Kölner Karneval: Das Alien-Projekt
(1) Nehmen wir einmal an, es wären Außerirdische gewesen, die die Coronakrise erfunden und geplant hätten, beispielsweise auf einer Versammlung, die sie vielleicht event 007 genannt hätten und an der neben den Herrschern der wichtigsten bewohnten Planeten auch hochrangige Vertreter der einflussreichsten interplanetaren Wirtschafts- und Handelsorganisationen teilgenommen hätten. Dann hätten sich diese Außerirdischen an irgendeinem Punkt ihrer Planspiele mit Sicherheit auch mit dem Kölner Karneval befassen und überlegen müssen, wie sie den Rheinländern erklären könnten, dass ihnen in diesem Jahr leider nichts anderes übrig bleiben würde, als zu Hause zu bleiben und auf ihre regelmäßig wiederkehrenden Feierlichkeiten zu verzichten.
Die Außerirdischen hätten wahrscheinlich angenommen, dass es sich bei dieser Frage um ein sehr schwieriges und ernstzunehmendes Problem handeln würde und mit Sicherheit hätten sie für die Behandlung dieser Frage gleich mehrere Sitzungstage angesetzt. Der Kölner Karneval, das hatten ihnen einige Forscher, die sich als Psychologen ausgaben, auf der Grundlage empirischer Befunde zweifelsfrei beweisen können, war für die Rheinländer ein ungeheuer wichtiges und bedeutsames Ereignis. In sogenannten Tiefeninterviews, die mit den Probanden durchgeführt worden waren, hatten einige Kölner sogar behauptet, die Stadt wäre so etwas wie das Herz der ganzen Welt und der Karneval die Seele der Stadt. Der Karneval wäre so gesehen also vielleicht sogar die Seele der ganzen Welt und da die Erde der einzige Planet war, auf dem man noch an so etwas wie die Seele glaubte, war das natürlich ein ausgesprochen beunruhigender Zusammenhang.
Die Aliens waren jedenfalls darauf gefasst, dass sie sich in der Sache etwas überlegen mussten. Am Anfang hatten sie noch geglaubt, dass es vielleicht zu Unruhen und Protesten kommen würde, wenn man die Kneipen zumachen oder den Urlaub verbieten würde, aber die entsprechenden Anordnungen wurden ohne Murren akzeptiert. Auch beim Fußball hatten die Aliens größere Widerstände erwartet, denn immerhin hatten die Psychologen hier etwas von „Volkssport“ und „Massenvergnügen“ geredet, aber in diesem Punkt hatten sie sich auch schon wieder geirrt. Man brauchte das Vergnügen nur im TV zu übertragen und schon hatte sich die Masse in die privaten Wohnzimmer verflüchtigt.
Die Frage war nur, wie das beim Kölner Karneval funktionieren sollte. Vielleicht konnte man die Sitzungen der großen Karnevalsgesellschaften im Fernsehen übertragen, denn die wollten sich ohnehin nur die alten Leute ansehen. Aber der Straßenkarneval ohne Umzüge, ohne Verkleidungen und ohne Massenbesäufnis in den Kneipen? Kein gemeinsames Singen und Schunkeln an Weiberfastnacht, keine Bützchen an Rosenmontag und kein verbrannter Nubbel am Karnevalsdienstag? Kaum vorstellbar, dass die Kölner sich das gefallen lassen würden. Die Psychologen meinten, das wäre ungefähr so, als würde man von ihnen verlangen, dass sie ihre Seele verkaufen sollten. Wenn die Agenda 007 scheitern sollte, dann an dieser Stelle. Die Rheinländer, so beschlossen die Aliens, würde man von Anfang an scharf beobachten müssen.
(2) Natürlich kam dann alles ganz anders. Die alte Session war gerade vorbei, da wurde der erste Lockdown verkündet und die Kölner sonnten sich in dem Gefühl, dass sie dem Virus gerade mal eben von der Schippe gesprungen waren. In einem kleinen Dorf in der Nähe der Großstadt sollte es einige Infektionen gegeben haben, die sich später als Kern aller weiteren Infektionen in der Region herausstellen sollten. Obwohl sich die Kölner beim Feiern keinen Zwang angetan hatten und die Menschenansammlungen in Köln die Versammlungen in dem kleinen Dorf um mindestens das Hundertfache übertroffen hatten, waren sie von dem neuartigen Virus auf wunderbare Weise verschont geblieben. Jetzt nutzten die Kölner den Lockdown, um sich von den Anstrengungen der Karnevalstage zu erholen.
Im Frühsommer stellten einige Karnevalsgesellschaften zaghaft die Frage, was denn in der kommenden Session passieren sollte. Sie wollten Planungssicherheit, denn die Karnevalstage waren ein ziemlich teures Vergnügen, dessen Kosten zuletzt im einstelligen Milliardenbereich angesetzt wurden. Man blieb natürlich optimistisch, denn in Köln war ja immer schon alles gut gegangen, aber die Kölner gehörten andererseits auch nicht zu den Volksgruppen, die so einfach eine Wette auf eine unbestimmte Zukunft eingehen wollten.
Die Großveranstaltungen wurden als erste abgesagt. Das passierte ungefähr zur gleichen Zeit, als die Vertreter der größten Fußballclubs verkündeten, dass die Bundesligaspiele nur noch vor leeren Publikumsrängen ausgetragen werden sollten. Das Kölner Festkomitee war offenbar der Ansicht, dass der Karneval mindestens ebenso wichtig wäre wie der deutsche Fußball und sagte alle Umzüge an den Karnevalstagen ab. Für kurze Zeit wurde noch darüber diskutiert, ob man den Rosenmontagszug nicht vielleicht an einer bestimmten Stelle aufmarschieren lassen und die Besucher daran vorbeiziehen lassen könnte. Das war eine sogenannte Schnapsidee, die man in Köln, anders als in anderen Städten der Republik, allerdings unbedingt ernst nehmen musste und daher auch erst nach wochenlanger Diskussion wieder fallen lassen konnte.
Als nächstes wurden die Sitzungen und der Kneipenkarneval verboten. Die Kölner erinnerten sich auf einmal wieder an das kleine Dorf in der Nachbarschaft, von dem man behauptete, dass die schwere Seuche auf einer Karnevalssitzung ausgebrochen war. Vor allem die Mitglieder der großen Karnevalsgesellschaften bekamen es jetzt mit der Angst zu tun. Sie wussten natürlich, dass es auf den Sitzungen hoch her ging und wollten kein Risiko eingehen, sich beim Dauer-Schunkeln und Dauer-Bützen anzustecken. So sagten sie das aber nicht, sondern behaupteten, dass das alles nur zum Schutz der Alten und Kranken geschehe. Selbst die Veranstalter der Stunksitzung, die sich immer über den offiziellen Karneval lustig gemacht und für sich beansprucht hatten, ein Hort karnevalistischer Querdenker zu sein, knickten ein und sagten ihre Sitzungen ab. Im Angesicht von Corona wurden auch die größten Ketzer fromm.
Zu guter Letzt wurden auch die Karnevalslieder umgetextet. Die größten Hits der vergangenen Session galten auf einmal als politisch inkorrekt und es durfte weder von der Karawane die Rede sein, die immer weiterzieht noch von den Jungen, die die Mädchen küssen oder von dem Wiesenhain, an dem man einst zusammensaß. Stattdessen wurde das Glück beschworen, das darin bestehen sollte, zu Hause zu bleiben, die Verbreitung von Aerosolen zu verhindern und den alten Menschen Solidarität zu zollen. Innerhalb weniger Monate war aus dem Fest des Frohsinns und der Fasteleers eine Werbeveranstaltung für das deutsche Medizinsystem geworden.
(3) Als die Nachricht von der kampflosen Kapitulation des Kölner Karnevals die Aliens erreichte, hielten diese zuerst verblüfft den Atem an und brachen dann in schallendes Gelächter aus – was übrigens ziemlich unheimlich wirkt, denn das Gelächter der Außerirdischen ist eigentlich unhörbar und besteht lediglich aus einer ruckhaften Bewegung des Kopfes und einer hochgezogenen Augenbraue – ungefähr so, wie man das von Politikern oder Wirtschaftsbossen kennt, wenn sie gerade einen Coup gelandet haben, der ihnen jede Menge Geld einbringt, ohne dass sie selbst dafür bezahlen müssen.
Die Kölner und ihr Karneval, das hätten wir jetzt aber nicht gedacht, meinten die Außerirdischen. Dass die Rheinländer nicht ganz so sorgfältig und gewissenhaft agieren, wenn es um den Unterhalt von Straßen und Brücken, um die Pünktlichkeit des öffentlichen Nahverkehrs oder den Neubau von Großprojekten geht, also eigentlich um all die Dinge, die zu den Kernaufgaben von Städten und Gemeinden gehören, das haben wir ja schon gewusst und uns ernsthaft gefragt, wie lange das mit dieser Stadt eigentlich noch gutgehen würde.
Aber der Karneval? Hatten die Psychologen nicht behauptet, dieser Karneval wäre die Seele der Stadt und ihrer Bewohner? Also ungefähr das, was das Leben der Menschen zusammenhält und ihnen Hoffnung und Perspektive gibt? Und das, was die Kölner ihre Seele nennen, das haben die jetzt einfach so verkauft? Das verstehen wir nicht. Offenbar haben sich die Psychologen mal wieder gründlich verrechnet. Wir sollten überlegen, sie demnächst von der Liste unserer Berater zu streichen.
(4) Die Aliens, für die die Sache damit erledigt war, unterschätzten allerdings sowohl die Kölner als auch den Karneval. Hätten sie oder ihre Psychologen sich nämlich die Mühe gemacht, in eine Bibliothek zu gehen und bei Volkskundlern oder Soziologen nachzuschlagen, was es mit dem Karneval auf sich hat, dann hätten sie gewusst, dass die Angelegenheit doch etwas komplizierter liegt. Und vielleicht wären sie auch darauf vorbereitet gewesen, dass ausgerechnet mit dem Kölner Karneval das Ende der Pandemie und ihrer politischen Verwaltung heraufdämmen würde.
Die Rede von der Seele des Karnevals ist nämlich nicht nur so daher gesagt, sondern trifft einen wahren Kern. Der Karneval ist tatsächlich eine Veranstaltung des Seelischen. Das versteckt sich allerdings nicht im Gemüt der Menschen, im Herz der Kölner oder in den Motiven von Sitzungsbesuchern. Es zeigt sich vor allem in dem, was die Menschen tun: wenn sie sich selbst verkleiden, aber auch die Wohnungen, die Häuser und die Straßen schmücken, mit wildfremden Menschen singen und tanzen und die Stadt für einige Tage in einen Ausnahmezustand verwandeln.
Natürlich spielen in diesem Ausnahmezustand auch der Sex und der Alkohol eine große Rolle. Der Karneval ist nun einmal ein sinnliches und ein körperliches Vergnügen. Wir lassen uns mit allen Sinnen hineinziehen in den Rausch einer seelischen Verwandlung, in dem wir für einige Zeit das Gefühl haben, alles werden zu können. Wenn wir uns als Hexen und Teufel, als Cowboys und Indianer, als Piraten oder Kätzchen verkleiden, dann ist das nicht nur eine äußere Hülle. In den tollen Tagen gehen wir auf die Jagd nach wirklichen Verwandlungen. Wir wollen erfahren, was uns das Leben an Möglichkeiten entgegenbringt, aber auch, was es uns vielleicht für immer vorenthalten wird.
Das Bild, das diesen Verwandlungsrausch zusammenhält, ist der Tanz. An Karneval wird überall getanzt: in den Kneipen, auf den Sitzungen, am Rand der Umzüge und sogar vor den Fernsehgeräten. Der Tanz bestimmt die Chorographie, in der sich Frauen und Männer in den Kneipen näherkommen, in der die Musik- und Mottogruppen auf den Umzügen auf- und wieder abtreten oder die Alten und die Jungen bis in den Morgen hinein durch die Stadt ziehen. Der Kölner Karneval ist im Grunde ein großer Verwandlungs-Tanz, der sich ohne Unterlass fast eine ganze Woche lang durch die Stadt wälzt.
(5) Die Psychologen, die noch nicht zu den Aliens übergelaufen sind, gehen davon aus, dass der Tanz ein packendes und mitreißendes Bild für die seelische Wirklichkeit ist. Den Tanz hat es gegeben, seit es die Menschen gibt und es wird ihn geben, solange die Menschen auf der Erde leben. Im Tanzen erfahren die Menschen, dass ihr Leben einem Takt folgt, den sie nicht planen können und den sie nicht vollständig in der Hand haben. Der Tanz gelingt erst, wenn sie sich einem Rhythmus überlassen, den sie nicht selbst erfunden haben.
Der Tanz an Karneval ist auch ein Tanz, aber es ist ein besonderer Tanz. Seine historischen Wurzeln gründen in der Tradition der Totentänze, die sich ebenfalls von Beginn an in allen Völkern finden. Ihr Sinn besteht nicht, wie oft behauptet wird, in der Absicht, der Tatsache des Todes und des Sterbens Respekt zu zollen, sondern im Gegenteil darin, den Tod als eine Tatsache des Lebens anzuerkennen. Der Totentanz ist eigentlich ein Tanz des Lebens mit dem Tod: ein Reigen, der das Werden und das Vergehen des Lebens feiert und darauf aufmerksam macht, dass sich unser Leben nur im Übergang zwischen beiden Seiten abspielt.
Der Totentanz ist auch eine Erklärung dafür, warum es im Karneval meistens ziemlich frivol, derb und wenig kultiviert zugeht. Der Totentanz war ursprünglich ein Tanz, der auf den Gräbern der Ahnen stattfand und damit zum Ausdruck brachte, dass auch die Ordnung, die von den Vorfahren erlassen wurde, nicht ewig gelten würde. Der Tod macht eben auch vor Königen und Kaisern nicht Halt und selbst Weltreiche oder große Staatengebilde können untergehen. Totentanz und Karneval sind daher immer auch ein Protest gehen die bestehende Ordnung und das fromme Gerede von den Systemen, die angeblich „alternativlos“ sind.
(6) Am heutigen Mittwoch, einem Tag vor dem offiziellen Beginn des Kölner Karnevals, trifft sich die Kanzlerin erneut mit den Ministerpräsidenten der Länder, um über weitere Maßnahmen zur Bekämpfung einer unheimlichen Seuche zu beschließen. Die Veranstaltung wird genauso humorlos ablaufen wie die Versammlungen der Außerirdischen und am Ende wird die Kanzlerin verkünden, was im Grunde alle schon vorher wussten: Verbot sämtlicher Freuden- oder Totentänze sowie Verordnung einer Einheits-Maske, die nicht karnevalistischen, sondern ausschließlich medizinischen Gesichtspunkten zu entsprechen hat.
Die Kölner, die in der Vergangenheit nicht unbedingt als Anführer politisch motivierter Protestbewegungen aufgefallen sind, werden sich an die Anordnungen der Politiker halten. Wahrscheinlich werden sie es genauso machen, wie es ihnen die staatlich angestellten und bezahlten Psychologen vorgeschlagen haben, ihre Wohnungen mit ein wenig Konfetti und Luftschlangen schmücken, sich als Alte und Kranke verkleiden und vor dem Fernseher die vom Festkomitee des Kölner Karnevals empfohlenen und für politisch korrekt erklärten Karnevalshits anstimmen.
Vielleicht wird es aber irgendwo ein paar unbeugsame Kölner geben, die in Kellern, in Verschlägen oder unter Autobahnbrücken einen Tanz aufführen, auf dem sich die Anhänger der grünen, der roten und der blauen Parteien vermischen, sich Männer und Frauen in die Arme fallen und sehr lange küssen, Hexen, Piraten und Nonnen sich ausgiebig betrinken und alle gemeinsam die alten Lieder von der schönsten Stadt der Welt anstimmen werden. Und irgendwann werden sie dreimal Alaaf ausrufen, was so viel bedeutet wie: auf das Werden und Vergehen, auf das Leben und den Tod, auf die Kölner und den Karneval.