränge unseres Alltags viel kunstvoller miteinander verschlungen sind, als es uns Zahlen und Statistik weismachen wollen. Wir merken, dass wir in einer Verwandlungswelt leben, die viel eleganter, beweglicher und anpassungsfähiger ist als jede Politik, jede Belehrung, jede Sorge um Gesundheit.
Es ist vor allem eine Welt, die deutlich mehr Spaß macht als die Welt aus Vernunft und Technik. Die Tänze der Verwandlung bringen immer eine überraschende Seite der Wirklichkeit ans Licht, etwas, womit wir nicht gerechnet haben. Traditionell wird diese überraschende Seite im Tanz von Mann und Frau, dieser ewig unvollkommenen Wesen, dargestellt. Im Tanz verschlingen sich diese „un-ganzen“ Gestalten und bringen eine neue, ganz eigene Gestalt hervor. Wenn dieser Tanz gelingt, ist das für beide Seiten ein großes Glück.
(5) Unser psychologisches Gewissen zwingt uns allerdings zu der Bemerkung, dass der Verwandlungstanz des Alltags und die Versuche, diesen Tanz zu ordnen und berechenbar zu machen, in einer menschlichen Gesellschaft gleichberechtigt zum Zuge kommen müssen. Wir können weder den ganzen Tag tanzen noch können wir immer nur Regelwerke aufstellen. Der Übergang zwischen den beiden Figurationen macht das aus, was wir menschliche Kultur oder Gesellschaft nennen.
Offenbar hat sich unsere moderne Kultur aber seit einiger Zeit vorgenommen, nur noch auf das Bild von Kontrolle und Verfügbarkeit zu setzen. Die Politiker und Wissenschaftler, die uns regieren, können mit den kunstvollen Tänzen der „Saltimbanks“ nichts anfangen: zu unübersichtlich, zu viel Gemenge, zu viele Vermischungen von Männern und Frauen. Vögel, die weiterziehen: liegt darin nicht eigentlich schon ein Verstoß gegen die Verfassung?
Man könnte darüber lächeln und einfach weiterziehen wie die Vögel, wenn die Regierenden sich nicht in den Kopf gesetzt hätten, ihr Bild der Wirklichkeit total werden zu lassen. Weil sie selbst nichts von Musik und Kunst verstehen, wollen sie auch allen anderen das Tanzen verbieten. Ein kleines Virus ist für sie zum Anlass geworden, die Menschen zu Hause einzusperren und den „freien“ Künsten den Stecker zu ziehen.
An dieser Stelle hört der Spaß dann auch für den Psychologen auf. Wenn alles nur Ordnung werden soll, dann muss alles, was wie Unordnung aussieht, bekämpft und vernichtet werden. Die seelischen Wirkungs-Räume unseres Alltags werden in Nicht-Orte verwandelt, in denen jede Aussicht auf Entwicklung und Veränderung bereits im Keim erstickt wird. Das ist die Welt, in der wir gerade leben.
(6) Der Tanz der „Saltimbanks“ legt den Finger auf diese Wunde. Er zeigt, dass die Bollwerke und die Wachtürme einer hochgezüchteten Technikwelt nicht die ganze Wirklichkeit ausmachen und dass wir zum seelischen Überleben noch auf etwas anderes angewiesen sind. Die einfachen, beweglichen, vielleicht auch die weiblichen Methoden des Tanzes sind den einlinigen und zerstörerischen Instrumentierungen einer Männerwelt überlegen.
Leider ist das „Happening“ der Saltimbanks aber auch nur ein flüchtiges Ereignis. Wenn die Tänzer und die Musiker verschwunden sind, dann hören auch die Übergänge auf zu existieren, die aus der Bahnhofswelt eine menschliche Wirklichkeit machen würden. Diese Bahnhofswelt ist wieder fein säuberlich in einzelne Abteilungen, Kisten und Pakete eingeteilt und die Techniktürme sind wieder aufgerichtet worden. Die seelische Bewegung, die angelaufen war, ist in die Flucht geschlagen worden wie die Musiker, die in der Masse verschwunden sind.
Das Ende des Videos gehört deshalb dem Gefühl der Einsamkeit und der Trauer. Die „partisanes“ aus Frankreich haben das Zeug dazu, der Welt zu zeigen, wie es anders gehen könnte. Aber sie sind keine echten Partisanen und die Waffen der Kunst und der Musik sind ohnmächtig gegen die Gewalt des Staates und der Polizei. Die Tränen die Rührung, die manch einem beim Ansehen des Videos überkommen, sind auch die Tränen des Verlassen-Seins. Sie zeigen eine Welt, in der wir zwar physisch überleben dürfen, in der uns unsere seelischen Existenzmöglichkeiten aber zunehmend genommen werden.
Hier das Video vom Flashmob im Gare de L’Est: Danser encore
Und hier die deutsche Website mit Liedtext, Noten & Tanzschritten: https://danser-encore.de/