Spike-Proteine: Zur Psycho-Logik des Corona-Virus
(1) Das erste schöne Wochenende nach dem langen Winter. Obwohl ihnen offiziell noch der Lockdown verordnet ist, strömen die Menschen ins Freie: zum Spazieren und Wandern, zum improvisierten Picknick, zum Sporttreiben an Flüssen und Seen. Viele laufen mit Fotoapparaten und Handys herum und knipsen, was das Zeug hält: als wollten sie sich vergewissern, dass es das Leben noch gibt, das sie vor der Krise einmal gekannt hatten und das nicht nur schlimme Viren enthält, vor denen man sich fürchten muss.
Natürlich wird man immer wieder daran erinnert, dass die Corona-Krise noch nicht vorbei ist. Cafés, Restaurants und Kneipen sind immer noch geschlossen; ebenso Ausstellungen, Museen, Freizeitparks, der Boots- oder Liegestuhlverleih, die Andenken- und Nippes-Läden, die Verkaufsstände mit dem Angebot an lokalen Spezialitäten. An den sogenannten „Hotspots“ patrouillieren Ordnungskräfte und überwachen Abstands- und Versammlungsregeln.
Auch die Menschen scheinen diese Regeln trotz des schönen Wetters noch nicht vergessen zu haben. Vor Eisläden oder Würstchenbuden, denen der Verkauf außer Haus erlaubt ist, bilden sich lange Warteschlangen, die durch Abstandsmarken und Hinweisschilder reguliert werden. Jeder, der sich nicht an die Markierungen hält, erntet vorwurfsvolle Blicke und manchmal, trotz des schönen Wetters, auch ein böses Wort.
(2) Erstaunlich sind darüber hinaus die Techniken, mit denen die Menschen versuchen, sich beim Flanieren oder Spazierengehen aus dem Weg zu gehen. Schon während des ersten Lockdowns war zu beobachten, dass manche Paare die traute Zweisamkeit auflösen, sobald sich ein anderes Paar nähert und die Gefahr entsteht, dass die Partner auf der Außenbahn sich zu nahekommen könnten.
In solchen Fällen lässt sich meistens die Frau zurückfallen und geht so lange hinter ihrem Mann her, bis das andere Paar vorübergezogen ist. Der Mann wird sozusagen als Schild benutzt, der die Virengefahr abwehren und vor Ansteckung schützen soll. Sobald diese Gefahr gebannt scheint, tritt die Frau wieder vor, begibt sich an die Seite ihres Mannes und tut so, als wäre nichts geschehen.
Seit einiger Zeit kann man aber auch beobachten, dass manche Menschen beim Spazierengehen die Arme ausbreiten, um den nötigen Mindestabstand zu markieren. Während die meisten sich freuen, endlich wieder unter Menschen zu sein und das Lachen und Stimmengewirr genießen wie das Gezwitscher der Vögel, steuern andere Zeitgenossen mit ausgelegten Armen durch die Menge, um den Entgegenkommenden zu signalisieren, in welchem Abstand nach ihrer Ansicht die Ansteckungsgefahr beginnt.
Eine besonders militante Variante dieser Taktik findet sich bei Menschen, die ihren Wander- oder Walking-Stock als Abstandhalter einsetzen. Selbst auf offenen Wegen und abseits jeder Menschenmenge kann es vorkommen, dass ein Mann oder eine Frau unvermittelt einen Stab zur Seite ausfährt, um Entgegenkommende auf Abstand zu halten. Unter blauem Himmel spielt sich für einen kurzen Moment eine kleine Kampfszene ab.
(3) Die Abstands-Techniken legen den Verdacht nahe, dass manche Menschen die amtlich verordnete Einschließungsmaßnahmen inzwischen so verinnerlicht haben, dass sie diese mit nach draußen nehmen. Sie verhalten sich gleichsam so, als wären sie wie isolierte Menschen-Zellen unterwegs, die auf keinen Fall mit fremden Erfahrungen und Eindrücken in Kontakt kommen sollen. Sie gehen hinaus ins Freie und wollen doch alles fernhalten, was ihnen in der Welt begegnen könnte.
Dabei kann sich die Angst vor Ansteckung nicht allein auf das Virus beziehen. Aus medizinischer Sicht ist die Ansteckungsgefahr unter freiem Himmel minimal. Bei Sonnenschein und frühlingshaften Temperaturen drohen aber möglicherweise noch andere, psychische „Ansteckungsgefahren“: eine freundliche Begrüßung, die einem wildfremde Menschen angedeihen lassen; ein aufmunternder Blick oder ein Lächeln im Vorübergehen; die bunten Farben, die in die Natur und in die Kleidung der Menschen zurückkehren.
Der Frühling ist nun einmal die Zeit, in der die Natur zu neuem Leben erwacht. Die meisten Menschen folgen der Verwandlungslogik, die sie auch in der Wirklichkeit antreffen. Sie gehen nach draußen und lassen sich „anmachen“ von den Gerüchen, Geräuschen, Farben und Formen, die die Welt für sie bereithält. Auf diese Wirklichkeit steigen sie ein, weil sie auch für sich selbst eine Verwandlung erhoffen – so steht es schon in Goethes Osterspaziergang.
Wer da nicht mitgeht und mitmacht, der hat im Grunde die Hoffnung verloren, dass das Leben noch eine Überraschung für ihn bereithalten könnte. Solche Menschen sind seelisch erstarrt, weil sie Angst vor der Verwandlung haben: Angst davor, dass sich etwas ändern, erneuern, ganz anders realisieren könnte, als sie es bisher gewohnt sind. Was wäre, wenn mich dieser Mann, diese Frau, die mir da entgegenkommen, in das Abenteuer des Lebens einladen würden?
(4) Wenn man zur Abwehr dieser Angst einen Wanderstock ausfährt und wie einen Speer oder eine Lanze einsetzt, dann ist das aber noch etwas anderes als eine einfache Schutzmaßnahme. Das Anwinkeln des Wanderstabes will nicht nur auf Abstand halten, sondern es ist auch darauf aus, sich mit dem vermeintlichen Gefährder zu „verhakeln“. Es sucht den anderen, um ihm zu beweisen, wie gefährlich er ist. Es will provozieren, indem es die gute Laune und die Unbekümmertheit des ersten Frühlingstages zerstört. Es droht insgeheim mit Ordnungs- und Polizeimaßnahmen, sobald man eine willkürlich gesetzte Grenze überschreitet.
Wenn man sich die Paare betrachtet, die zu solchen rabiaten Maßnahmen greifen, dann stellt sich zudem die Frage, wer mit solchen Drohungen eigentlich gemeint ist. Richtet sich der erhobene Stock nur gegen den Spaziergänger, der entgegenkommt oder nicht auch gegen den eigenen Partner, den man daran hindern will, dass er mit einer Person Kontakt aufnimmt, die nicht zuvor durch ein strenges Prüf- und Kontrollverfahren gelaufen ist? Hat man nur Angst um sich selbst oder fürchtet man insgeheim auch das Zerbrechen von Ehe oder Partnerschaft? Benutzt man die Corona-Maßnahmen, um die kleine Welt der Rest-Familie gleichzeitig auszuführen und wie ein Hündchen an die Leine zu legen?
Es ist aus dieser Perspektive betrachtet nicht zu weit hergeholt, wenn man annimmt, dass das Ausfahren des Wanderstocks den Charakter einer Kampfhandlung besitzt. Diese Handlung begnügt sich nicht mit der Abwehr einer Gefahr, sondern will den Gefährder dingfest machen und im Wortsinne „aufspießen“. Um das Weiterleben einer festgefahrenen Form zu retten, sollen alle Verwandlungen zerstört werden, die diese Form verändern oder herausfordern könnten. Damit man in einem selbstgewählten Kreis weiterleben kann, soll der große Kreis des Lebens angehalten oder stillgelegt werden.
(5) Das Corona-Virus wird gewöhnlich als eine Kugel dargestellt, die an zahlreichen Stellen Ausleger oder „Spikes“ aufweist, durch die das Virus seine charakteristische Form erhält. Die Funktion dieser Ausleger wird von Virologen mit der Möglichkeit zusammengebracht, an der Membran der Wirtszelle anzudocken und die Fusion mit der Zellmembran einzuleiten. Die „Spikes“ sind sozusagen die „Enterhaken“ des Virus, mit denen der Eintritt in die Wirtszelle vorbereitet wird.
Die Ähnlichkeit dieser „Spikes“ mit den ausgestreckten Armen oder Wanderstöcken der Spaziergänger ist überraschend. Sie macht darauf aufmerksam, dass die Maßnahmen zur Eindämmung der Ansteckungsgefahr in gewisser Weise die biologischen Vorgänge kopieren, die nach Ansicht der Virologen im Körperinnern stattfinden. Die Menschen, die andere Menschen mit Spazierstöcken scheinbar auf Abstand halten, sich in Wirklichkeit aber mit ihnen „verhakeln“ wollen, diese Menschen verhalten sich genauso wie das Virus, das mit diesen Maßnahmen bekämpft werden soll.
Das lässt die Annahme zu, dass die wirklichen Ursachen der Seuche auf einer ganz anderen als auf einer körperlichen Ebene zu suchen sind. Das Virus hat sich möglicherweise längst in den „Zellen“ unserer seelischen Wirklichkeit eingenistet, bevor das Corona-Virus in die Welt gekommen ist. Es ist ein Virus, das den Psychologen seit langem unter dem Begriff der Neurose bekannt ist und das die davon Befallenen daran hindert, das Leben, die Liebe und die Arbeit so zu genießen, dass daraus etwas Produktives und Lebendiges hervorgehen kann.
(6) Es ist nicht ausgeschlossen, dass wir mit Corona eine körperliche Erkrankung gefunden haben, die uns daran hindert, die psychologischen Ursachen einer gesellschaftlichen Neurose von sehr großen Ausmaßen wahrzunehmen. Sollte diese Annahme zutreffen, wird auch Corona erst dann besiegt sein, wenn wir uns mit dem psychologischen Hintergrund dieser Krise auseinandergesetzt haben.