Traum der Vernunft – Über den Ursprung des Virus

Traum der Vernunft – Über den Ursprung des Virus

(1) Stammt das Virus aus dem Labor oder von den Kleintieren, die auf dem Markt in Wuhan verkauft werden? Das war eine Frage, die die Öffentlichkeit bereits am Anfang der Pandemie beschäftigt hatte und die jetzt, wo Corona offiziell zu den Akten gelegt werden soll, auf einmal wieder aufkocht. Am Ende wird alles wieder auf Anfang gestellt: als wären die Menschen in einer Zeitschleife gefangen, aus der es kein Entrinnen gibt.

Anders als vor drei Jahren ist es heute immerhin erlaubt, auch über die Labor-Hypothese zu sprechen. In den USA haben das FBI, das Energieministerium und die Regierung bestätigt, dass sie die Möglichkeit eines Laborunfalls nicht nur nicht ausschließen wollen, sondern sogar für wahrscheinlich halten. Nach dieser Lesart ist das Virus in einem chinesischen Labor hergestellt und entwickelt worden und entweder durch einen Unfall, durch Unachtsamkeit der Mitarbeiter oder sogar vorsätzlich nach außen getragen und auf diese Weise zum Auslöser einer verheerenden Seuche geworden.

Französische Forscher haben vor Kurzem versucht, die Labor-Hypothese anhand empirischer Daten zu verifizieren. Sie haben Abdrücke an Tierkäfigen untersucht, die auf dem Tiermarkt in Wuhan verwendet wurden und dabei herausgefunden, dass die Viren als Abkömmlinge menschlicher Varianten betrachtet werden müssten. Das schien nach ihrer Ansicht zu beweisen, dass das Virus nicht von Tieren stammen, sondern letztlich von Menschen in Umlauf gebracht worden sind.

Leider handelt es sich bei den Daten, die von den Franzosen verwendet wurden, nicht um wirkliche Proben, sondern nur um digitale Kopien von Abstrichen, die irgendwo in einer zentralen Datei aufbewahrt und von den Franzosen zufällig gefunden wurden – unter Millionen anderer digitaler Daten. Nachdem die Forscher ihre Theorie in einer Zeitschrift veröffentlicht hatten, wurden die Dateien gleich wieder aus dem Datensatz herausgenommen. Die Verantwortlichen hatten offenbar bemerkt, dass auch mit Forschern gelegentlich die Phantasie durchgehen kann – nicht selten ausgerechnet dann, wenn sie behaupten, sie würden sich auf exakte Befunde stützen.

(2) In der Öffentlichkeit scheint die Geschichte von einer Übertragung durch Haus- oder Wildtiere ohnehin am besten anzukommen. Die entsprechende Erzählung kennen die Menschen aus zahlreichen Büchern und Filmen, aber auch von der Entstehung der Pest und anderen Plagen aus der Geschichte der Menschheit. Irgendwo beißt ein Tier den Menschen und fortan leidet er wie ein Hund. Diejenigen, die dem Infizierten zu nahe kommen, leiden ebenfalls und am Ende ist ungefähr die Hälfte der Erdbevölkerung tot.

Die Übertragung durch Tiere wirkt auch deshalb plausibel, weil damit häufig enge Wohnverhältnisse, mangelnde Hygiene und fremde Lebensgewohnheiten assoziiert werden. Eine Infektion erfolgt bevorzugt durch etwas, was dem eigenen Organismus und dem eigenen Lebensstil fremd ist, was ihn überfordert und krank macht. Die Länder, die angeblich noch nicht zum Niveau der westlichen Zivilisationen aufgeschlossen haben, sind für viele Europäer deshalb von vornherein eine Brutstätte aller nur denkbaren Übel und Gefahren.

Auch China passt irgendwie in dieses einfache Weltbild. Zwar ist China inzwischen zu einer politischen und wirtschaftlichen Weltmacht aufgestiegen, das Land steht aber dringend im Verdacht, frühere Lebens- und Verhaltensformen noch nicht endgültig aufgegeben zu haben. Viele Manager gehen beispielsweise systematisch davon aus, dass hinter der glänzenden Fassade von Hochhäusern und Fabrikanlagen noch ganz andere Dinge geschehen, als offiziell erzählt wird. Für normale Menschen genügt die Vorstellung eines Tiermarktes, um Bilder von unappetitlichen und unhygienischen Lebensumständen heraufzubeschwören, denen man lieber nicht so genau nachgehen will.

In der Erzählung von der Übertragung durch Zoonose ist die chinesische Kultur eigentlich das Virus, das es zu bekämpfen gilt. Der sich selbst als aufgeklärt und rational wähnende Westen hat sich auf einen Deal mit einem Schwellenland eingelassen, aber dann hat sich die Geschichte irgendwie verselbständigt. Anstatt sich mit der zugewiesenen Rolle als „Werkbank“ des Westens zu begnügen, hat China sich zu einer Großmacht aufgeschwungen, die nur leider nicht durchgängig an die Segnungen durch Industrie und Technik glaubt. Der Tiermarkt in Wuhan ist die undichte Stelle, an der ein ungezähmtes Virus in die zivilisierte Welt des Westens entschlüpfen konnte.

(3) Die zweite Hälfte dieser Geschichte bezieht sich dann folgerichtig auf die Maßnahmen, mit denen der Westen das Durcheinander wieder aufräumt, das in China seinen Ausgang genommen hat. Wie sich das für ein effizientes Management gehört, wird hier erst einmal ziemlich viel technisches Equipment aufgefahren, das Know-How von Wissenschaftlern und Experten bemüht und bei jeder Gelegenheit auf Statistiken und Diagramme verwiesen. Den Sinn solcher Maßnahmen versteht niemand so richtig, aber trotzdem haben alle das Gefühl, dass sich die Situation schon irgendwie in den Griff nehmen lässt, wenn man sie nur sachlich und vernünftig angeht.

Und tatsächlich ändert sich durch den Eingriff westlicher Wissenschaften auch sofort die Erscheinung des Virus. Mit den unfreundlichen Keimen, die sich im Fell einer Fledermaus oder eines Marderhundes versteckt halten, will eigentlich niemand so richtig etwas zu tun haben. Die Modelle, die nach Aufnahmen unter dem Elektronenmikroskop angefertigt werden, sehen dagegen schon ziemlich ansehnlich aus. Es gibt kaum eine Gestalt, die regelmäßiger, geschlossener und kohärenter wirkt als die Kugelgestalt eines Corona-Modells. Das Virus, das uns tausendfach in Zeitschriften, im Fernsehen oder in den sozialen Medien präsentiert wurde, ist eine Form, die sozusagen keine Wünsche mehr offen lässt: perfekt durchgestylt, nach allen Seiten durchsichtig und komplett erklärbar. Nach der Bildbearbeitung durch die Wissenschaft sind alle Rätsel und Schatten, ist alles Dunkle und Unheimliche verschwunden. Das Virus ist berechenbar, vorhersagbar und verfügbar geworden. Es ist zwar weiterhin gefährlich, aber in einen Zustand gebracht worden, der den rationalen Maßstäben von Wissenschaft und Technik entspricht.

Genauso perfekt, glatt und überlegen wie das Virus präsentieren sich auch die dafür zuständigen Wissenschaftler. Ruhelos und ohne Unterlass befassen sie sich mit der Erforschung des Virus und präsentieren der Bevölkerung fortlaufend neuste Erkenntnisse über die Ausbreitung der Krankheit. Die Männer und Frauen, die vor die Presse treten oder in Talkshows sitzen, wirken souverän und eloquent, haben auf alle Fragen eine Antwort und wissen vor allem auch, was als nächstes zu tun ist. Sie sind keine abgehobenen Wissenschaftler, die in ihren Elfenbeinturm an dubiosen Experimenten tüfteln, sondern eher so etwas wie überlegene Wissenschafts-Manager. Sie kennen die Stelle, an der das Virus verwundbar ist und die Maßnahmen, mit denen seine Ausbreitung verhindert werden kann. Sie besprechen sich mit Politikern und Funktionären, entwickeln Schutzmaßnahmen für die Bevölkerung und lassen sich auch nicht durch gelegentliche Rückschläge oder Krisen beirren. Am Ende behalten sie nicht nur mit ihren Vorhersagen Recht, sondern sie haben auch das Wundermittel entdeckt, mit dem die Gefahr endgültig gebannt werden kann.

Zur ausgezeichneten Rolle von Wissenschaft und Technik gehört auch ihr Einfluss auf den Zusammenhalt und die Moral der Gesellschaft. Auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse finden die Menschen zusammen, begraben Streit und Zwistigkeiten und bündeln ihre Kräfte im Kampf gegen das Virus. Die Botschaft der Wissenschaft ist absolut überzeugend. Sie veranlasst die Menschen, auf alte Gewohnheiten zu verzichten und nach Ersatzformen beispielsweise für Büroarbeit oder Schulunterricht zu suchen und langwierige Diskussionen um alternative Handlungsmodelle einzustellen. Auf einmal wissen alle, was zu tun ist. Die Gesellschaft wird nicht nur in völliger Übereinstimmung mit den Erkenntnissen der Wissenschaft regiert, sondern sie hat sich auch selbst auf ein neues Niveau der Rationalität gehoben. Sie ist sozusagen geläutert aus der Krise hervorgegangen und hat die letzten Reste von Irrationalität abgestreift. Mit der Einnahme des Wundermittels haben sie zugleich eine Ausrüstung erhalten, die sie bis in alle Ewigkeit vor einem Rückfall in irrationale Zeiten schützen wird.

(4) In der zweiten Fassung wird die Geschichte vom Ausbruch des Virus ganz anders erzählt. Hier sind es nicht die ungezähmten Tiere, die den Beginn der Beinahe-Katastrophe markieren, sondern es sind die Wissenschaften selbst, die mit ihren Forschungen zu weit gegangen sind und dabei Kräfte entfaltet haben, die sie nicht mehr kontrollieren können. Das Virus stammt hier nicht von einer fremden Spezies, sondern es ist aus einem Labor entwichen, in dem verbotene oder moralisch zweifelhafte Experimente angestellt wurden, die sich irgendwann verselbständigt haben. Die Wissenschaften haben eine Grenze überschritten, die sie nicht überschreiten durften. Sie haben selbst die Tür geöffnet, durch die das Virus entweichen und zu einer bisher nie gekannten Gefahr für die gesamte Menschheit werden konnte.

Im Zentrum dieser zweiten Erzählung steht jetzt nicht mehr der Wissenschaftler, der selbstlos und unermüdlich um das Wohl der Menschheit besorgt ist, sondern der abgehobene und von seiner Arbeit besessene Forscher, der sich nicht um moralische oder ethische Grenzen seiner Experimente kümmert. Seine Arbeiten dienen nicht in erster Linie dazu, Medikamente oder Impfstoffe zu entwickeln, mit deren Hilfe gefährliche Viren abgewehrt werden können, sondern diese Experimente sind sind im Gegenteil darauf angelegt, die genetische Struktur von Viren so zu manipulieren, dass ihre Infektiosität gesteigert oder die Übertragbarkeit auf den Menschen überhaupt erst ermöglicht wird. Der Forscher dringt in das Erbgut und damit in die Grundlagen der Schöpfung ein. Er begnügt sich nicht mit der Erkenntnis dessen, was ist, sondern wird selbst zum Schöpfer der Wirklichkeit, die er nach eigenen Vorstellungen beliebig verändert oder neu erfindet. Es hat sich von einem distanzierten und kühl berechnenden Intellektuellen in einen Wissenschaftler verwandelt, der Katastrophen von nie gekanntem Ausmaß heraufbeschwören könnte.

Anders als in der ersten Version der Geschichte ist die Gesellschaft mit ihren Institutionen weder an der Arbeit der Wissenschaftler beteiligt noch in ausreichender Weise darüber informiert. Diese Arbeit wird vielmehr von dubiosen Geldgebern und Sponsoren gesteuert, deren Absichten und Ziele im Dunkel bleiben. Während das Handeln der Wissenschaftler in der ersten Version mit dem Versprechen absoluter Klarheit, Transparenz und Eindeutigkeit verbunden ist, geschieht in der zweiten Fassung das meiste hinter verschlossenen Türen und unter dem Siegel absoluter Geheimhaltung. Die Wissenschaft ist in ein Geflecht aus schwer zu durchschauenden Abhängigkeiten hineingeraten und hat sich der legitimen Kontrolle durch Staat und Gesellschaft entzogen. Sie dient nicht mehr der Aufklärung und Erhellung der Wirklichkeit, sondern sie hat sich den Mächten der Finsternis verschrieben.

Entsprechend führen ihre Forschungen am Ende auch nicht mehr der Abwehr von Gefahren, dem Wohlergehen der Menschen oder dem unaufhaltsamen Fortschritt der Gesellschaft. Die Wissenschaft ist nichts mehr, was eine tragfähige Zukunftsperspektive versprechen könnte, sondern im Gegenteil etwas, was diese Zukunft zerstören oder endgültig auslöschen würde. Ein Virus, das im Labor so zugerichtet wird, dass es die in der Natur vorkommenden Varianten um ein Vielfaches an Gefährlichkeit übertrifft, ist in Wirklichkeit eine Bio-Waffe. In ihrer Wirkung würde diese Waffe den tödlichen Risiken einer Atombombe ähneln. Sie wäre ein Fluch, der zu jedem Zeitpunkt das Ende der Menschheit bedeuten könnte.

(5) Welche der beiden Erzählungen die wirklichen Umstände kennzeichnen, die für den Ursprung des Virus verantwortlich zu machen sind, lässt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht entscheiden. Zum einen wird es wohl dauerhaft unmöglich sein, exakte Beweise für ein so flüchtiges Ereignis wie das erstmalige Auftreten eines Virus zu erbringen. Zum anderen dürfte es unter den derzeit Verantwortlichen aus Wissenschaft und Politik aber auch nicht unbedingt ein lebhaftes Interesse dafür geben, eindeutige Beweise für die Labor-Hypothese zur Verfügung zu stellen. Immerhin würde damit die reale Möglichkeit im Raum stehen, dass Staaten die Errungenschaften von Wissenschaft und Technik auch gegen das eigene Volk einsetzen könnten. Die Geschichte vom Ursprung durch Zoonose würde demgegenüber den Verdacht von den Regierenden und ihren willfährigen Helfern ablenken und sie in ihrer Rolle als selbstlose Förderer und Erretter des Menschengeschlechts bestätigen.

Unabhängig von der Frage nach der Wahrheit über den Ursprung des Virus kann man allerdings festhalten, dass weder die eine noch die andere Version der Erzählung lediglich fiktiv ist. Beide Versionen enthalten vielmehr bestimmte Wahrheiten über den Zustand vor allem der Naturwissenschaften, die sich nicht abstreiten lassen. So existieren im Bereich der Genetik tatsächlich staatenübergreifende Forschungsverbünde, die nachweislich enge Verbindungen zur Pharmaindustrie oder zum Pentagon aufweisen, die mit erheblichen finanziellen Mitteln unterstützt werden und deren wissenschaftliche Arbeit auf eine gezielte Manipulation von Viren hinausläuft, die inzwischen unter dem Namen „gain-of-function-Forschung“ bekannt geworden ist.

Auf der anderen Seite hat aber auch die Erzählung von der Zoonose Realitäten geschaffen, die sich nicht leugnen lassen. Im Rahmen dieser Erzählung sind Medizin und Technik nicht lediglich als fiktive Retter der Menschheit beschworen, sondern gleichzeitig in politische Funktionen eingesetzt worden, mit deren Hilfe massenhaft Testungen und Impfungen durchgeführt, Abstands- und Hygieneregeln erlassen oder die Vorschriften zum Besuch öffentlicher Räume, von Kirchen, Krankenhäusern oder Schulen neu festgesetzt wurden. Unter dem Einfluss der Medizin ist die gesamte Gesellschaft in eine Realität verwandelt worden, die in groben Zügen derjenigen Realität entspricht, wie sie in einem naturwissenschaftlichen Labor vorgefunden werden kann: mit Anordnungen zur Aufteilungen und Isolierung der Individuen, mit Kleidungs- und Hygieneregeln, mit Test- und Impfzwängen, die aus dem medizinischen Labor in den Bereich der Gesellschaft exportiert wurden.

Es ist also auch in der ersten Version der Erzählung etwas „übertragen“ worden: nicht unbedingt ein Virus, das irgendwann von einem verantwortungslosen Wissenschaftler freigesetzt wurde, aber immerhin das Denken und die Arbeitsweise der Naturwissenschaften, ihre Sauberkeits- und Reinheitsideale, ihre Methode des Trennens und Isolierens, ihre Abschottung gegenüber allem, was sich nicht in Zahlen und Tabellen ausdrücken lässt. Wenn man genauer hinsieht, dann ist dieser „Ausbruch“ medizinischer Forschung aus dem Labor vielleicht sogar noch umfassender und weitreichender als der Ausbruch eines isolierten Virus, denn er betrifft nicht nur den Organismus des einzelnen Menschen, sondern die gesamte Gesellschaft und die mit ihr verbundenen Institutionen. Die Gesellschaft ist sozusagen in ein Labor von universalen Ausmaßen verwandelt worden. Das begrenzte Arrangement der medizinischen oder virologischen Forschung ist zu einer Weltordnung geworden.

Daher sind auch die verderblichen und menschenfeindlichen Konsequenzen, die eigentlich erst in der Labor-Hypothese genauer beschrieben werden, bereits in der ersten Fassung mit enthalten. Die Lockdowns und Abriegelungen ganzer Städte, die Abstandsregeln und das social distancing lassen sich ja ebenso als Manipulationen menschlicher Lebensweisen verstehen wie die im Labor praktizierte gentechnische Manipulation lebendiger Organismen. Durch die Hygiene-Diktatur sind soziale Einheiten und Beziehungen in ähnlicher Weise aufgetrennt und neu zusammengesetzt worden wie Chromosomenstränge und Gensequenzen in den Laboratorien der Virologen. Familienmitglieder, Schüler und Lehrer, Mitarbeiter in Betrieben und Unternehmen sind voneinander separiert und anschließend in einer Weise neu kombiniert worden, die mit der ursprünglichen Struktur der jeweiligen Institutionen nichts mehr tun haben. Das Corona-Regime war die Anwendung von Rekombinationstechnologie am lebendigen Sozial-Körper. Es war ein riesiges Sozialexperiment, das die Gesellschaft traumatisiert und in einer Weise geschädigt hat, wie es ein einfaches Virus vielleicht niemals hätte zustande bringen können.

(6) Wie schon angedeutet wurde, besitzt aber auch die Labor-Hypothese eine gewisse Plausibilität, solange man sie nicht nur mit der Frage nach dem Ursprung des Virus zusammenbringt, sondern als Beschreibung einer wissenschaftlichen Praktik versteht. Immerhin existiert die Forschung an genetischem Material ja nicht erst seit der Entdeckung des Corona-Virus, sondern seitdem es die Lehre von der Vererbung gibt. Experimentelle Arbeiten an der Erbsubstanz sind zwar erst mit der Entwicklung der dazu erforderlichen technischen und vor allem auch digitalen Verfahren möglich geworden, aber keineswegs auf die Arbeit mit Viren beschränkt. Die Verwendung von Rekombinationstechnologien gehört vielmehr zum Standardinventar der Genetik und umfasst in allen Bereichen Verfahren zur Zerlegung und Neukombination von Gensequenzen sowie die Erzeugung neuer genetischer Merkmalskombinationen.

Die Virologie scheint dabei den Vorteil auszunutzen, dass Viren über relativ einfach gebaute Zellmechanismen verfügen und sich daher auch leichter manipulieren lassen als tierische oder pflanzliche Zellstrukturen. Entsprechend finden sich hier auch die bereits genannten Experimente zur sogenannten gain-of-function-Forschung, bei der Zellrezeptoren so verändert werden, dass den Viren Zugang zum menschlichen Organismus ermöglicht wird und damit auch bestehende Schranken des menschlichen Immunsystems außer Kraft gesetzt werden können. Auch die Erschaffung sogenannter „Chimären“ , bei der genetisches Material aus unterschiedlichen Organismen entnommen, neu kombiniert und für die Züchtung neuartiger Virenstämme mit erhöhter Infektiosität oder Letalität verwendet wird, ist Gegenstand virologischer Labor-Forschung.

Wenn man die Sache neutral beschreibt, dann macht die Genetik hier im Grunde nichts anderes als das, was an anderen Stellen als Bio-Engineering bezeichnet wird. Sie versucht, lebendige Prozesse mit ihren Mitteln nachzubauen und gleichzeitig das, was sie mit Hilfe naturwissenschaftlicher Verfahren rekonstruiert hat, wieder auf den Organismus anzuwenden. Die hybriden Gensequenzen, die Chimären aus dem Labor der Virologen oder die artifiziellen Bio-Rezeptoren sind sozusagen eine moderne Form der Prothetik: die Einfügung technisch erzeugter Vorrichtungen in den lebendigen Organismus sowie die Adaptation des Organismus an solche Vorrichtungen.

Aus wissenschaftslogischer Perspektive betrachtet, ist das aber auch die Stelle, an der wissenschaftliche Theorien und Modelle eine besondere Form von Wirklichkeit beanspruchen: nämlich eine Form, die nicht mehr nur auf Nachbau und Rekonstruktion einer vorgegebenen Wirklichkeit beschränkt ist, sondern selbst „wirklich“ werden will, indem sie sich als Fortsetzung oder Verlängerung eines organischen Materials präsentiert. Das Bio-Engineering ist die Stelle, an der die Konstruktionen der Wissenschaft und die Konstruktionen der Natur ineinander übergehen. Es ist die Stelle, an der die wissenschaftlichen Modelle die organische Wirklichkeit ersetzen und zu Organen werden, während das organische Material sich in Mechanik oder Naturwissenschaft verwandelt, so dass am Ende nicht mehr zu unterscheiden ist, ob es sich bei den in Frage stehenden Gegenständen um künstliche Naturen oder um natürliche Apparate handelt. Die Wissenschaft hat hier tatsächlich ein Geschöpf in die Welt gesetzt, das einen Anspruch auf eigenes Leben vertreten kann.

Das Besondere im Fall der Virologie ist dabei die Arbeit an der Zelle, die im Rahmen von Biologie und Medizin einerseits als erster und ursprünglicher Baustein des Lebens angesehen wird, im Rahmen des naturwissenschaftlichen Paradigmas andererseits aber inzwischen so fein zerlegt wurde, dass die einzelnen Bestandteile im Grunde keinen Anspruch auf Lebensfähigkeit besitzen: Die Doppel-Helix der Chromosomen ist ein für die wissenschaftliche Anschauung nützliches Modell, es hat aber mit der materiellen Substanz einer Zelle genauso wenig Ähnlichkeit wie eine Stahlkonstruktion mit dem Aufbau des menschlichen Knochens, in den diese Konstruktion dennoch gelegentlich eingebaut wird, um Gelenke oder fehlende Knochenstücke zu ersetzen. Eine Verbindung oder Gemeinsamkeit ergibt sich hier erst durch die oben beschriebenen Produktionen des Bio-Engineerings, also durch die aktive Herstellung einer Ähnlichkeit, bei der künstliche Produkte als Eigenschaften natürlicher Organismen oder als Bestandteile einer lebendigen Substanz ausgegeben werden.

Wie die Prothesentechnik der Medizin wäre die sogenannte gain-of-function-Forschung dann auch nicht lediglich ein Beweis dafür, dass die naturwissenschaftliche Erklärungen der Zelle, wie sie beispielsweise im Modell der Doppel-Helix festgelegt wird, theoretische Gültigkeit beanspruchen können, sondern ein Beweis auch dafür, dass diese Erklärungen insofern Wirklichkeit beanspruchen können, als sie einen realen Nach- oder sogar Neubau der organischen Zelle ermöglichen. „Gain of function“ würde in diesem Kontext bedeuten, dass die wissenschaftlichen Modelle den „Anspruch auf Funktion“ in einer lebensfähigen Zelle gewonnen haben, dass sie also nicht nur Ähnlichkeit mit einer lebendigen Substanz besitzen, sondern eine solche Substanz auch in Wirklichkeit geworden sind. Das wissenschaftliche Modell wäre sozusagen zu einer eigenständigen Realität geworden. Es wäre eine lebendige Zelle geworden, die sich ebenso bewegen kann wie andere Zellen, die sich vermischen kann mit anderen Zellen und die dabei sogar neue Formen lebendiger Zellen hervorbringen kann, wie dies sonst nur auf dem Weg der natürlichen Evolution geschehen kann.

Der Ausbruch aus dem Labor in Wuhan wäre unter dieser Voraussetzung letztlich auch gar kein Unfall, sondern im Gegenteil ein ungeheurer wissenschaftlicher Erfolg. Er würde nämlich beweisen, dass Biologie und Medizin erreicht hätten, was Wissenschaftler seit Jahrhunderten immer wieder versucht haben: nicht nur aus abstrakten Modellen eine lebendige Wirklichkeit zu erschaffen, sondern mit der menschlichen Zelle auch den Ursprung oder Anfang des Lebens überhaupt zu erzeugen. Die Wissenschaft hätte die Leistung eines göttlichen Schöpfers wiederholt, der unbelebtes Material zum Leben erweckt hätte. Sie wäre selbst zum Schöpfer einer lebendigen Materie geworden.

(7) Wenn man die beiden Erzählungen vom Ursprung des Virus als Darstellung spezifischer Aspekte des wissenschaftlichen Denkens versteht, dann zeigt sich, dass die beiden Versionen eigentlich zusammengehören. Die erste Geschichte, die sich auf den Ursprung durch Zoonose stützt, ihren eigentlichen Zweck aber darin findet, den heroischen und gesellschaftlich relevanten Auftritt der Naturwissenschaften zu erweisen, bezieht sich auf die methodische Seite wissenschaftlicher Theoriebildung. Sie illustriert in sehr anschaulicher Form die Labor- und Experimentalsituation der Naturwissenschaften: mit ihren methodischen Prozeduren des Zerlegens und Zerschneidens komplexer Lebensprozesse, mit der Zubereitung lebendigen Materials durch das Anlegen künstlicher Präparate, mit der Reduktion vielfältiger Lebensäußerungen auf einige wenige Elemente, Bausteine oder „Zellen“.

Demgegenüber dreht sich die zweite Erzählung, die ihren Ausgang in der Hypothese eines Laborunfalls nimmt, um die Vorgänge der wissenschaftlichen Theorie- und Modellbildung. Sie beschreibt diese Vorgänge als den fiktiven Versuch, eine Auffassung der Wirklichkeit zu entwickeln, die komplett nach den Regeln und Gesetzen der Wissenschaft funktioniert und zugleich Anspruch auf Aussagen über die „wahren“ Gesetze der wirklichen Welt besitzt. Die Labor-Hypothese ist eine Darstellung wissenschaftlicher Theoriebildung in Erzählform. Sie expliziert die konstruktiven oder besser: die konstruierenden Züge einer solchen Theoriebildung, während die Erzählung von der Zoonose deren methodische Implikationen darstellt.

Das Gemeinsame der beiden Erzählungen besteht darin, dass sie Theorie und Praxis der wissenschaftlichen Arbeit jeweils in ihren extremen Ausprägungen beschreiben. Tatsächlich sind beide Aspekte im Rahmen wissenschaftlicher Gegenstandsbildung jedoch eng miteinander verflochten (vgl. Salber 1959). Es gibt keine Theorie, die nicht durch Bezugnahme auf die Wirklichkeit der Erfahrung zustande kommen würde, umgekehrt aber auch keine Methode, die nicht durch Modellvorstellungen angeleitet wäre. Wissenschaftliches Arbeiten bewegt sich immer zwischen diesen beiden Seiten. Weil ihr wechselseitiger Austausch grundsätzlich nicht an ein festes Ende gelangen kann, konstituiert sich Wissenschaft als tendenziell unendlicher Prozess des Festlegens und Korrigierens modellhafter Entwürfe (Dellen 1972). Der Fortschritt in den Wissenschaften beruht gerade nicht auf der Entdeckung einer endgültigen Wahrheit, sondern in der fortgesetzten Suche nach einer solchen Wahrheit, d.h. gleichzeitig im Entwurf wissenschaftlicher Modelle und in der Änderung oder Revision solcher Entwürfe.

In den beiden Erzählungen vom Ursprung des Virus werden demgegenüber Zustände beschrieben, in denen der sich gegenseitig auslegende Prozess des wissenschaftlichen Arbeitens und damit auch die Wissenshaft selbst an ein mehr oder weniger fixes Ende gekommen ist. Es werden jeweils ideale oder utopische Formen der Theoriebildung dargestellt, in denen sich Theorie und Methode verselbständigt und voneinander abgekoppelt haben: in der Erzählung von der Zoonose als Laborsituation, die zu einer umfassenden Sozialtechnologie werden will, ohne dabei durch wissenschaftliche Theorien und Konzepte überprüft oder kontrolliert zu werden; in der Labor-Hypothese als Modellbildung, die „wirklich“ werden will, ohne dabei Rücksicht auf immanente methodische Kontrollen oder Standards zu nehmen.

In beiden Fällen unterliegt die Wissenschaft nicht mehr den Austausch- und Kontrollprozessen, die für das wissenschaftliche Arbeiten essentiell sind. Was gesagt und getan wird, kann nicht mehr im Kontext des wissenschaftlichen Fragens und Denkens überprüft werden, sondern folgt Ansprüchen und Grundsätzen, die aus ganz anderen Zusammenhängen stammen. Im ersten Fall ist die Wissenschaft zu einer Sozialtechnologie geworden, die von der Idee eines besseren oder „glücklicheren“ gesellschaftlichen Zustandes angeleitet wird, während im zweiten Fall die Idee der Gegenstands-Bildung offenbar wörtlich genommen wird und wissenschaftliche Theorien wie wirkliche Lebewesen in die Welt gesetzt werden sollen.

Obwohl in beiden Fällen der Charakter von Wissenschaftlichkeit behauptet wird, haben sich die beschriebenen Formen aus dem Zusammenhang des wissenschaftlichen Denkens herausgelöst. Sie haben Welten geschaffen, die ihren Ursprung aus dem Kontext von Wissenschaft verlassen haben und letztlich als wissenschaftsfeindlich betrachtet werden müssen: weil die Konstruktionen, von denen sie getragen werden, nicht mehr verändert werden können; weil die Korrekturprozesse wissenschaftlicher Forschung verhindert werden; weil das experimentelle Arrangement sich zu einer universalen Weltordnung verkehrt hat; weil die Alltagsrealität zum Verschwinden gebracht wurde (Holzkamp 1964, zitiert nach Dellen 1972: 26).

(8) Die beiden Erzählungen vom Ursprung des Virus lassen sich in dieser Auslegung nicht nur als fiktive Darstellungen vom Zustand der Naturwissenschaften betrachten, sondern als durchaus plausible Abbildungen wissenschaftlicher Realitäten, die ihre von T. Kuhn (1962) so bezeichnete „normale“ Phase verlassen und in einen Zustand der Desorganisation und des Zerfalls getreten ist. Ähnlich wie die Gesellschaft im Ganzen ist auch die Wissenschaft allem Anschein nicht mehr in der Lage, ein zusammenhängendes und kohärentes Bild ihrer eigenen Wirklichkeit herzustellen. Statt dessen haben sich einzelne Teilprozesse verselbständigt und damit begonnen, ohne Rücksicht auf einen übergeordneten Maßstab separate Teilinteressen zu verfolgen. Anstatt nach der Wahrheit zu suchen, behaupten die Wissenschaften, sie hätten diese bereits gefunden und könnten sie auch zu einer Wahrheit machen, denen die Menschheit folgen soll. Sie haben sich zu Rettern und Erlösern einer in die Krise geratenen Gesellschaft stilisiert und versuchen zugleich zu verbergen, aus welchen zwielichtigen Quellen sich ihre Erkenntnisse speisen. Sie tun so, als hätten sie endlich die letzten Geheimnisse der Schöpfung entschlüsselt, während sie diese Schöpfung in Wirklichkeit mit riesigen Instrumenten und Apparaten manipulieren, um auch nur ein winziges Detail dieser Schöpfung ans Licht zerren zu können.

Es ist interessant, dass in beiden Erzählungen nicht nur auf den prekären Zustand der Wissenschaften hingewiesen, sondern auch auf die weitreichenden Risiken eines solchen Zustandes aufmerksam gemacht wird. In beiden Fällen wird nämlich angedeutet, dass die Verselbständigung der einzelnen Teilprozesse dazu führen kann, dass sich die Wissenschaft letztlich gegen die Interessen des Menschen und der Gesellschaft wendet. In der ersten Erzählung wird zwar die Erlösung der Menschheit von einem todbringenden Virus versprochen, zugleich aber erkennbar, das sich das verheißene Glück der Menschen in massenhaftes Unglück verwandelt, indem tendenziell alle Formen menschlicher Gemeinschaft oder Beziehung ausgelöscht werden (vgl. Dellen a.a.O.). Im zweiten Fall verselbständigt sich demgegenüber das Ergebnis der wissenschaftlichen Forschung und bildet ein Eigenleben, das von den Wissenschaftlern nicht mehr kontrolliert werden kann. Das Virus läuft seinen Schöpfern davon und mutiert zu einem halt- und bindungslosen Wesen, das zerstörerische Kräfte vom Rang einer Atombombe entfaltet.

Die Warnung vor den zerstörerischen Gefahren einer grenzüberschreitenden und gleichsam entfesselten Wissenschaft ist der strukturelle Kern der beiden Erzählungen. Allerdings ist weder die Erzählung von den Entgleisungsmöglichkeiten des wissenschaftlichen Denkens noch die Warnung vor den dramatischen Folgen einer solchen Entgleisung unbedingt neu, sondern wahrscheinlich so alt wie die Wissenschaft selbst. Die Wissenschaft ist grundsätzlich bedroht durch etwas, was in ihrem „genetischen“ Bauplan enthalten ist und was einerseits zum Wohle der Menschheit, andererseits aber auch zu ihrer Auslöschung und Vernichtung genutzt werden kann. Sie steht sozusagen zwischen der Möglichkeit, zum Aufklärer und Heilsbringer zu werden und der Gefahr, einen Pakt mit den Mächten der Finsternis zu schließen.

In der Neuzeit ist dieses Verhältnis vor allem im Zusammenhang mit dem Faust-Mythos und der Frankenstein-Erzählung bearbeitet worden. Auch die Science-Fiction-Filme, die davon handeln, wie sich die Menschheit gegen das Auftreten gefährlicher, durch Atom- oder Strahlenunfälle hervorgebrachte Monster zur Wehr setzt, lassen sich als Abwandlungen dieses Themas betrachten (vgl. Sontag 1965). Sie zeigen den Wissenschaftler als jemanden, der die Grenzen der menschlichen Gemeinschaft überschreitet und dabei die Macht von Ungeheuern entfesselt, die anschließend durch den Einsatz einer „guten“ Wissenschaft wieder gebannt werden muss.

Im Rahmen der bildenden Kunst hat F. Goya darauf aufmerksam gemacht, dass solche Monster nicht durch äußere Mächte oder einzelne, durchgedrehte Wissenschaftler freigesetzt werden. Es ist vielmehr die Wissenschaft selbst, die die Monster hervorbringt. Der „Traum der Vernunft“ besteht darin, eine Wirklichkeit zu ordnen, die sich eigentlich in jedem Augenblick einer solchen Ordnung entzieht (Salber 1993: 123). Durch die Arbeit der Wissenschaften kann sich dieser Traum aber so verkehren, dass er unheimliche und bedrohliche Monster erzeugt: El sueño de la razón produce monstruos. Merkwürdigerweise sehen diese Ungeheuer bei Goya ungefähr so aus wie die Tiere, mit denen in Wuhan experimentiert wurde, die man offenbar auch auf dem dortigen Tiermarkt finden kann und die zuletzt auch von dem deutschen Chef-Virologen C. Drosten als Ursprung der Seuche vermutet wurden: Es sind Fledermäuse, Eulen und hunde-artige Mischwesen.

 

Dellen, Rolf (1972): Wissenschaftliche Psychologie und Glücklichere Welten. In: Wilhelm Salber (Hg.): Perspektiven Morphologischer Psychologie, Band II. Ratingen u.a.: Henn, S. 15-28.

Holzkamp, Klaus (1964): Theorie und Experiment in der Psychologie. Eine grundlagenkritische Untersuchung. Berlin: de Gruyter.

Kuhn, Thomas S. (1962): The Structure of Scientific Revolutions. Deutsch: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt/ Main (1967): Suhrkamp.

Salber, Wilhelm (1959): Der psychische Gegenstand. Untersuchungen zur Frage des psychologischen Erfassens und Klassifizierens. Bonn: Bouvier.

Salber, Wilhelm (1993). Seelenrevolution. Komische Geschichte des Seelischen und der Psychologie. Bonn: Bouvier.

Sontag, Susan (1965): The Imagination of Disaster. Deutsch: Die Katastrophenphantasie. In: Kunst und Antikunst. Frankfurt/ Main (1982): Fischer.