(1) Taten wie diejenige in Solingen werden in der Öffentlichkeit nach einem bewährten Muster behandelt. Zuerst Entsetzen über die Tat, dann Suche nach dem Täter. Erleichterung, wenn dieser gefunden ist und dem Haftrichter vorgeführt werden kann. Parallel dazu: Rituale der Betroffenheit.
Was meistens ausbleibt, ist eine Beschäftigung mit Hintergründen und Motiven der Tat. Im Fall von Solingen z.B. die Frage danach, wie ein junger und, wie sich inzwischen herausstellt, relativ schmächtiger Mann in der Lage sein kann, innerhalb kurzer Zeit, mit relativ begrenzten Mitteln drei Morde zu begehen und mehrere Menschen lebensgefährlich zu verletzen. Wo lernt man so etwas? Warum hat der Mann sich für eine solche Art von Training entschieden?
Auch die Frage nach dem Ort der Tat wird nicht gestellt. Solingen, was ist das für eine Stadt? Welche Rolle spielt das Stadtfest, nach 650 Jahren Stadtgeschichte unter dem Motto „Festival der Vielfalt“ ausgerichtet. Warum sucht sich ein Täter ausgerechnet dieses Fest für seine Tat? Was verbindet ihn mit der Stadt oder dem Festival? Warum dieser Ort und dieser Anlass?
Und weiter: Wieso kann es ihm gelingen zu fliehen? Warum war es der Menge nicht möglich, einen einzelnen Täter zu überwältigen und festzusetzen? Warum kann er 24 Stunden unentdeckt bleiben und wer oder was hat ihn schließlich dazu veranlasst, sich zu stellen? Auf welche Weise wird sichergestellt, dass es sich wirklich um den Täter handelt? Gibt es Zeugen, die den Täter erkannt haben?
Solche Fragen können endgültig natürlich erst im Rahmen einer amtlichen Beweisaufnahme beantwortet werden können. Es erstaunt allerdings das allgemeine Desinteresse an solchen Fragen. Die Medien, egal von welcher Seite, scheinen eher daran interessiert zu sein, das Interesse am konkreten Fall zu dämpfen und aus dem besonderen Fall eine allgemeine Angelegenheit zu machen: Diskussion über Migration, Waffenbesitz, die Rolle des Staates und der Polizei usw.
(2) Das Sich-Wegbewegen von der Tat korrespondiert mit dem Weg-Bewegen des Täters. Am Morgen nach der Tat dominieren zunächst die Fotos von den Blumen, die am Tatort niedergelegt werden, das ist inzwischen ein bekanntes und bewährtes Ritual nach Amokläufen, Attentaten und Anschlägen jeder Art. Aber dann kommen schon die Aufnahmen des Täters, der festgesetzt wurde und dem Bundesanwalt in Karlsruhe vorgeführt werden soll: flankiert von zwei Polizisten eines Sonderkommandos, an Händen und Füßen gefesselt und anscheinend völlig unschädlich gemacht.
An den Details der entsprechenden Aufnahmen bleibt der Beobachter hängen. Der mutmaßliche Täter ist nicht bloß mit Handschellen gefesselt, sondern mit verschiedenen Vorrichtungen so zugerichtet worden, dass ihm eine Flucht unmöglich gemacht wird. Hände und Füße sind mit Ketten verbunden, womit eine unabhängige Betätigung der Arme verhindert wird. Sollte der Gefangene also beispielsweise auf die Idee kommen, mit den Armen loszuschlagen, würde er sich automatisch die Beine wegziehen. Würde er versuchen wegzulaufen, würde er auch die Arme mitreißen und wahrscheinlich ebenfalls das Gleichgewicht verlieren.
Zusätzlich sind Augen und Ohren mit Kopfhörern und einer Brille bedeckt worden. Die Brille erinnert an die Umkehrbrille (aus dem psychologischen Labor von Theodor Erismann in Innsbruck) oder an eine Fliegerbrille aus den Anfangszeiten der Flugzeuge. Sie wird jedenfalls den Effekt haben, die visuelle Wahrnehmung der Umwelt unmöglich zu machen. Einen ähnlichen Effekt werden die Kopfhörer haben, die ihn weitgehend oder vollständig von äußeren Schalleindrücken abschließen oder statt dessen vielleicht sogar, wie bei den Terroristen in Guantanamo, künstliche Schalleindrücke erzeugen. Der Gefangene ist also akustisch und visuell von äußeren Sinnesreizen abgetrennt, mindestens für die Dauer des Transportes taub und blind gemacht worden.
Auf dem Foto kann man außerdem erkennen, dass der Gefangene keine Schuhe trägt, sondern barfuß gehen muss. Auch dies ist wahrscheinlich auf die Absicht zurückzuführen, eine Flucht, die trotz der Fesselung doch noch erfolgen sollte, zusätzlich zu erschweren. Die gekrümmte Haltung des Gefangenen und das Nach-Außen-Drehen der Füße hat wahrscheinlich damit zu tun, dass er beim Verlassen des Hubschraubers nicht wissen kann, auf welchen Untergrund er tritt und erst ertasten muss, dass es sich um eine harmlose Wiese handelt, über die er gehen soll.
(3) Die Minimierung der Sinnesreize führt zu einer völligen Verunsicherung über die Umstände, in der sich der Gefangene aufhält. Es sind ihm sämtliche Anhaltspunkte genommen, die nach E. Straus (1935) für ein Sich-Verhalten zur Welt erforderlich sind. Man kann auch sagen: Der Gefangene ist im Grunde bereits aus der Welt geschafft worden. Er gehört nicht mehr zu der Welt, die die übrigen Menschen miteinander teilen, auf die sie sich gemeinsam beziehen können und in der sie sich verständigen. Er ist zu einer Entität geworden, der nichts Menschliches mehr anhaftet.
Eigentlich ist die Verhaftung des Täters schon mehr als eine bloße Sicherstellung und In-Gewahrsam-Nahme. Die Verhaftung ist eigentlich schon eine Form der Bestrafung, der Exekution. Die Bilder machen klar, dass dieser Mann keine Zukunft außerhalb des Gefängnisses oder innerhalb der menschlichen Gemeinschaft haben wird, dass er aussortiert und ausgesondert ist und einen sozialen Tod erleiden wird. Es ist eine symbolische Hinrichtung, die uns hier vorgeführt wird.
Vielleicht passt dazu auch das martialische Outfit der Polizisten, die schwer bewaffnet, hoch gerüstet und durch die Uniform als Teil einer Spezialeinheit zur Terrorbekämpfung erkennbar sind. Wie der Gefangene tragen sie ebenfalls Kopfhörer, die anscheinend aber über Funk und Mikrophone mit der Einsatzleistung verbunden sind, so dass unmittelbar Befehle oder Anweisungen entgegengenommen werden können.
Interessant ist, dass die Gesichter der Polizisten durch Mützen oder Sturmhauben unkenntlich gemacht worden sind. Man will natürlich nicht, dass die Mitglieder der Sondereinsatzkommandos in der Öffentlichkeit erkannt und vielleicht selbst zum Opfer von Entführungen oder Gefangennahmen werden. Andererseits haben Scharfrichter bei Exekutionen ebenfalls eine Maske getragen, die ihr Gesicht verdeckt hat. Die Vermummung des Gesichts verbindet die Täter und diejenigen, die den Täter ihrer Strafe zuführen sollen. Beide kommen zusammen im Rahmen einer Tat, die ein Menschenleben beenden soll.
(4) Die martialischen Umstände, unter denen Terrorverdächtige verhaftet oder festgenommen werden, sind erst in jüngerer Zeit eingeführt worden, zusammen mit dem Krieg gegen den Terror, mit den Erfahrungen von 9/11 und dem US-Vorbild der Behandlung von Staatsfeinden. In diesem Zusammenhang ist auch eine Hochrüstung der gewöhnlichen Polizeiarbeit erfolgt, z.B. die Ausstattung der Polizei mit Body-Cams oder beeindruckend dimensionierten Schlagstöcken. Parallel dazu wurden die Uniformen von Mitarbeitern der Ordnungsämter so gestaltet, dass sie sich kaum noch von denen der Polizisten unterscheiden. Es scheint so zu sein, als sollte der Terrorverdacht gleichmäßig auf alle Bürger des Staates verteilt werden.
Anfang der 70er Jahre (1972) wurde der Terrorist H. Meins in Frankfurt festgenommen. Fotos seiner Verhaftung zeigen ihn, nur mit Unterhose bekleidet, im Gewahrsam von Polizisten, die ihn mit bloßen Händen festhalten, während er den Oberkörper nach vorn beugt, um sich dem Zugriff zu entwinden. Im Unterschied zu den Gepflogenheiten, die heute zur Anwendung kommen, haben sowohl die Polizisten als auch der Täter noch menschliche Züge. Meins ist festgesetzt, es wird aber zugelassen, dass er Wut und Empörung über seinen Zustand hinausschreit. Er ist immer noch als jemand erkennbar, in dem sich auch die Gesellschaft selbst wiederfinden und anblicken könnte, wenn sie denn, wie im Fall des RAF-Terrorismus ja auch ausführlich geschehen, den Versuch dazu unternimmt.
Diese Möglichkeit wird durch die gegenwärtige Polizeitaktik, aber auch durch die gesamte öffentliche Rezeption der Tat verhindert. Die Tat wird aus dem Umkreis eines individuellen oder gesellschaftlichen Verstehens herausgerissen. Sie wird als etwas dargestellt, das in keiner Weise mit dem Umkreis unseres gesellschaftlichen Lebens oder der Ordnung, die diesem Leben zugrunde liegt, zu tun haben könnte. Sie wird als eine Un-Tat dargestellt, die durch nichts erklärt werden und daher letztlich nur durch die gesellschaftliche Aussonderung, durch seinen sozialen oder tatsächlichen Tod des Täters gesühnt werden kann.
(5) So viel wir gegenwärtig über die Tat in Solingen wissen, ist dort ein Anhänger des fundamentalistischen Terrors über eine Gesellschaft hergefallen, die ein Fest der Vielfalt feiern wollte. Wie sich gezeigt hat, ist diese Vielfalt allein nicht in der Lage, den Zusammenhang der Gesellschaft zu schützen. Sie sieht sich vielmehr gezwungen, staatliche Dienste in Anspruch zu nehmen, die diesem Zusammenhang einen scheinbar neutralen Rahmen geben: Bürokratie, Parteien, Justiz, die Medien.
Offenbar führt eine solche Spaltung aber nicht zu einer Beruhigung gesellschaftlicher Probleme. Es scheinen sich nicht nur terroristische „Untaten“ zu häufen, sondern auch fundamentalistische Überzeugungen im ganz gewöhnlichen Alltag auszubreiten: als eine bestimmte Möglichkeit, Probleme einer Gesellschaft überschaubar zu machen, die auf das Versprechen vielfältiger Verwandlungsrichtungen nicht verzichten will.
Gleichzeitig scheinen aber auch die staatlichen Dienste ihr Erscheinungsbild zu ändern. Sie sind nicht mehr neutral, distanziert, bürokratisch, sondern nehmen zunehmend martialische, kriegerische Züge an. Der Kampf gegen den Terrorismus wird selbst fundamentalistisch. Er schützt die Gesellschaft mit denselben Mitteln, wie sie diejenigen anwenden, vor denen der Staat seine Mitglieder zu schützen behauptet.
Erismann, Theodor; Kohler, Ivo (1950): Die Umkehrbrille und das aufrechte Sehen. Wien: Produktionsfirma Dr. Pacher & Peithner.
Straus, Erwin (1935): Vom Sinn der Sinne. Ein Beitrag zur Grundlegung der Psychologie. Berlin: Springer.