Das Zeugnis aus dem Kofferraum

Das Zeugnis aus dem Kofferraum: Über Abwertungen eines schulischen Rituals

(1) Zeugnisausgabe unter Lockdown-Bedingungen. Die Schulen sind geschlossen, die Schüler im „Home-Office“, die meisten Lehrkräfte ebenso. Damit Ansteckungen vermieden werden, sollen die Schüler auch zum Ende des Halbjahres nicht in die Schule kommen. Man befürchtet größere Menschenansammlungen, Gedränge schon im Schulbus, Umarmungen und Küsschen unter denjenigen, die sich im neuen Jahr noch nicht gesehen haben. Die Risiken, die damit verbunden wären, will niemand eingehen.

Die einfachste Lösung wäre die Versendung der Zeugnisse mit der Post. Bei fast elf Millionen Schülern wäre das allerdings mit erheblichem logistischem Aufwand verbunden. Allein die Portokosten lägen im zweistelligen Millionenbereich. Nur wenige kleinere Schulen haben sich für diese Lösung entschieden; die anderen nur in solchen Fällen, in denen schon zum Jahresende ein Schulwechsel ansteht oder die Schülereltern kurzfristig eine Zeugniskopie angefordert haben.

Die übrigen Schulen haben sich sehr unterschiedliche, durchaus kreative Arrangements für die Übergabe einfallen lassen. An vielen Schulen werden die Eltern in Kohorten eingeteilt und zu festgelegten Zeitpunkten zur Schule gebeten, wo sie sich in gebührendem Abstand auf dem Schulhof versammeln und die Zeugnisse ihrer Kinder an einem mit Plexiglas gesicherten Ausgabeschalter entgegennehmen können. Das ist sozusagen das Modell „Ordnungsamt“ oder „Postschalter“.

An Berufsschulen soll es eine Variante dieses Arrangements geben, bei dem die schon fahrtüchtigen Schüler mit ihren Autos auf den Schulhof fahren, klassenweise nebeneinander parken und mit geöffnetem Kofferraum darauf warten, dass die Lehrer die Zeugnisse in den Kofferraum legen. Das ähnelt der Situation in einem Drive-In-Restaurant oder in einem Baumarkt. Man holt sich seine „Ladung“ ab und ist schnell wieder verschwunden.

Vor allem an kleineren Grundschulen machen sich Lehrerinnen und Lehrer auf den Weg und übergeben die Zeugnisse an der Haustür ihrer Schüler. In Hessen werden sie dabei sogar von einem Team des örtlichen Lokalsenders begleitet, der die Zeugnisse in Form von „Geschenken“ verpackt hat. Das erinnert an die Paketboten der großen Versandunternehmen – oder an den Weihnachtsmann, der die Kinder beschert.

Das Modell „Call-Center“ ist wahrscheinlich am meisten verbreitet. Am Zeugnistag setzen sich die Lehrkräfte ans Telefon und rufen jeden einzelnen Schüler innerhalb eines vorher festgesetzten Zeitraums an, um ihm oder seinen Eltern die Fachnoten telefonisch mitzuteilen. Manchmal machen sie auch einen Screenshot von dem Zeugnis, das ihnen im Original vorliegt und schicken die Kopie über eine Messenger-App weiter. Das Original soll abgeholt werden, sobald die Schule zum Präsenzunterricht zurückkehrt.

(2) Das Zeugnis ist ein zentraler Aspekt der Schule und des Schullebens. Es dient nicht nur der Dokumentation individueller Schulleistungen, sondern auch der Einordnung dieser Leistungen auf einer festgelegten Notenskala. Das Zeugnis gibt an, in welchem Verhältnis die Schülerleistungen zur jeweiligen Altersnorm angesiedelt sind: über dem Durchschnitt, im mittleren Bereich oder eher unter den Möglichkeiten der anderen Schüler.

Das Zeugnis entscheidet zugleich über das Weiterkommen in die nächsthöhere Klassenstufe, über den Besuch der weiterführenden Schule oder über die Berechtigung zur Aufnahme eines Hochschulstudiums. Wie die Schule selbst übernimmt auch das Zeugnis Ordnungs- und Verteilungsfunktionen. Es differenziert zwischen denjenigen, die weiterkommen dürfen, und denjenigen, die zurückbleiben müssen.

Zumindest von der Idee her sorgt das Zeugnis aber auch dafür, dass diese Selektion einigermaßen objektiv und frei von willkürlichen Manipulationen bleibt. Durch amtliche Vorschriften und Verordnungen wird genau geregelt, welche Aspekte in die Beurteilung der Schülerleistungen einfließen dürfen, wie die verschiedenen Anteile gewichtet werden müssen und wie bei Unsicherheiten oder Zweifelsfällen entschieden werden muss.

Das Zeugnis selbst ist ein amtliches Dokument. Es wird von der Schule als unterem Teil der Kultusbürokratie ausgestellt und durch ein Amtssiegel beglaubigt. Die Zustellung muss deshalb immer im Original erfolgen und muss, wenn es sich um minderjährige Schüler handelt, den Eltern zur Kenntnis gebracht werden. Im Schulzeugnis manifestiert sich der gesellschaftliche Charakter und der gesellschaftliche Auftrag der Schule.

(3) Die meisten Schüler und Eltern erleben den gesellschaftlichen Charakter der Schule in der Regel als etwas, was von ihren eigenen Auffassungen und Überzeugungen abweicht. Mit der Schule kommt so etwas wie ein „fremder Blick“ ins Spiel, der das Bild der eigenen Leistungsfähigkeit manchmal auf sehr weitreichende Weise in Frage stellen kann (Ley 2012). Die Schule zeigt den Eltern ebenso wie den Kindern, was ihre Bemühungen aus der Perspektive der Gesellschaft „wert“ sind.

Mit den Schul- und Zeugnisnoten wird dieser Wert ziemlich unverblümt in Zahl und Rangplätzen zum Ausdruck gebracht. Das kann zu Ernüchterung, Enttäuschung, Ärger oder auch Wut bei allen Beteiligten führen. Schüler können sich bei ihren Lehren über angebliche Ungerechtigkeiten beklagen, Eltern über mangelnden Arbeitseinsatz ihrer Kinder und die Lehrkräfte über ihr schweres Schicksal als Erzieher des Menschengeschlechts. Wegen der verschiedenen Perspektiven, aus denen die Frage der Schulleistungen betrachtet wird, kommt hier jedenfalls sehr viel Dynamik ins Spiel.

Gleichzeitig haben alle Seiten aber auch Techniken und Strategien entwickelt, um mit diesem Problem fertigzuwerden. Zaborowski et al. (2011) beschreiben, wie Lehrkräfte und Schüler bereits während des normalen Schulalltags damit beschäftigt sind, die unterschiedlichen Maßstäbe zur Beurteilung der Schülerleistungen miteinander zu vergleichen und aneinander anzugleichen. Dasselbe geschieht offenbar auch im Lehrerkollegium, wo sich die Lehrkräfte mehr oder weniger ausdrücklich darüber verständigen, wie das Verhalten und die Leistung einzelner Schüler oder Klassen zu bewerten sind (Kalthoff & Dittrich 2016).

Die Bekanntgabe der Noten nach einer Prüfung oder die Ausgabe der Halbjahreszeugnisse hat in diesem Zusammenhang häufig den Charakter einer großartigen Inszenierung. Sie ist dadurch gekennzeichnet, die „subjektiven“ Einflüsse, ohne die es nun einmal auch in der Schule nicht geht, in den Hintergrund zu drängen und so zu tun, als ob es sich dabei um die Feststellung „objektiver“ Leistungen handeln würde (vgl. Zaborowski a.a.O.). Die Schulnoten werden objektiviert und als eine unverrückbare Tatsache hingestellt, die scheinbar nichts mit den Prozessen zu tun hat, die zu ihrer Entstehung geführt haben.

Auf der anderen Seite versuchen die Eltern diese scheinbar in Stein gemeißelte Wahrheit immer auch abzumildern und auf den Kontext des Familienlebens zu beziehen. Wenn sie sich am Tag der Zeugnisausgabe mit ihren Kindern zum Essen verabreden, ist das auch ein Versuch der „Normalisierung.“ Es geht darum, den fremden Blick von Schule und Gesellschaft einigermaßen „verdaulich“ zu machen.

(4) Noch einmal: die Zeugnisse sind ein zentraler Drehpunkt der Schule. Dieser Drehpunkt fällt aber nicht mit dem amtlichen Dokument zusammen. Er wird verständlich und erträglich nur durch die vielfältigen Maßnahmen im Vorfeld und im Nachgang der Zeugnisausgabe. Die Übergabe des Zeugnisses ist entscheidend, nicht allein die Tatsache der Beurteilung. Die Übergabe bettet die Beurteilung in ein schulisches Ritual ein, mit dem die darin enthaltenen Zumutungen einigermaßen erträglich, dadurch aber auch überhaupt erst wirksam werden. Ohne das Ritual hätten die Zeugnisse überhaupt keinen Sinn.

Was passiert mit diesem Ritual aber nun in den Zeiten des Lockdowns? Was macht die Schule, wenn sie die Noten per Telefon weitergibt, die Zeugnisse an improvisierten Ausgabeschaltern zum Schulhof durchreicht oder an der Haustür übergibt? Wie wirken sich diese Veränderungen auf die Akzeptanz der Noten oder der Schule aus? Was passiert mit dem „fremden Blick“, den die Schule als Einrichtung der Gesellschaft repräsentiert?

Oberflächlich betrachtet ändert sich natürlich nichts. Alle Schülerinnen und Schüler bekommen ihre Zeugnisse, wenn auch manchmal erst in einer provisorischen Form, als Kopie oder über eine amtliche Mitteilung. Damit ist den verwaltungstechnischen Anforderungen entsprochen worden. „Genügend“ würde auf einem altertümlichen Zeugnis stehen, das man der Institution Schule zu überreichen hätte.

Andererseits fehlt aber alles, was zum Ritual der Übergabe gehört. Die Aufregung und die Unruhe in der Klasse, die fiebrige Zeit des Abwartens bis zu dem Augenblick, in dem man das Dokument entgegennimmt, die Ausrufe der Erleichterung, der Enttäuschung oder Wut, wenn man realisiert hat, was die nackten Zahlen bedeuten, das ermattete Schweigen, wenn sich die Erregung wieder gelegt hat.

Natürlich entfällt auch all das, was in den Untersuchungen von Zaborowski oder Kalthoff im Vorfeld der Notenvergabe beobachtet wurde. Im vergangenen Halbjahr und vor allem während der Zeit des Lockdowns hatten viele Schüler gar nicht die Möglichkeit, mit ihren Lehrern über Beurteilungen und Noten zu sprechen – schon gar nicht im Kreis der Klassengruppe, die zur Abfederung und Normalisierung des „fremden Blicks“ so wichtig ist.

Und schließlich entfallen auch die kleinen Zeugnisfeiern in den Familien. Die Großeltern dürfen nicht besucht werden, Cafés und Restaurants sind geschlossen und wegen der Kontaktbeschränkungen dürfen auch enge Freunde und Freundinnen nicht eingeladen werden, um den bewegenden seelischen Komplex der Prüfung gemeinsam zu verarbeiten.

(5) Was am Ende übrig bleibt, ist ein kalter, nüchterner, technischer Vorgang – selbst noch in den Fällen, in denen die Lehrkräfte sich die Mühe machen, die Schülerinnen und Schüler persönlich aufzusuchen. Für lange Gespräche an der Haustür ist keine Zeit, wenn die Lehrerinnen und Lehrer nicht ganze Tage mit der Auslieferung der amtlichen Dokumente verbringen wollen. Selbst am Telefon wird nach zwei Minuten der Hörer aufgelegt. Eine Schule mit 1000 Schülern würde mehrere Tage brauchen, ehe sie mit allen durch wäre.

Man könnte auch sagen: An die Stelle der Inszenierung und des Rituals tritt eine nüchterne Verrichtung. Die „Übergabe“ wird zu einer „Ausgabe“, die an die Abholung von Baumaterial oder Fastfood erinnert. Es ist ein liebloser, herzloser und gleichgültiger Vorgang, bei dem alle Emotionen auf ein Minimum zurückgeschraubt werden.

Psychologen wissen, dass die Art des Umgangs mit Dingen und Menschen selbstverständlich auch auf die Form der Beziehung abfärbt. Wer seine Umwelt lieblos behandelt, der muss damit rechnen, dass sich diese Gleichgültigkeit fortsetzt: im Fall der Zeugnisvergabe beispielsweise in Form einer Abwertung des Stellenwertes schulischer Leistungen und Beurteilungen. Die Schüler haben das Zeugnis vielleicht im Kofferraum, aber sie werden es vielleicht gar nicht herausholen und anderen mit Stolz vorzeigen. Sie haben die Noten auf dem Handy, aber sie haben kein Dokument, das ihnen irgendeine Richtung anzeigt. Sie haben einen Screenshot, der untergeht im Rauschen der sozialen Medien.

(6) Wir werden zur Zeit Tag für Tag Zeugen einer radikalen Entwertung gesellschaftlicher Vereinbarungen und Institutionen. Sie geschehen so beiläufig und selbstverständlich, dass die meisten sie kaum bemerken und achtlos darüber hinwegsehen. Bei einer genauen Beschreibung zeigt sich aber, wie verheerend die Vorgänge sind, die sich hier abspielen. Wir müssen damit rechnen, dass es sehr lange dauern wird, ehe wir uns von den Verwüstungen erholt haben werden, die der Kampf gegen das Virus angerichtet hat.

 

Kalthoff, Herbert; Dittrich, Tristan (2016): Unterscheidung und Härtung. Bewertungs- und Notenkommunikation in Lehrerzimmer und Zeugniskonferenz. Berlin J. Soziol 2016, 26:459–483.

Ley, Michael (2012): Geteilte Erziehung. Psychologische Untersuchungen über das schwierige Verhältnis von Familie und Schule. Engagement, 2012: 105-114.

Zaborowski, Katrin Ulrike; Meier, Michael; Breidenstein, Georg (2011): Leistungsbewertung und Unterricht. Ethnographische Studien zur Bewertungspraxis in Gymnasium und Sekundarschule. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

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