Stille Ostern: Über den ewigen Karfreitag
Von Michael Ley & Carl Vierboom
(1) Die Regierung verspricht ihrem Volk einen zusätzlichen Feiertag, aber das Volk will ihn nicht. Das Volk murrt und will lieber einkaufen. Die Regierung gerät unter Druck und für einen kurzen Augenblick steht ihr vorzeitiges Ende im Raum. Wie konnte das nur passieren?
Vielleicht liegt es an den Worten, die von der Regierung gewählt wurden. Osterruhe, das klingt so gar nicht nach Frühling und Aufbruch. Das klingt eher nach Ruhezeiten, die von den LKW-Fahrern eingehalten werden müssen, nach Ausbremsen und Stilllegung. Das klingt nach Müttern und Vätern, die ihre Kinder nach dem Mittagessen ermahnen, endlich einmal Ruhe zu geben und nicht länger zu quengeln.
Vielleicht klingt Osterruhe auch ein wenig nach DDR. Nach Verstaatlichung der ehemals christlichen Feiertage, nach Langeweile und Spießigkeit. Nicht zuletzt auch nach Eingesperrt-Sein und fehlender Bewegungsfreiheit. Die Osterruhe, eine tolle Idee aus der Abteilung für staatliche Propaganda.
(2) Im Angesicht der Corona-Krise bekommt die Rede von der Osterruhe allerdings noch einen anderen Beigeschmack. Als vor einem Jahr der erste Lockdown verkündet wurde, wurde die Zwangspause von überraschend vielen Menschen als erweiterte Urlaubs- und Ferienzeit begrüßt. Die Kinder hatten zwei Wochen länger Ferien, die Paare konnten morgens im Bett bleiben und miteinander kuscheln und an den Wochenenden entfiel der Druck, etwas Spannendes unternehmen zu müssen.
Gleichzeitig war klar, dass dieser wundersame Zustand nicht ewig dauern konnte und die Menschen irgendwann in Schulen und Betriebe zurückkehren mussten. Dieser Zeitpunkt kam, aber das alte Leben kehrte trotzdem nicht zurück. Viele Angestellte fuhren jetzt nur noch zweimal in der Woche ins Büro und verbrachten den Rest der Woche im Homeoffice. In Supermärkten und Einkaufszentren wurden die Besucher durch Abstandshalter, Richtungszeichen, Flatterbänder und Einlasskontrollen ausgebremst. Nach und nach wurden alle Alltagstätigkeiten mit einem Ausrufezeichen versehen.
Ein Jahr später ist von unserem früheren Leben nur noch ein halber Alltag übriggeblieben. So wie das Gesicht durch die Maske halbiert wird, die wir bei jedem Schritt in die Öffentlichkeit anlegen müssen, so ist auch unser altes Leben zu großen Teilen unsichtbar geworden. Fußballspiele finden nur noch unter Ausschluss der Öffentlichkeit in leeren Stadien statt und klingen im Fernsehen so, als würde die E-Jugend in der Halle trainieren. Die Schulen über viele Monate und die Hochschulen seit mehr als einem Jahr: geschlossen. Restaurants, Museen, Theater, Kinos: geschlossen. Hochzeiten, Beerdigungen, private Feiern im großen Kreis: Fehlanzeige. Urlaubsreisen: verboten. Staatsgrenzen: geschlossen.
(3) Die vielen Schließungen und Verbote kommen den Zuständen in der DDR tatsächlich schon recht nahe. So richtig Spaß macht das Leben eigentlich nicht mehr. Man hat das Gefühl, die Menschen wären alle nur noch mit angezogener Handbremse unterwegs. Überall dieser schlurfende, träge Gang; überall dieses fortgesetzte Jammern und Stöhnen und Beteuern, dass die Gesundheit das Wichtigste im Leben wäre; nirgendwo eine echte Initiative oder eine Idee, die begeistern könnte.
Und zu allem Überfluss an jedem Morgen die neueste Statistik mit Infektions- und Todeszahlen, die Verlautbarungen der Ärzte und Mediziner, die guten Ratschläge, wie man sich schützen oder was man bei Ansteckung tun sollte, die nicht enden wollenden Diskussionen um die Zahl der Intensivbetten, um Testverfahren und Impfstoffe.
Man könne fast meinen, die Republik hätte sich in ein riesiges Sanatorium verwandelt. Ein Land, das sich einem Zustand endloser Langeweile ergeben hat, einem Dahindämmern mit minimaler Aufregung. Als wäre der Ruhetag, den die Kanzlerin verordnet hatte, schon längst eingetreten und in eine ewige Ruhe verwandelt worden.
(4) Wie kommt es, dass die Menschen sich einen solchen Zustand gefallen lassen? Was hat dazu geführt, dass sich eine ganze Nation regelrecht gehen lässt und nicht mehr richtig auf die Beine kommt? Wo sind die Wissenschaftler und Intellektuellen, die sich über diesen bedenklichen Zustand Gedanken machen? Warum wehren sich die jungen Menschen nicht, von denen man doch annehmen könnte, dass sie ins Leben hinaus wollen? Haben die Deutschen die Solidarität mit den Alten vielleicht etwas zu wörtlich genommen?
Wenn wir ehrlich sind, dann hat die nationale Schlafmützigkeit nicht erst mit Corona begonnen. Das Eindämmen, Beschwichtigen und Beruhigen beherrscht das Land schon seit Jahren. Die Vorliebe für gedämpfte und ausgeglichene Stimmungen, das Vermeiden von Konflikten und Auseinandersetzungen, das Herumlavieren um entschiedene Standpunkte. Es sind nicht allein die Studenten, die etwas von Prokrastination verstehen. Es gibt einen Entwicklungsstau, der sich schon vor Corona zu einer echten Kulturkrise ausgewachsen hatte.
Die Symptome diese Krise lassen sich an den offiziellen und inoffiziellen Verboten ablesen, die in den vergangenen Jahren erlassen wurden und die auch schon vor Corona sämtliche Bereiche des Alltags erfasst haben. Sie betreffen das Rauchen, das Fleisch-Essen, das Trinken, das Reden und An-Sprechen, das Fluchen, Spucken und Flirten. Die Digitalisierung hat unsere Kommunikation nicht nur erleichtert, sondern auch auf Abstand gebracht. Filme und Musik sieht und hört man heute nicht mehr in voller Breite, sondern in reduzierten Streaming-Verfassungen: alleine, mit Stöpseln im Ohr.
Hinzu kommen schlimme Fälle von Korruption und Bereicherung, über die man sich eigentlich aufregen und streiten müsste, die aber in schlecht vorbereiteten und missmutig moderierten Talkshows ins Nichts aufgelöst werden. Überall, wo etwas losgehen und sich entwickeln könnte, wird ausgeglichen, gedämpft und beschwichtigt: bis am Ende alle Widersprüche beseitigt, alle Standpunkte integriert und politisch korrekt geglättet sind.
Nur leider ist dabei auch alle Lebendigkeit auf der Strecke geblieben. Wenn alles Scharfe, Eckige, und Zweideutige entfernt ist, dann wird das Leben laff und langweilig. Am Ende sitzen die Menschen als Untote im Kur-Schatten und genießen die Welt wie in Platons Höhlengleichnis nur noch in farblosen Abschattungen. Schon lange vor Corona sind wir zu fleischlosen Zombies geworden, die damit zufrieden waren, sich das eigene traurige Schicksal in endlosen Fernseh-Serien zu Gemüte zu führen.
(5) Das Sanatorium ist die Einrichtung einer künstlich bereinigten und von allen Widersprüchen freigehaltenen Welt. Die Beschränkung auf einen kleinen und überschaubaren Entwicklungskreis soll dafür sorgen, dass die Probleme, mit denen wir uns eigentlich auseinandersetzen müssten, weggehalten werden. Wir können an liebgewordenen Gewohnheiten festhalten und müssen nicht zur Kenntnis nehmen, dass sich die große Welt weiterdreht und wir vielleicht mit neuen Herausforderungen fertigwerden müssen.
Im Hintergrund eines solchen Rückzugs stehen häufig Angst und Überforderung. Niemand verzichtet freiwillig auf die vielfältigen Entwicklungsmöglichkeiten, die ein freies und selbstbestimmtes Leben mit sich bringen könnte. Die Menschen müssen schon schlimme Dinge befürchten, ehe sie sich zu einem solchen Schritt entschließen. Die Angst vor Veränderung muss so groß geworden sein, dass die normalen Verarbeitungsmöglichkeiten überfordert werden.
Tatsächlich war diese Überforderung auch vor Corona schon zu spüren. Es gab nicht nur die Schulden- und die Finanzkrise und es ging auch nicht nur um die Flüchtlinge oder um den Klimawandel. Das alles waren Ankündigungen einer viel weiterreichenden Krise, in die immer mehr Institutionen der Gesellschaft hineingezogen wurden: die Parteien, die Gewerkschaften, die Schulen und Hochschulen, die Medien und zunehmend auch das Rechtssystem.
Auch wenn offiziell darüber nicht gesprochen werden durfte, so spürten die Menschen doch, dass diese Institutionen kein Bild mehr für einen menschlich gestalteten Alltag liefern konnten. Statt dessen hohe Perfektionsansprüche ohne Rücksicht auf ein menschliches Können; viele Dienste, die Erleichterung im Alltag versprechen, in Wirklichkeit aber nur noch mehr Gängelung und Bevormundung mit sich bringen; dazu viel Gerede der Verantwortlichen, die aus der Ferne und sozusagen „kontaktlos“ führen wollen.
Das Social Distancing, auf das die Wirkungen der Moderne hinauslaufen, ist keine Lappalie. Im Gegenteil, es ist als ein umfassendes Lebens-Konzept zu verstehen, das unser Verhalten und Erleben auf Gleichgültigkeit programmiert und zu verhindern sucht, dass wir uns von irgendetwas berühren oder anrühren lassen. Verantwortung und Sich-Kümmern sollen abgegeben werden an Verwaltungen, an anonyme Dienste oder an das Gesundheitssystem. Die Parteien versprechen dem Volk, es vor allen möglichen Gefahren zu schützen, aber dafür soll das Volk aufhören, Fragen zu stellen oder sich eigene Gedanken zu machen.
(6) Was hat das alles mit Corona zu tun? Wir wissen, dass die Ausbildung einer Schonhaltung keine endgültige Lösung darstellt. Was mit der Schonhaltung vermieden werden soll, das bleibt in der Welt. Weil es aber nicht bearbeitet und geformt werden kann, weil es keine Sprache und keinen Ausdruck finden kann, verwandelt es sich in Angst: Angst vor Terror, vor Ansteckung, vor Katastrophen aller Art. Komischerweise war hier auch schon früh die Angst vor einem Killervirus dabei, das die Menschen für kurze Zeit dazu nötigte, auf gewohntes Essen zu verzichten oder den Aufenthalt an bestimmten Orten zu vermeiden.
Corona setzt dieser Angst seit einem Jahr nun die sprichwörtliche Krone auf. Das kleine Virus ist der Angst-Träger, in dem sich alle anderen Ängste unserer Zeit bequem versammeln und veranschaulichen lassen: die Angst vor der Globalisierung und der Überforderung durch eine menschenfeindliche Technik; die Angst vor dem Untergang der alten Schutzmächte und dem Erstarken einer dritten Super-Macht; die Angst vor dem Zusammenbruch des Finanz-, des Wirtschafts- und des Parteiensystems; die Angst vor dem Ende der alten Bundesrepublik und der Nachkriegsgesellschaft.
Im täglichen Ausmalen und Beschwören dieser Ängste gewinnt das Virus seine Macht. Es wird zu einer Bewegung, die alles in ihren Bann zieht und deren Ausmaße kongruent zu den Entwicklungsaufgaben stehen, die im Vorfeld der Krise nicht erledigt wurden. Je höher das Maß der unbewältigten Krisen, um so größer die Angst und um so höher die „Inzidenz“ der Corona-Krise. Wenn man die täglichen Statistiken richtig liest, dann hat man ein Maß dafür, wo überall nicht hingesehen und was alles verleugnet und verdrängt werden soll. Man hat aber auch ein Maß dafür, wie groß die Panik bei den Verantwortlichen sein muss und wie diese mit Panikmache versuchen, von den wirklichen Ursachen abzulenken
(7) Corona ist Realität und Fiktion zugleich. Corona ist real, weil es Viren gibt und Krankheiten, die von Viren verursacht werden. Corona ist aber zugleich fiktiv, weil es zum Ausdrucks- und Transportmittel für Gefahren wird, die nicht benannt werden dürfen. Diese Verquickung entzieht Corona dem Verstehen und einem realistischen Umgang mit den wirklichen Problemen. Corona ist zu einem Phantom geworden, das man nicht greifen kann und das doch ungeheuren Schaden anrichtet.
Weil in der Rede über das Virus so viel Ungeklärtes vermischt wird, ist es so schwer, über die tatsächlichen Verhältnisse ins Gespräch zu kommen. Die Angst vor dem Virus bindet eine andere Angst, für die wir keine Handhabe besitzen. Wenn diese Bindung angetastet wird, dann entsteht das Gefühl des Überrannt-Werdens und der Bedrohung. Am Ende haben wir Angst zu ersticken: Es ist wohl kein Zufall, dass der Erstickungstod bei Corona eine sehr große Rolle spielt.
Insgeheim wissen aber alle, dass Corona nicht unsere Zukunft bestimmen kann. Für die Gesellschaft und jeden Einzelnen steht einfach zu viel auf dem Spiel: die Kreisläufe des Warenverkehrs und des Wirtschaftens; die Zukunft unserer Kinder und der nachwachsenden Generation; die Chance auf Innovation und Veränderung unserer Gesellschaft.
Gleichzeitig spüren wir, dass die seit einem Jahr anhaltende Schonhaltung nicht Kräfte spart, sondern an den Kräften zehrt. Das Sanatorium ist keine freundliche Anstalt, das kann man im „Zauberberg“ nachlesen. Es hat viel mit „großem Stumpfsinn“, mit unterdrückter Aggression und zwanghaften Wiederholungen zu tun. Nach dem Sanatorium kommen nur noch das Gefängnis und die Psychiatrie. Bei Thomas Mann ist es ein „Donnerschlag“, nämlich der erste Weltkrieg.
(8) „Sub corona vendere“, hieß es bei den Römern, wenn sie Gefangene aus unterworfenen Völkern als Sklaven auf dem Markt verkaufen wollten. Zum Zeichen ihrer Unterwerfung und als Akt der Demütigung wurde den Menschen eine Dornenkrone aufgesetzt und der neue Besitzer konnte fortan mit ihnen machten, was er wollte.
Sub corona vendere, das ist auch ein Bild für den Karfreitag, der nach dem Gründonnerstag, dem Tag der Klage und des Abschied-Nehmens, gefeiert wird. Für die Christen ist der Karfreitag der eigentliche „Ruhetag“, der „stille“ Feiertag, der an den Tod, aber auch daran erinnern soll, dass es noch etwas gibt, was über den Tod hinausreicht. Für seelisch einigermaßen gesunde Menschen ist der Tod eigentlich kein Punkt, an dem alles zu Ende ist, sondern auch der Übergang in etwas anderes. Er ist mit der Hoffnung auf ein Leben verbunden, das über den begrenzten Kreis eines individuellen Daseins oder den einer geschichtlich gewordenen Kultur hinausweist.
Man möchte den Politkern nicht unterstellen, dass sie die Menschen mit ihren endlos verlängerten Corona-Maßnahmen auf Dauer rechtlos machen und ans Kreuz nageln wollen. Wir wollen auch nicht daran glauben, dass sie uns mit Absicht unseres Alltags berauben oder diesem Alltag Stück für Stück die Teile herausschneiden wollen, die die Voraussetzung für ein freies Leben in dieser Gesellschaft bilden.
Wir erkennen aber die Gefahr, dass es für uns keine Auferstehung geben wird, solange wir nicht anfangen, uns den gesellschaftlichen Problemen zu stellen, die unsere Zeit nun einmal mit sich bringt. Die „Osterruhe“, die uns die Kanzlerin verordnen wollte, könnte durchaus noch zu einem „ewigen Karfreitag“ werden, der nur um den Preis einer echten Katastrophe beendet werden könnte.