Schweinereien aus der Downing Street

Schweinereien aus der Downing Street – Über die Lockdown Files

Von Michel Ley & Carl Vierboom

(1) Für einige Aufmerksamkeit hat in den letzten Tagen die Veröffentlichung der sogenannten Lockdown Files gesorgt. Mehr als 100.000 WhatsApp-Nachrichten, die hochrangige Mitglieder der britischen Regierung mit Experten und Beratern während der Corona-Krise ausgetauscht hatten, sind von einer Journalistin an den „Telegraph“ lanciert worden und werden nun in handlichen Päckchen auf dem Online-Portal der britischen Tageszeitung veröffentlicht.

Ein fleißiger Reporter hat inzwischen herausgefunden, dass die Nachrichten mehr als 2,3 Millionen geschriebene Wörter enthalten. Das ist angeblich viermal so viel wie in Tolstois „Krieg und Frieden“ zu finden ist, allerdings sprachlich keineswegs so anspruchsvoll durchgeformt wie im russischen Original. Wie bei Twitter, TikTok oder WhatsApp üblich, ist das meiste einfach hingerotzt. Die Lockdown Files bestehen aus einer endlosen Aneinanderreihung von Wörtern oder Satzfetzen, Redewendungen, die das Rechtschreibprogramm vorschlägt, Abkürzungen aus dem Satzbaukasten der Computer- und der IT-Sprache.

Einigermaßen genießbar wird das Ganze eigentlich erst durch die Aufbereitung des „Telegraph“, der aus dem Dauer-Geplapper der Politiker jeweils skandalträchtige Themen heraushebt. Von den Entscheidungen über Schulschließungen oder Lockdowns ist hier die Rede, von Überlegungen zum Testen und zur Quarantäne, aber auch von den heimlichen Besuchen des Gesundheitsministers bei seiner Geliebten, von denen die Paparazzi Wind bekommen hatten und die ihn schließlich sein Amt gekostet haben.

(2) Interessant sind die Lockdown Files vor allem deshalb, weil darin das amtliche Handeln der britischen Regierung dokumentiert wird. Die Aufzeichnungen geben Einblick in Motive und Hintergründe dieses Handelns und machen deutlich, dass viele Entscheidungen aus der Situation heraus erfolgten: ohne sich lange mit wissenschaftlichen Begründungen oder juristischen Absicherungen aufzuhalten, ohne die berechtigten Interessen der Bevölkerung zur Kenntnis zu nehmen, ohne sich um Konsequenzen oder Folgen der einzelnen Entscheidungen zu bekümmern.

Vor allem für die Kritiker der Maßnahmen sind die „pandemic diaries“ daher auch ein Beleg dafür, dass die Maßnahmen zur Eingrenzung der Pandemie über weite Strecken von persönlichen oder opportunistischen Motiven bestimmt waren. Warnungen von Experten wurden ebenso in den Wind geschlagen wie eigene Bedenken, etwa bei der Anordnung der Maskenpflicht in Schulen. Hier war dem britischen Premierminister durchaus klar, dass die Wirkung solcher Maßnahmen gegen Null tendierte. Weil in Schottland aber bereits eine Entscheidung für das Maskentragen in Schulen gefallen war und der Premier einen Konflikt mit Nicola Sturgeon, der Ersten Ministerin Schottlands, vermeiden wollte, wurde eben auch für England eine Maskenpflicht beschlossen.

Irritierend sind auch die Arroganz und Überheblichkeit, mit der ranghohe Mitglieder der Regierung die Maßnahmen kommentieren. Unter den Mitgliedern der WhatsApp-Gruppe scheint es so etwas wie einen Überbietungs-Wettbewerb um die Anzahl der Fluggäste gegeben zu haben, die in billigen Hotelzimmern zur Quarantäne eingesperrt werden mussten. Es gab Witze über die Gesichter derjenigen, die aus einem First-Class-Hotel angereist waren und nun mit einem Zimmer in der Größe eines Schuhkartons vorlieb nehmen mussten. Und es wurde ein Triumphgeheul angestimmt, als bekannt wurde, dass ein Richter wegen Verstößen gegen die Schutzmaßnahmen eine Strafe in Höhe von 25.000 Pfund verhängt hatte.

(3) Die Neue Zürcher ist der Meinung, dass die Nachrichtenverläufe den Alltag von Politikern zeigen, die sich an der eigenen Macht berauschen. Da ist insofern etwas dran, als man auf der Grundlage der Files tatsächlich den Eindruck gewinnen kann, dass sich die Ausübung der Regierungsgewalt im Fall der Pandemiebekämpfung immer mehr verselbständigte. Für die Eindämmung des Virus konnte die Regierung das Leben der Menschen bis in alle Einzelheiten beherrschen und kontrollieren. Sie konnte über Öffnung und Schließung von Schulen oder Pubs befinden; sie konnte Weihnachtsfeste streichen oder stattfinden lassen; sie konnte festlegen, wo eine Fernreise beendet ist oder wann sie weitergehen darf. Die Macht der Regierung war tendenziell allgegenwärtig, lückenlos und ungebrochen.

Nicht nur in England hat das dazu geführt, dass sich Krisenstäbe, Ministerkonferenzen und andere Gremien bildeten, die an der traditionellen Gewaltenteilung vorbei Entscheidungen treffen konnten, die für die Existenz der Menschen erhebliche Bedeutung hatten. Für eine Handvoll Minister, Staatsbeamter und wissenschaftlicher Experten wurde die Krise zum Anlass, sich selbst an die Stelle des Staates und seiner Apparate zu setzen. Während Corona sind wir Zeugen der Inthronisierung einer Polit-Clique geworden, die unter sich auszumachen versuchte, was der Staat ist und wie er regiert werden soll.

Von daher kann man wirklich von einem Macht-Rausch sprechen, der uns in den Lockdown-Files vorgeführt wird: eine Utopie der Macht, die von der Möglichkeit einer politischen Ordnung lebt, die bis in den kleinsten Winkel der menschlichen Existenz eindringt. Corona war der Traum des vollkommen regierten Staates und der Gesellschaft: der Traum von einem in sich geschlossenem Machtsystem, das durch keine anderen Mächte relativiert wird und keine Bewegungen oder Verhaltensweisen kennt, die über die Grenzen des eigenen Systems hinausgehen.

(4) Allerdings hat dieser Traum auch noch eine andere Seite. Diese wird spürbar, wenn man sich klarmacht, dass die Entscheidungen der britischen Regierung in einer riesigen Blase aus WhatsApp-Nachrichten vorbereitet und getroffen wurden. WhatsApp wurde sozusagen zum Medium des Regierens und zum Instrument des politischen Handelns: nicht die durch Verfassung und Gesetz vorgeschriebenen Prozeduren und Verfahren; nicht die Ausschüsse und Gremien, die zwischen den verschiedenen Bereichen der politischen Gewalt vermitteln; vor allem auch nicht das Parlament, in dem sich nach der Gründungsidee demokratischer Gesellschaften der politische Wille des Volkes zum Ausdruck bringen soll.

Statt dessen wurden diese Vorgänge ersetzt durch Tausende und Abertausende von WhatsApp-Nachrichten: als wäre die Regierung eines Volkes auf ähnliche Weise zu bewältigen wie die Organisation einer studentischen Chatgruppe. Die Regierungsmacht hat sich sozusagen von seinen formalen, demokratischen Verfahren entkoppelt und sich auf eine Plattform begeben, auf der entscheidende Dinge nur noch nebenher, mit einer Bewegung der linken Hand, von Daumen und Zeigefinger erledigt werden. Die Akte des Regierens haben sich vollzogen im Modus des Beiläufigen, des schnell Hingeschriebenen, des achtlos Hingeworfenen und nachlässig Abgesetzten.

Diese Beiläufigkeit des Regierens, das Regieren „on the fly“, ist vielleicht die wichtigste Erkenntnis, die man aus den „pandemic diaries“ gewinnen kann, denn sie beweist, in welchem Ausmaß die Geschäfte des Regierens inzwischen korrumpiert worden sind. Wenn man seine Regierungsämter nur noch im Vorbeigehen erledigt, dann stellt sich unweigerlich die Frage, wie man an politischen Aufgaben und Problemen wirklich arbeiten kann, wie man Widersprüche oder Problemstellen angemessen zur Kenntnis nehmen oder Lösungsansätze sorgfältig abwägen und diskutieren soll.

„On the fly“ heißt eigentlich: Man ist immer schon über die jeweils verhandelte Sache hinaus. Man sitzt in einem Meeting, in einer Vorlesung oder im Parlament, aber ist eigentlich schon mit anderem befasst. Man schwebt über den Dingen, die hier und jetzt verhandelt werden; man entzieht sich möglichen Konflikten und Auseinandersetzungen; man signalisiert eine Überlegenheit, die sich von der Wirklichkeit und den damit verbundene Konsequenzen nicht beeindrucken lässt. Man macht sich sozusagen seine eigene Wirklichkeit zurecht: die Wirklichkeit der Twitter- oder WhatsApp-Blase, die jederzeit als Ausstiegsoption zur Verfügung steht, wenn es im wirklichen Leben wieder einmal brenzlig werden sollte.

(5) In der postmodernen Gesellschaft mit ihrer panischen Suche nach immer neuen Möglichkeiten und Perspektiven scheint eine solche Ausstiegsoption geradezu überlebenswichtig zu sein (Groß 1994). Im Fall der britischen Regierungsmitglieder kann man aber auch beobachten, wie sich in der WhatsApp-Gruppe, zu der sich Politiker und Experten zusammengeschlossen hatten, eine eigene Dynamik entwickeln konnte, die sich mehr und mehr verselbständigte. Es war die Dynamik eines Computerspiels, bei dem die Politiker die Rolle der Krisen-Manager übernahmen und darum wetteiferten, wer von ihnen die besten Ergebnisse bei der Krisenbewältigung erzielen konnte.

Im Rahmen eines solchen Corona-Spiels war im Grunde alles möglich. Die Superreichen mussten in den Schuhkarton, die armen Leute fanden sich auf einmal Erster Klasse wieder. Die Richter durften phantastische Strafen verhängen und wer dagegen protestierte, wurde zum Aussätzigen erklärt. Die Presse wurde zum heimlichen Regierungsmitglied, wenn es darum gehen sollte, die Testzahlen nach oben zu treiben, aber andererseits auch zum gefährlichen Gegner, wenn man selbst beim Übertreten der Schutzmaßnahmen erwischt wurde. Wissenschaftler und Experten, die neue Zahlen oder Statistiken vorlegten, lieferten lediglich Ereignisse, mit denen das Spiel in Gang gehalten werden konnte. Sie waren nicht dazu da, die Wirklichkeit abzubilden, wie sie nun einmal ist.

All das, was für die normalen Menschen bitterer Ernst war, das war für die Politiker, die sich auf WhatsApp trafen, lediglich eine Serie von Prüfungen, die sie bestehen mussten, damit sie einen Schritt vorrücken konnten. Du hast einen Lockdown angeordnet und die Inzidenz um hundert Punkte nach unten getrieben: Rücke zwei Felder vor. Du hast die falsche Test-Strategie verwendet und zu viele Tote in den Altenheimen provoziert: Setze zwei Runden aus. Du bist mit deiner Freundin auf der Parkbank erwischt worden: Gehe in eine Pressekonferenz und erkläre der Öffentlichkeit deinen Fehler.

Für die englischen Politiker war Corona eine tolle Show, ein Fernsehspiel, ein Politmärchen: mit vielen Talk-Shows, mit ein paar kleinen Skandalen, mit harmlosen Gegnern, die man als Schwurbler und Querdenker vorführen konnte, mit echten oder falschen Toten, die je nach Bedarf der einen oder anderen Seite zugerechnet werden konnten. Entscheidend war nicht so sehr das Ende der Pandemie, sondern die Frage, wie sich die Politiker selbst inszenieren und aus der Affäre ziehen konnten: als überlegene Taktiker, als gefühlvolle Helfer, als harte Hunde, für die es keine roten Linien geben sollte.

(6) Die Spiel-Logik, in der sich die britischen Politiker bewegen, erinnert an die Jugendlichen, die nächtelang vor dem Computer sitzen und nicht genug davon bekommen, auf virtuelle Gegner zu schießen, Städte und Länder zu zerstören und dabei vor allem den eigenen Spielstand zu verbessern. So wie die Jugendlichen mit ihrem Dauer-Spiel allmählich den Kontakt mit der Wirklichkeit verlieren, die Ausbildung oder das Studium vernachlässigen, sich von Freunden oder Bekannten zurückziehen, so scheinen auch die Politiker in eine Welt zu fliehen, die sie zwar perfekt beherrschen und kontrollieren können, die aber nicht mehr mit dem Leben zu tun hat, das für andere Menschen bedeutsam ist. Sie haben sich unberührbar und unangreifbar gemacht, dabei aber auch die Möglichkeit verspielt, anders zu werden oder Neues zu probieren.

Bei den Teenagern kann man sehen, dass die Computerspiele oft ein kaum verhüllter Ersatz für sexuelle Erfahrungen oder Handlungen darstellen. Im Spiel kann man nicht nur den Helden markieren, der von allen bewundert wird, Eroberungen in jeder nur denkbaren Form realisieren, Ehre, Macht und die Liebe der Frauen gewinnen (vgl. Freud 1917: 391). Das Computerspiel hat vielmehr auch selbst Qualitäten einer sexuellen Handlung: über glatte Oberflächen streichen, sich mit erregenden Bildern vollsaugen, einfache Handlungen endlos wiederholen. Die Computerspieler finden Befriedigung, weil sie es vor dem Bildschirm mit sich selbst treiben.

Von den englischen Politikern wissen wir, dass sie schon sehr früh für höhere Aufgaben in Staat und Gesellschaft bestimmt und deshalb dazu veranlasst werden, ihre Jugendzeit auf angesehenen Elite-Internaten zu verbringen. Weder das englische Cliquen- oder Kastenwesen noch die damit verbundene Arroganz gegenüber dem gemeinen Volk dürfte ihnen so ganz fremd geblieben sein. Vielleicht ist es aber auch so, dass sie ihre politischen Ämter inzwischen nur noch als eine Fortsetzung juveniler Sexualbetätigungen verstehen, die ihnen vormals in den berühmten Eliteschulen nahegebracht wurden: nämlich als Aufforderung, angesichts endloser gesellschaftlicher Krisen und Katastrophen wenigstens noch auf der Möglichkeit bestehen zu können, gemeinschaftlich mit alten Schulfreunden ausdauernd und in aller Ruhe vor sich hin zu masturbieren.

Freud, Sigmund (1917): Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. G.W., Bd. XI. Frankfurt/ Main (1966): Fischer.

Gross, Peter (1994). Die Multioptionsgesellschaft. Konstanz: UVK.

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