Aerosole

Aerosole: Aber sie atmen noch!

(1) Der Atem von Menschen und Tieren ist ein Lebenszeichen. Er steht für den Austausch mit der Wirklichkeit, die wir in uns aufnehmen und uns anverwandeln. Mit jedem Atemzug nehmen wir Anteil an dieser Wirklichkeit und geben ein Stück davon wieder zurück. Im Rhythmus von Einatmen und Ausatmen wiederholt sich ein Grundvorgang der Natur und entfaltet sich unser Leben.

Der Atem steht auch für unsere seelische Wirklichkeit. Das griechische Wort psyché bedeutet sowohl Seele als auch Atem, Hauch. Es steht für etwas ganz Leichtes, kaum Fassbares, aber zugleich für etwas, das alles Leben durchwirken kann. Wer nicht mehr atmet, der hat nach einer in vielen Kulturen verbreiteten Vorstellung sein Leben ausgehaucht. Ohne Lebensatem ist der Mensch nur noch eine körperliche Hülle, steif, unbeweglich, tot.

Mit dem Atmen beginnt auch das Sprechen, das Lachen, das Singen. Der Gesang von Rapunzel dringt als einziges aus dem Turm, in dem sie gefangen sitzt. Er lockt den Königssohn an, der sie schwängert und damit den Weg freimacht für ein neues Bild der Wirklichkeit.

(2) Seitdem wir den Atem mit den Methoden der Naturwissenschaft untersuchen können, wissen wir, dass darin auch schädliche Gifte und Keime enthalten sein können. Wir hören von Aerosolen, die mit jedem Atemzug ausgestoßen werden, die Träger von Viren und Bakterien sein sollen und sich über große Entfernungen hinweg verbreiten können.

Seitdem die Menschen die Aerosole entdeckt haben, hören sie aber auch viel weniger auf die Worte, die jemand spricht oder die Lieder, die jemand singt. Stattdessen zählen sie die Anzahl und den Ausstoß der Aerosole und überprüfen die Entfernung, die dabei überwunden werden kann. Der Hauch von psyché wird ausgetauscht gegen die Physik von Partikelemissionen.

In einem Experiment der Berliner Charité sieht man die Sopranistin A. Petersen, die in einen Schutzanzug gehüllt ist und in einen Schalltrichter hineinsingt (Brachmann 2020). Die Wissenschaftler haben allerdings kein Ohr für die Lieder von Mendelssohn-Bartholdy, die in dem Experiment gesungen werden. Sie schmelzen auch nicht dahin wie der Prinz, wenn er den Gesang von Rapunzel vernimmt. Sie interessieren sich allein für Schalldruckpegel, Dezibel-Zahlen und den Partikel-Ausstoß, der pro Sekunde dem Mund der Sopranistin entströmt (Mürbe et al. 2020).

(3) Vergleichbare Studien wurden inzwischen auch an den Unis München und Freiburg durchgeführt. Sie haben ergeben, dass Konzerte mit vierzig bis fünfzig Sängern und mehreren hundert Besuchern bei geeigneter Belüftung ohne größere Ansteckungsgefahr gut durchführbar wären. Selbst im Nahraum der Sänger fliegen Aerosole beim Singen und Musizieren im Durchschnitt nur einen Meter weit (Spahn & Richter 2020).

Dabei hätte man es eigentlich bewenden lassen können. Allerdings haben die Regierenden zu den Befunden der Wissenschaftler eine andere Meinung. Seit Beginn der Krise sind sie gegenüber Massenversammlungen sehr misstrauisch geworden. Was wäre, wenn sich die Menschen mit ihren Reden und Gesängen gegenseitig beeinflussen würden? Sagt man nicht, das Lachen wäre „ansteckend“ und die Menschen würden von einer Oper oder einem Rockkonzert regelrecht „mitgerissen“?

Obwohl schon für eine einzige Studie zur Aerosol-Emission Kosten im sechsstelligen Bereich veranschlagt werden müssen (LMU München 2020), haben die Politiker die Ergebnisse der Studien ignoriert und sich gegen den Gesang im öffentlichen Raum ausgesprochen. In Deutschland sind ab sofort Konzert- und Musiksäle geschlossen, der Besuch von Musikschulen ist eingestellt und sämtliche Konzert- und Chor-Events sind auch weiterhin untersagt.

Zur Begründung heißt es in der Vorlage zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes: „Insbesondere steigt die Aerosolausscheidung bei lautem Sprechen, Singen oder Lachen stark an. In Innenräumen steigt hierdurch das Risiko einer Übertragung deutlich, auch über einen größeren Abstand als 1,5 m“ (Deutscher Bundestag 2020: S. 28).

(4) Auch in der Schule ist das Singen schon seit längerer Zeit verboten. Der Musikunterricht findet ohne Musikinstrumente statt, die Kinder singen in diesem Jahr keine Martinslieder und vielleicht kommt auch das „Stille Nacht“ in den Kirchen demnächst nur noch vom Band.

In den Grundschulen wollen manche Lehrer allerdings nicht darauf verzichten, den Kindern zum Geburtstag zu gratulieren. Der Geburtstag ist für die Kinder in einem ansonsten komplett durchgeplanten Betrieb vielleicht die einzige Erinnerung daran, dass die Schule doch eigentlich für die Menschen gemacht ist – und wenn es nur die drei Minuten sind, in denen die Klasse das Geburtstagslied anstimmt. Wie schön, dass du geboren bist; viel Glück zum Geburtstag; hoch sollst du leben.

Weil man aber nicht singen darf, beschränken sich die Lehrer darauf, mit den Händen den Takt der Geburtstagslieder zu schlagen. Die Lehrerin gibt den Rhythmus vor, bewegt die Lippen zu den Worten des Liedtextes und die Kinder schlagen dazu den Rhythmus mit den Händen. Wenn dem einen oder anderen Kind trotz aller Vorsicht ein Laut entweicht, hält es sich erschrocken die Hand vor den Mund – und vor die Maske, die den Mund bedeckt.

(5) Ein Gesang, der nicht klingen und nach außen dringen darf, ist eine seltsame, absurde Pantomime. Als wäre hier das Gegenstück zu Odysseus zu besichtigen, der sich die Ohren mit Wachs zustopft, um der Verführung der Sirenen nicht zu erliegen. Hier: Die Sirenen, die schon von sich aus auf jede Art der Verführung verzichten und nur noch einen erstickten Gesang von sich geben.

Die Szene enthält aber auch ein schreckliches Bild: Das Stammeln von Menschen, die durch ein böses Geschick mit Stummheit geschlagen werden, die erstickt nach Worten ringen und nur noch unhörbare Laute hervorbringen. So etwas ist beschrieben in der Geschichte von Pinocchio, der in einen Esel verwandelt wird und seine menschliche Stimme verliert. Etwas Ähnliches findet sich in Hauffs Erzählung vom Kalif Storch, in der die Hauptfiguren nicht mehr mit anderen Menschen sprechen können, weil sie das Wort vergessen haben, das sie vom Verwandlungs-Bann befreien könnte.

(6) In der Schule werden die Kinder durch die Lehrerfrage gezwungen, in bestimmter Weise zu antworten. Durch Ab-Fragen und Ab-Prüfungen werden sie dazu gebracht, ein bereits vorbereitetes und von Prüfungskommissionen anerkanntes Wissen zu bestätigen (Kalthoff 1995). Der Unterricht ist schon immer eine Methode gewesen, selbständiges Fragen zu verhindern und die Kinder in verschiedener Hinsicht auch „stumm“ zu machen.

Trotzdem haben die Lehrer auch mit dem eingeschränkten Arrangement des Unterrichtens noch ihre liebe Not: die Schüler antworten falsch, schief, verkehrt und kommen mit anderen Ideen, als sie der Lehrplan vorsieht. Was aus dem Mund der Kinder kommt, das kann den Unterricht manchmal ziemlich weit vom Wege abbringen.

Der Lebensatem und der Stunden-Plan der Schule passen nicht besonders gut zusammen. „Sehr gut „, sagt der Großfürst, nachdem er die Soldaten eine Stunde lang hat exerzieren lassen. „Sehr gut, aber sie atmen!“ (Foucault 1975: 243).

 

Brachmann, Jan (2020): Pauschale Singverbote sind übertrieben. In: FAZ vom 10.07.20 (Online-Ausgabe). Verfügbar unter: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buehne-und-konzert/aerosolstudie-widerlegt-sinn-von-totalen-singverboten-16853505.html

Deutscher Bundestag (2020): Drucksache 19/23944. Entwurf eines Dritten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite. Verfügbar unter: https://dserver.bundestag.de/btd/19/239/1923944.pdf

Foucault, Michel (1975). Überwachen und Strafen. (Deutsche Ausgabe). Frankfurt Main (1977): Suhrkamp.

Kalthoff, Herbert (1995). Die Erzeugung von Wissen. Zur Fabrikation von Antworten im Schulunterricht. Zeitschrift für Pädagogik 41, 6, S. 925-939.

LMU München (2020): 120.000 Euro für Studie zur Aerosolverbreitung durch Gesang und Blasinstrumente. Verfügbar unter. https://www.med.uni-muenchen.de/aktuell/aerosolverbreitung/index.html

Mürbe, Dirk et al. (2020): Erhöhung der Aerosolbildung beim professionellen Singen. Berlin: Charité u.a. verfügbar unter: https://audiologie-phoniatrie.charite.de/fileadmin/user_upload/microsites/m_cc16/audiologie/Allgemein/muerbe_etal_2020_aerosole-singen_v2.pdf

Spahn, Claudia; Richter, Bernhard (2020: Risikoeinschätzung einer Coronavirus-Infektion im Bereich Musik. https://www.bamberger-symphoniker.de/fileadmin/RisikoeinschaetzungCoronaMusikSpahnRichterUpdate6.5.2020.pdf

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