Erosion der Lehrerrolle

Erosion der Lehrerrolle: Über den Verlust pädagogischer Maßstäbe

(1) In der Corona-Schule sehen sich die Lehrkräfte besonderen Herausforderungen ausgesetzt. Viele Routinen, die in der Vergangenheit den Alltagsbetrieb der Schule kennzeichneten, sind aufgehoben oder außer Kraft gesetzt. Schüler und Eltern reagieren in ganz anderer Weise als früher, während die Lehrkräfte wegen der Abstands- und Hygieneregeln viel seltener die Möglichkeit haben, sich in Gesprächen zwischen „Tür und Angel“ auf gemeinsame Handlungsstrategien zu verständigen.

Lehrerinnen und Lehrer gehen mit solchen Herausforderungen auf sehr unterschiedliche Weise um. Wir beobachten einerseits eine erhebliche Irritation durch die Auflagen zur Eindämmung der Infektionsgefahr, gleichzeitig aber auch Versuche, solche Irritationen zu verleugnen und so zu tun, als wäre alles wir früher. Daneben kommt es zu Rückzugstendenzen sowie zu Formen von Nachgiebigkeit, in denen Grundregeln des pädagogischen Auftrags vernachlässigt werden.

(2) Viele Lehrkräfte sehen sich durch die neue Situation in zweifacher Hinsicht überfordert. Zum einen fürchten sie sich vor den Gefahren einer Infektion, zum anderen erleben sie aber auch, dass sie den Anforderungen des Lehrplans immer weniger gerecht werden können. Sie stehen vor dem Problem, ein vorgegebenes Soll erfüllen zu müssen, ohne dabei auf bewährte Mittel und Instrumente zurückgreifen zu können

Einige Lehrkräfte reagieren auf diese Situation mit Panik. Sie haben das Gefühl, bei jeder Abweichung von den vereinbarten Regelungen, aber auch bei jeder Neufassung dieser Regelungen aus dem Gleichgewicht zu geraten. Da sie Mühe haben, diese Regelungen mit ihren eigenen pädagogischen Konzepten in Übereinstimmung zu bringen, sehen sie sich immer wieder mit dem Bruch dieser Konzepte konfrontiert. Es gelingt ihnen nicht, die Ordnung der Corona-Schule an ihre früheren Erfahrungen anzuschließen.

Aus der Perspektive dieser Lehrkräfte wird der Alltag in der Corona-Schule als etwas völlig Fremdes erlebt. Überall werden Gefahren vermutet, vor denen man sich schützen oder zu denen man möglichst auf Distanz gehen muss. Der Kontakt zu Schülern und Kollegen wird ebenso vermieden wie die Berührung mit Türen und Tischplatten. Im Unterricht sieht man sich bei der kleinsten Bewegung der Kinder von einer Infektionswelle überschwemmt.

Bei diesen Lehrkräften wird Corona zum Anlass für eine sehr weitreichende Distanzierung von den Schülern und ihren Problemen. Der Alltag in der Schule wird sozusagen nur noch „mit spitzen Fingern“ angefasst. Man richtet eine scharfe Grenze zwischen dem eigenen Erleben und der Umgebung ein und verlangt von allen anderen, dass sie diese Grenze ebenfalls respektieren.

(3) Eine zweite Gruppe reagiert auf die veränderten Bedingungen mit Verharmlosung und Beschwichtigung. Es wird so getan, als hätte sich mit Corona im Grunde nichts verändert und als könnte man so weitermachen wie bisher. Diese Lehrkräfte versuchen sich nichts anmerken zu lassen, erwarten aber auch von anderen, dass sie dem Regiment der Corona-Schule nicht allzu viel Aufmerksamkeit widmen.

Im Unterschied zur ersten Gruppe legen die „Normalisierer“ Wert darauf, dass der Schul- und Unterrichtsbetrieb wie gewohnt weiter läuft. Die Lehrkräfte, die zu dieser Gruppe gehören, widmen den neuen Regeln nur so viel Zeit wie vorgeschrieben und kehren dann zur Tagesordnung zurück. Die meiste Sorge gilt hier der Einhaltung des Lehrplans und der Vorbereitung der Prüfungen. Die Lehrkräfte wollen nicht, dass die Schüler etwas verpassen oder dass wertvolle Unterrichtszeit verloren geht.

Bei der Gruppe der Normalisierer spielt insgeheim die Befürchtung eine Rolle, dass die gewohnte Ordnung der Schule durch Corona außer Kraft gesetzt und die Schüler diese Situation „ausnutzen“ könnten. Indem man so tut, als wäre nichts geschehen, hält man am eigenen Erziehungs- und Disziplinierungsanspruch fest. Die Lehrkräfte wehren sich gleichsam dagegen, diesen Anspruch durch Formen einer medizinischen Disziplinierung zu ersetzen.

Weil dabei aber auch die Veränderungen verleugnet werden, denen die Schule im Zuge der Krise nun einmal unterworfen ist, kann es auch in dieser Gruppe leicht zu Überforderungen kommen. Sowohl die Schüler als auch die Lehrkräfte leiden an der verordneten Normalität, weil dabei Betroffenheiten und Empfindlichkeiten ausgeklammert werden. Die Devise „Augen zu und durch“ muss auf Dauer mit erheblichen Widerständen bei Schülern, Eltern und Kollegen rechnen.

(4) In einer weiteren Gruppe steht die Sorge um das Wohlergehen der Schülerinnen und Schüler im Vordergrund. Die Lehrkräfte, die zu dieser Gruppe gehören, erkennen die sehr weitreichenden Einschränkungen, die den Kindern durch die Auflagen der Corona-Schule abverlangt werden und versuchen diese Einschränkungen so weit wie möglich zu kompensieren. Sie wollen verhindern, dass die Schüler über ein vertretbares Maß hinaus belastet werden.

Allerdings gehen einige Lehrkräfte in diesem Zusammenhang auch sehr weit. Sie zeigen Rücksichten für die Schüler, die sich nicht mehr nur an pädagogisch sinnvollen Regeln orientieren, sondern nur noch von Gesichtspunkten der Sympathie und Anteilnahme bestimmt werden. Die Lehrkräfte wechseln sozusagen die Seite und beginnen sich mit den Schülerinnen und Schülern zu solidarisieren – teilweise auch gegen die eigenen Kollegen oder gegen die Anordnungen der Schulleitung.

Das Problem dieser Umgangsform besteht nicht nur darin, dass dabei der Erziehungsauftrag der Schule in den Hintergrund tritt. Die Solidarität der Lehrkräfte wird insgeheim auch durch den Wunsch mitbestimmt, angesichts einer drohenden Gefahr selbst noch einmal wie ein Kind versorgt oder „bemuttert“ zu werden. Das führt jedoch notwendig auch dazu, dass sich ohnehin vorhandene Verunsicherungen hinsichtlich der eigenen Rolle noch verstärken.

(5) Eine vierte Gruppe reagiert auf die Probleme der Corona-Schule mit Rückzügen und Absentismus. Die Lehrkräfte, die zu dieser Gruppe gehören, melden sich häufiger krank, erscheinen verspätet zum Unterricht oder lassen sich als Mitglieder der sogenannten Risikogruppen für längere Zeit vom Unterricht befreien.

Das Verhalten dieser Lehrkräfte besitzt eine auffällige Ähnlichkeit mit dem Verhalten von Schülerinnen und Schülern, die auf die veränderten Bedingungen der Corona-Schule mit Passivität und Rückzug antworten. Ähnlich wie bei den Schülern spielt auch bei den Lehrkräften der Wunsch eine Rolle, die Aufmerksamkeit von der Außenwelt auf den eigenen Körper zu lenken. Die Behandlung körperlicher Vorgänge und Reaktionen erscheint den Betroffenen sozusagen plausibler zu sein als die Auseinandersetzung mit einer komplexen Umwelt.

Obwohl diese Gruppe der Arbeit in der Schule nicht oder nur für begrenzte Zeit zur Verfügung steht, wäre es falsch, die Lehrkräfte als „Krisengewinnler“ zu klassifizieren. Die Eingrenzung auf körperliche Fragen stellt in vielen Fällen die einzige Möglichkeit dar, mit den Herausforderungen der Krise fertigzuwerden. In den meisten Fällen hängt die Rückkehr in die Berufsarbeit davon ab, ob diese Lösungsform eine angemessene Begleitung, z.B. im Rahmen einer Supervision, erfährt.

Die beschriebenen Handlungsformen sind dadurch gekennzeichnet, dass ein pädagogisches Maß im Umgang mit den Problemen der Schule verlorengeht. Statt dessen beobachten wir, dass elementare Regeln im Umgang mit Schülerinnen und Schülern missachtet werden:

– wenn die Schüler nur noch als Gefahrenquelle wahrgenommen werden (Gruppe 1);

– wenn sie über die wirklichen Verhältnisse der Corona-Schule getäuscht werden (Gruppe 2);

– wenn sie als Partner der eigenen Hilfsbedürftigkeit beansprucht werden (Gruppe 3);

– oder wenn die berufliche Verantwortung für gewisse Zeit völlig aufgegeben wird (Gruppe 4).

Wir können deshalb annehmen, dass die Schwierigkeiten, mit denen die Corona-Schule zu kämpfen hat, nicht nur von außen induziert werden oder eine direkte Folge der von der Verwaltung erlassenen Regelungen darstellen. Hinzu kommen die Reaktionen der Lehrkräfte, die eine sehr weitreichende „Umwertung“ pädagogischer und moralischer Maßstäbe mit sich bringen und mit schwerwiegenden Folgen für alle Beteiligten verbunden sind.

Man kann auch sagen, dass wir gegenwärtig Zeugen einer Entwicklung werden, in der sich die bisher gültige Ordnung einer großen gesellschaftlichen Organisation vor unser aller Augen aufzulösen beginnt.

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