Schulschließungen

Schulschließungen: Aufstand der Bürgermeister

Von Michael Ley & Carl Vierboom

(1) In Dortmund, Duisburg und Hagen gehen die Bürgermeister auf Konfrontationskurs mit der Landesregierung. Nach dreimonatiger Unterbrechung, in der die Schüler am Bildschirm unterrichtet wurden, waren die Schulen Anfang der Woche (15.03.21) wieder zum Präsenz- und Wechselunterricht zurückgekehrt. Nur zwei Tage später wollen einzelne Städte in NRW wieder zumachen.

Die Bürgermeister argumentieren mit einem dynamischen Infektionsgeschehen vor Ort, d.h. mit rasant steigenden Inzidenzzahlen, die in den nächsten Tagen ein Überschreiten der 100er Marke erwarten ließen und daher die vom Bund beschlossene „Notbremse“ nötig machten. Außerdem verweisen sie auf die Organisationsprobleme bei der Durchführung der Massenimpfungen und das verstärkte Auftreten neuer Virusvarianten. Aus Gründen des Gesundheitsschutzes seien Schulschließungen zwingend erforderlich.

Dagegen bezieht sich die Landesregierung auf die von Ministerpräsidenten und Kanzlerin getroffene Vereinbarung, wonach die Notbremse erst aber einer Inzidenz von 100 Punkten wirksam werden kann. Außerdem verlangt sie, dass Schulschließungen im Rahmen eines Gesamtkonzeptes begründet und mit der Landesregierung abgestimmt werden müssen.

(2) In Deutschland steht das gesamte Schulwesen unter Aufsicht des Staates. Das ist in erster Linie historisch begründet, hat andererseits aber auch mit der Aufgabe der Schule zu tun, an der Sicherung des gesellschaftlichen Konsenses mitzuwirken. Ohne Schule keine Nationalsprache, keine Fachausbildung, keine Bindung an gesellschaftliche Grundwerte.

Die staatliche Schulaufsicht umfasst daher auch mehr als nur die Kontrolle über einzelne Vollzüge im Bereich des Schulwesens. Schulaufsicht bedeutet ein „Vollrecht“ des Staates zur Planung, Gestaltung, Organisation, Durchführung und Überwachung sämtlicher Belange im Umkreis der Schule (Heckel & Avenarius 2000). Der Staat ist in Deutschland der „Schulherr“ und daneben gibt es erst einmal keine weiteren „Herren“.

Dem umfassenden Anspruch des Staates entspricht die Einbindung der Schulverwaltung in das System der staatlichen Verwaltungsbürokratie. Dass die Ausführung dieser Aufgabe in die Verantwortung der Länder gelegt wird, ändert nichts an der Schulhoheit des Staates, sondern entspricht dem Vorgehen in anderen Bereichen der Verwaltung. Die entscheidenden Verwaltungskompetenzen werden in der Regel immer den Ländern übertragen (Bogumil 2007).

(3) Das System hat den Vorteil, dass der Staat seine Vorstellungen von Schule ohne größere Reibungsverluste bis in die einzelnen Organisationen hinein tragen kann, z.B. in Form von Lehrplänen, Stundentafeln, Verordnungen, Dienstanweisungen usw. Der Nachteil besteht in den riesigen Aufwänden, die dafür geleistet werden müssen. Wie jede Verwaltung ist auch die Schulverwaltung nicht gerade für Flexibilität und Innovationsfreude bekannt.

Ein anderes Problem hat damit zu tun, dass sich neben der streng hierarchischen Verwaltungsgliederung in den vergangenen Jahren ein anderes, scheinbar moderneres System etabliert hat, das sich den Prinzipien der neuen Steuerungsmodelle verpflichtet sieht. Unter marktgängigen Schlagworten wie Autonomie, Output-Steuerung oder Kontraktmanagement ist versucht worden, das alte Modell der Schulverwaltung an Vorbilder aus der Wirtschaft und dem Management anzupassen.

Wie die Erfahrung zeigt, hat das weder zur Entlastung der Schulen noch zu einer Verbesserung ihrer Effizienz geführt. Statt dessen drohen die Schulen heute unter zusätzlichen Verwaltungsaufgaben zu ersticken, während die höheren Ebenen der Verwaltung wesentliche Steuerungsaufgaben immer mehr an externe Dienstleister, an neugegründete Entwicklungsinstitute und vor allem auch an supranationale Konsortien wie die OECD abgegeben haben.

(4) Ähnlich wie in anderen Bereichen der Gesellschaft kann man daher auch im Schulwesen eine sehr weitreichende Erosion der politischen Verantwortung beobachten. Sie besteht nicht nur darin, dass auf allen Ebenen sehr viele Beteiligte Mitspracherechte beanspruchen, denen in Übereinstimmung mit gesellschaftlichen Maximen wie Transparenz und Gleichberechtigung auch meistens umstandslos stattgegeben wird.

Das größere Problem besteht vielmehr darin, dass es keinen einheitlichen Maßstab für die Vermittlung der unterschiedlichen Ansprüche zu geben scheint. Auf der einen Seite bemüht sich die Verwaltung, möglichst allen Beteiligten gerecht zu werden; auf der anderen Seite sieht sie sich aber auch der eigenen Verwaltungslogik mit ihren Zuständigkeiten und Hierarchien verpflichtet, die auf jeden Fall durchgesetzt werden müssen.

Dieser Zwiespalt führt letztlich dazu, dass sich die Arbeit der Verwaltung in endlosen Diskussionen, Gremiensitzungen und Anhörungen erschöpft, die immer mehr ausufern und ohne einen verbindlichen Rahmen auch nicht viel bringen. Am Ende entscheiden dann einige wenige Amtsträger, aber meistens unter Zeit- und Handlungsdruck oder weil sie von Parteien, Verbänden oder auch von den Mitgliedern des eigenen Hauses in die Enge getrieben wurden.

(5) Die Vorgänge um die Schulschließungen sind ein Lehrstück für diese Verhältnisse. Im Grunde muss man hier bei der Kanzlerin anfangen, die sich mit einer Runde von Beratern umgibt, die nach ganz anderen Kriterien entscheiden, als die Ministerpräsidenten, die für ihre Länder politische Entscheidungen treffen müssen. Die lange Dauer der Beratungen zwischen Bund und Ländern lässt ahnen, wie weit die verschiedenen Interessen hier auseinander liegen.

Die Ergebnisse der „Gipfelgespräche“, die im übrigen nicht durch ein verfassungsmäßiges Institut gedeckt sind, bleiben zum größten Teil vage und unentschieden. Eine Perspektive für die Menschen, die zu ihrer Arbeit und zu einer sinnvollen Lebensperspektive zurückkehren wollen, ist damit nicht verbunden. Statt dessen viel Klein-Klein, Vertröstungen auf spätere Zeitpunkte und die Drohung, dass alles noch viel schlimmer kommen könnte, wenn man jetzt ungeduldig würde.

In den Ländern werden die Probleme, die auf Bundesebene nicht gelöst wurden, an die Landkreise und die Kommunen weitergegeben. Hier wittern einzelne Akteure die Chance, sich zu lokalen „Herren“ aufzuschwingen, indem sie auf die Widersprüche der großen Politik hinweisen und eine klare Linie fordern. In dem Moment, in dem deutlich wird, dass den Aufrufen der Lokalfürsten auch einzelne Eltern folgen, die ihre Kinder im Angesicht der drohenden Mutante nicht mehr zur Schule schicken wollen, sieht sich der „Landesherr“ gezwungen, auf den Tisch zu hauen und dem Spiel ein Ende zu bereiten.

(6) Max Weber (1922) hat einmal versucht, die strukturellen Kennzeichen eines politischen Verbandes herauszuarbeiten. Er hat gesagt, dass ein solcher Verband durch die „geordnete Beherrschung“ eines physikalisch ausgedehnten Gebietes sowie durch eine „Ordnung der Beziehungen der Menschen“ zu kennzeichnen wäre, die auf diesem Gebiet leben (S. 613).

Das bedeutet, dass ein Staat notwendig in das Handeln der Menschen eingreifen muss, wenn er selbst als politisches Gebilde existieren will. In einer demokratisch verfassten Gesellschaft erfolgen diese Eingriffe zumindest von der Idee her nach konstanten und berechenbaren Regeln, vor allem aber auch in Abstimmung mit den Gesetzen, die sich diese Gesellschaft selbst gegeben hat und die sie als verbindlichen Maßstab ihres Zusammenlebens anerkannt hat.

Entscheidend ist dabei jedoch, dass überhaupt der Bezug auf ein regulierendes Prinzip erkennbar wird. Ohne verbindliche Regeln, die von allen Akteuren akzeptiert und berücksichtigt werden, droht ein politischer Verband zu zerfallen. In einer solchen Situation ist die Regulation des gemeinschaftlichen Handelns nicht mehr möglich, weil jede „Zelle“ des gemeinsamen Verbandes ihre eigenen Regeln aufstellt.

Aus dieser Perspektive betrachtet, haben wir es in der gegenwärtigen Situation nicht nur mit Gesundheits- und Vorsorgefragen, sondern in erster Linie mit einer Krise des politischen Verbandes zu tun. Wir können beobachten, wie Verantwortungen erodieren, Verwaltungsebenen sich verselbständigen und Entscheidungen nicht nach anerkannten Maßstäben, sondern nach völlig willkürlichen Gesichtspunkten getroffen werden.

Vielleicht hätten wir in den vergangenen Jahren nicht so ausgiebig auf Trumps Amerika zeigen sollen. Möglicherweise hätten wir gemerkt, dass wir selbst seit langem dabei sind, die Grundlagen unseres eigenen Gemeinwesens zu zerschlagen.

 

Bogumil Jörg (2007): Regierung und Verwaltung. Politische Bildung, 2007, 4, 38-55.

Heckel, Hans; Avenarius, Hermann (2000): Schulrechtskunde. Ein Handbuch für Praxis, Rechtsprechung und Wissenschaft. Neuwied u.a.: Luchterhand.

Weber, Max (1922): Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen (1956): Mohr.

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