Zur Psychologie des Attentats

(1) In den Medien kursieren inzwischen Überlegungen zu möglichen Hintermännern des Trump-Attentäters. Es werden also Vermutungen darüber angestellt, inwiefern der Mann von Trump selbst, von der amtierenden US-Regierung oder sogar von der Ukraine bezahlt worden sein könnte, damit er das Attentat ausführt oder, im Fall von Trump als Auftraggeber, ein solches Attentat lediglich vortäuscht.

Obwohl die Vermutungen zu den verschiedenen Optionen jedes Mal ein gewisses Maß an Plausibilität beanspruchen können, lassen sie sich ohne ausführliche und unabhängige Untersuchungen nicht beweisen. Gemeinsam ist den Vermutungen allerdings der Versuch, den Attentäter nicht als Einzeltäter darzustellen, sondern seine Tat in Beziehung zu größeren gesellschaftlichen oder politischen Einheiten zu bringen.

Auch eine psychologische Erklärung kann nicht dabei stehenbleiben, die Tat zu personalisieren und als Ergebnis irgendeiner Verrücktheit anzunehmen. Das Interessante an dem Fall scheint vielmehr zu sein, dass sich Wechselwirkungen zwischen der Figur des Attentäters und bestimmten Entwicklungen innerhalb der westlichen Gesellschaften aufzeigen lassen. Auch wenn die Tat auf die Entscheidung eines einzelnen Mannes zurückgehen sollte, so finden sich darin doch Zusammenhänge und Motive wieder, die auch im Kontext der Gesellschaft eine Rolle spielen. Der Täter und die westliche Kultur verstehen sich irgendwie.

(2) In dem früheren Aufsatz über den Attentäter Ryan Routh wurde bereits auf eine Bemerkung von E. Todd (2024) hingewiesen, der sich mit der Biographie von V. Blinken und A. Nuland befasst. Beide sind oder waren maßgeblich an den politischen Entscheidungen im Hinblick auf den Krieg in der Ukraine befasst und beide besitzen nicht nur jüdische Wurzeln, sondern ihre Vorfahren stammen auch aus der Ukraine. Ein Großvater Blinkens lebte in Kiew, die Großeltern von Nuland kommen aus Moldawien und der Ukraine. Die Vorfahren von Nulands Ehemann Robert Kagan, einem der einflussreichsten Akteure innerhalb der Washingtoner „Blase“, sind in Litauen geboren.

Todd ist der Meinung, dass Mitglieder einer Familie, die aus dem Ausland stammen, bei den Nachkommen immer irgendein Gefühl der Verbundenheit zu der jeweiligen geographischen Region erzeugen. Bei Blinken und Nuland fällt dagegen auf, dass sie sich zu ihrer Herkunft und dem Schicksal ihrer jüdischen Vorfahren niemals geäußert haben. Es sieht so aus, als hätten sie die Verbindung zur Vergangenheit ihrer Familie völlig abgeschnitten (Todd 2024, S. 301 f.).

Nach Todds Ansicht gibt es dafür zwei mögliche Erklärungen. Die eine, wahrscheinlichere Erklärung bezieht sich auf die allgemeine Indifferenz der US-Amerikaner gegenüber der eigenen oder fremden Geschichte. Die USA interessieren sich in erster Linie für die eigene imperiale Größe. Das muss notwendig zu der Konsequenz führen, historisch gewachsene Unterschiede zwischen den Völkern zu ignorieren, aber auch dazu, den geschichtlichen Voraussetzungen des eigenen Handeln wenig Beachtung zu schenken. Die USA leben sozusagen ausschließlich in der Gegenwart. Sie haben das Bewusstsein für historische Zusammenhänge verloren und sind im Wortsinne „vergesslich“ geworden.

In Ergänzung zu dieser Annahme könnte man auf den Gedanken kommen, dass der amtierende Präsidenten Biden geradezu wie eine Inkarnation dieser Vergesslichkeit anzusehen wäre. Biden ist nicht einfach dement, sondern er zeigt auch eine bemerkenswerte Gleichgültigkeit gegenüber geschichtlichen Zusammenhängen, z.B. indem er die Namen vergangener oder aktueller Politiker miteinander verwechselt. Sein Lieblingswort ist „anyway“, ein Füllwort, das ungefähr so viel bedeutet wie: jedenfalls, wie auch immer, mir doch egal. Biden steht in gewissem Sinne für den Verlust des Geschichts-Bewusstseins einer ganzen Nation.

(3) Die zweite Erklärung, die Todd vorschlägt, ist etwas riskanter. Sie geht davon aus, dass sowohl Blinken als auch Nuland über ihre Herkunft sehr wohl Bescheid wissen und beispielsweise auch über die Pogrome gegen die Juden in Kenntnis gesetzt wurden, die bereits während der Zarenzeit begonnen haben und im Zweiten Weltkrieg unter tatkräftigen Mithilfe der ukrainischen Nationalisten verübt wurden. Inwiefern und auf welche Weise die Großeltern von Blinken oder Nuland von den Pogromen betroffen waren, wissen wir nicht. Es ist aber anzunehmen, dass die Emigration in die USA damit im Zusammenhang stehen.

In seinem Buch (La défaite de l’occident) weist Todd wiederholt darauf hin, dass sämtliche Anstrengungen des Westens, die offiziell das Ziel haben, Russland zu besiegen, in Wirklichkeit darauf hinauslaufen, die Ukraine endgültig als Nation zu zerstören und das ukrainische Volk ausbluten zu lassen. Nuland und Blinken sind an diesen Anstrengungen nicht nur an zentraler Stelle beteiligt, sondern sie sind auch sehr genau über die Zustände in dem Land informiert. Sie werden daher z.B. auch wissen, dass die Ukraine wehrfähige Männer mit Gewalt in Lastwagen sperrt und an die Front befördert, wo es im Durchschnitt 90 Minuten dauert, ehe sie von einem tödlichen Geschoss getroffen werden.

Todd fragt sich, ob diese Vorgänge aus der Perspektive Blinkens oder Nulands nicht auch als eine Form der Bestrafung oder Rache angesehen werden können: als Rache an einer Nation, die einmal dafür gesorgt hat, dass ihre Vorfahren ebenfalls auf Lastwagen in die Vernichtungslager transportiert wurden. Aus dieser Perspektive würde der Krieg gegen Russland also auf einer politischen Ebene durch die Verteidigung gegen einen tyrannischen Staatenlenker begründet; dessen abschreckendes Bild deckt aber in Wirklichkeit einen anderen Gegner, bei dem es sich um die Angehörigen einer Nation handelt, die versucht haben, die eigenen Vorfahren auszulöschen.

Eine solche Annahme wirkt natürlich sehr konstruiert und das räumt Todd auch ausdrücklich ein. Sie ist aber letztlich nicht gewagter als die Vermutungen über angebliche Hintermänner des Trump-Attentäters. Entscheidend ist, dass hier eine Erklärung versucht wird, in der das manifeste politische Geschehen auf grundlegende seelische Strukturen bezogen wird. Diese Strukturen sind nicht ausschließlich biographisch aufzufassen, sondern sie lassen erkennen, dass darin ein Urbild oder ein Prototyp gesellschaftlicher Konstellationen wirksam wird: Es geht letztlich um die Frage nach dem Verhältnis der Generationen. Es geht um das Generationenverhältnis und die Frage, wie sich Störungen in diesem Verhältnis auf das Handeln späterer Generationen auswirken.

(4) Die psychologische Analyse eines verhinderten Attentäters ist bereits vor einiger Zeit von dem kanadischen Juristen und Psychoanalytiker P. Legendre (1989) vorgelegt worden. Seine Untersuchung beschäftigt sich mit einem Vorfall, bei dem ein junger Gefreiter der kanadischen Armee in das Gebäude der Nationalversammlung eindringt, wahllos herumschießt und dabei drei Angestellte tötet. Der Plenarsaal ist an diesem Tag unbesetzt, so dass sich der Gefreite damit begnügen muss, auf dem Stuhl des Präsidenten Platz zu nehmen, wo er sich etwas später widerstandslos von der Polizei festnehmen lässt. In der Vernehmung äußert er den Satz: Die Regierung von Québec hatte das Gesicht meines Vaters.

In seiner Analyse arbeitet Legendre eine Situation heraus, die an die Situation in der bereits erwähnten französischen Serie („In Therapie“) erinnert und die man wohl wiederum als traumatisch ansehen muss. Der Gefreite Lortie wuchs in einer kinderreichen Familie auf, die von einem tyrannischen Vater wie von einem archaischen „Hordenvater“ beherrscht wurde. Dazu gehörte auch der wiederholte Missbrauch der Schwestern des Gefreiten, die dieser offenbar mit ansehen musste, ohne eingreifen zu können.

Das Attentat des Gefreiten Lortie lässt sich angesichts dieser Ausgangslage zunächst in klassischer Manier als nachträgliche Lösung des Ödipuskomplex verstehen: als Ersatz für den Mord am Vaters und zugleich als Bestrafung für diesen Mord, der durch die Selbst-Auslieferung an die kanadische Polizei vollzogen wird. Legendre weist in Ergänzung zu diesem zweiten Punkt aber vor allem auf die Bedeutung des nachfolgenden Gerichtsprozesses hin, in dem die Chance gesucht wird, das „Gesetz“ der menschlichen Gemeinschaft wiederherzustellen, das unter dem Hordenvater außer Kraft gesetzt wurde.

Aus dieser Perspektive ist also nicht eigentlich der Mord das Ziel des Attentäters, sondern der Gerichtsprozess und die Wiederherstellung der Ordnung. Der Attentäter will, wie vielleicht alle Attentäter, dass das Gesetz wieder in Kraft gesetzt wird, das Voraussetzung für menschliche Gemeinschaft, aber auch für das Leben des Einzelnen darstellt. Auf den Fotos der Verhaftung des Attentäters Routh fällt jedenfalls sein ruhiger, beinahe erleichterter Gesichtsausdruck auf.

(5) Mit dem „Gesetz“ meint Legendre nicht die Paragraphen der Justiz, sondern eine Urform des Gesetzes, wie sie z.B. in der Ödipus-Sage angedeutet wird und vor allem das Verhältnis zwischen Vater und Sohn betrifft. Legendre führt aus, dass der Vater als soziale Gestalt nicht einfach in die Welt kommt, indem eine Frau ein Kind gebärt. Im Unterschied zur Mutter muss der Vater sich seinen Platz als Vater vielmehr erst erarbeiten, er muss diesen Platz erobern (pater semper incertus).

Voraussetzung für die Aneignung dieses Platzes ist nicht nur die formale Anerkennung des Kindschaftsverhältnisses, sondern der Verzicht auf den eigenen Platz als Kind (eines anderen Vaters). Das Kind, das der Vater gewesen ist, muss sozusagen sterben, damit das Kind, das neu geboren wurde, eine Chance auf Überleben hat. Der Vater muss das Kind „in“ sich selbst eintauschen gegen das Kind, das „vor“ ihm steht.

In jeder Gesellschaft wird dieser Tausch durch besondere Institutionen überwacht. Die Gesellschaft ist das Dritte, das zwischen Vater und Kind tritt und die komplizierten Verhältnisse der „Filiation“ reguliert. Sie macht das in der Regel nicht durch Appelle an die Vernunft der Beteiligten, sondern über die Vermittlung durch Mythen oder Bilder, in denen die Selbstverständlichkeit und das Unbefragbare der Beziehung festgelegt wird. Es sind also seelische Prototypen oder Urbilder, in denen die Gesellschaft die Grundlagen des Generationenverhältnisses und damit eigentlich auch den Gründungsmythos der eigenen Gesellschaft festlegt.

An zwei Stellen kann dieses grundlegende Gesetz der Gesellschaft, das psychologisch als Gesetz der Filiation aufzufassen ist, in die Krise kommen oder scheitern: Zum einen kann der Vater sich weigern, für die Kinder der neuen Generation auf seinen Platz zu verzichten. Das ist der Fall des Hordenvaters, der an seine Kinder die Ansprüche eines Kindes und nicht diejenigen eines Vaters stellt. Er bleibt ein Kind-Vater, der an seine eigenen Kinder einen „unbedingten Kinder-Anspruch“ (Legendre, S. 73) stellt und ihnen damit jede Möglichkeit zur Individuation, d.h. zur Ausbildung eines eigenständigen Lebensentwurfs nimmt. Er ist der Vater, der die eigenen Kinder frisst.

Die zweite Variante besteht darin, dass das Urbild der Generationenbeziehung selbst in die Krise gerät und nicht mehr als unbefragbare „Referenz“ für das Tauschverhältnis zwischen den Generationen herangezogen werden kann. In diesem Fall lässt sich das Verhältnis zwischen Vater und Sohn für alle Mitglieder einer Gesellschaft nicht mehr „entschlingen“ (74). Die Gesellschaft weiß sozusagen nicht mehr, wer die Eltern und wer die Kinder sind: Die Kinder werden parentifiziert und die Eltern benehmen sich wie die Kinder.

(6) Die zweite Variante ist eigentlich eine psychologische Bestimmung dessen, was Todd, unter ausdrücklichem Bezug auf die Urbilder der Religion, als den „Nihilismus“ der westlichen Gesellschaften bezeichnet. Nihilismus bedeutet letztlich die Korrumpierung der menschlichen Gesellschaft und ihrer Institutionen. Eine Gesellschaft, der nichts mehr heilig ist, steht gleichsam außerhalb des Gesetzes. Sie kennt keine Regeln außer denjenigen des Augenblicks und kein Gesetz außer dem Wunsch nach unumschränkter Herrschaft.

Interessant ist aber, dass Nihilismus nicht Regellosigkeit bedeutet, sondern dass an die Stelle einer übergreifenden, allgemein anerkannten „Referenz“ der Einfluss unbewusster Besessenheiten tritt. Im Fall des Attentäters Lortie ist das der „Mord“ an der Regierung in Quebec, die das Gesicht des Vaters angenommen hat, also das Bild derjenigen Instanz, von dem die eigene, subjektive Vernichtung ausgeht, die der Gefreite mit dem Mord an den Mitgliedern der Regierung abzuwenden sucht. Das Attentat ist für Legendre ein „Trennungsakt“, die das bisher ungeteilte Verhältnis zwischen Vater und Sohn, das Verschlingende der Vater-Existenz ,zu revidieren versucht.

Legendre ist der Meinung, dass ähnliche Verhältnisse auch bei anderen Attentätern oder Geiselnehmern zu finden sind. Es handelt sich dabei nicht um zufällige Taten mit zufälligen Opfern, sondern immer um „das lebende Bild der verhassten Referenz“ (78). Es geht nach Legendre immer „um das Töten lebender Bilder“ (78): „Der Mörder tötet die lebenden Bilder der Referenz“ (79).

Der Fall, der in der französischen Serie vorgestellt wird, bildet die Überleitung vom Attentat zum Krieg. In beiden Fällen wird ja immer auch die Möglichkeit des eigenen Todes in Kauf genommen, beide Fälle sind eigentlich auch verkappte Selbstmordversuche. Das bedeutet, dass das eigentliche Problem des Attentäters mit der Frage zusammenhängt, ob Handeln überhaupt möglich ist: Wenn man stillhält, opfert man seine psychische und wenn man handelt, seine physische Existenz.

Dieses Dilemma ist nicht lösbar und geeignet, den Menschen in den Wahnsinn zu treiben. Es ist aber vielleicht auch ein Hinweis darauf, warum die Tat selbst keine Lösung für das Problem der Filiation darstellt, sondern im Gegenteil nur eine Lösung, die in eine endlose Serie von Mord und Totschlag münden muss. Erst die Verhaftung des Attentäters ist in der Lage, den Komplex zu beruhigen, weil die Tat sowohl des Vaters als auch die des Sohnes an das Gesetz der Gesellschaft gebunden werden. Es muss immer ein gesellschaftliches Drittes hinzukommen, damit das Verhältnis der Generationen sinnvoll begründet werden kann.

(7) Wir können nicht entscheiden, ob sich das politische Handeln einer Nuland oder eines Blinken mit den Erklärungsmodellen vereinbaren lässt, die Todd oder Legendre vorschlagen. Der Nihilismus der westlichen Gesellschaften und die Abwesenheit einer gesellschaftlichen Referenz, die das Verhältnis der Genrationen ausrichtet, wären jedoch mögliche Erklärungen für den Ausbruch des politischen Konflikts und den nicht enden wollenden Krieg in der Ukraine. Offiziell wird eine „wertebasierte Ordnung“ beschworen, die gegen einen gefährlichen Aggressor verteidigt werden soll. Die sogenannten westlichen „Werte“ sind in Wirklichkeit aber nur Chiffren für die unbewussten Besessenheiten, von denen die politischen Akteure gesteuert werden: Rache- und Strafbedürfnisse, Allmachtsphantasien und Verfolgungswahn.

Hinzu kommt, dass es im Krieg vor allem um das Töten geht, d.h. um die scheinbar einzige Möglichkeit, aus dem Gefühl der Ohnmacht und der Gefahr des Verschlungen-Werdens durch unbewusste Bilder auszubrechen. Der Krieg schafft Referenzen eigener Art, er ist angeblich der „Vater aller Dinge“, also eine steuernde Instanz, die noch vor der Ordnung der Gesellschaft existiert. Im Krieg geht es darum, ein Gesetz wiederherzustellen, indem dieses Gesetz gerade übertreten wird. Das ist dieselbe Lösung, wie sie Attentäter oder Geiselnehmer suchen.

Vielleicht wird der Krieg, der sich in der Ukraine abspielt, von einer Clique von Selbstmördern und Attentätern inszeniert. Der Soldat Ryan Routh ist kein Einzeltäter, sondern das Kind einer nihilistischen Gesellschaft, die jeden Kompass und jede Referenz verloren, sich damit aber auch um die Möglichkeit eines selbständigen Handelns gebracht hat. Der Krieg ist der gänzlich ungeeignete Versuch, den unbewussten Besessenheiten zu entkommen, in denen die Menschen in den westlichen Gesellschaften gefangen sind.

Legendre, Pierre (1989): Le crime du caporal Lortie. Traité sur le Père. Deutsch: Das Verbrechen des Gefreiten Lortie. Versuch über den Vater. Wien, Berlin (2011): Turia + Kant.

Todd, Emmanuel (2024): La défaite de l’Occident. Paris: Gallimard.

Bildnachweis: Ryan Wesley Routh after being arrested after being the suspect of Donald Trump’s second assassination attempt on September 15th, 2024. Quelle: Martin County Sheriff’s Office, Public domain, via Wikimedia Commons.

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