Nach den Attentaten in Solingen und Magdeburg hat ein Anschlag in Aschaffenburg im ersten Monat des neuen Jahres erneut großes Entsetzen ausgelöst. In einem Stadtpark hat ein 28-jähriger Mann eine Gruppe von Kindergartenkindern angegriffen und einen zweijährigen Jungen sowie einen erwachsenen Mann, der die Kinder schützen wollte, mit Messerstichen getötet. Ein Mädchen und ein weiterer Mann wurden schwer verletzt ins Krankenhaus gebracht.
Wie schon bei den früheren Anschlägen betonen die offiziellen Stellen auch bei dem Überfall in Aschaffenburg, dass es sich dabei um die Tat eines Einzeltäters handelt. Es wird davor gewarnt, voreilige Schlüsse zu ziehen oder die Tat für politische Zwecke zu instrumentalisieren. Andererseits betonen alle im Bundestag vertretenen Parteien inzwischen aber die Notwendigkeit, die Einwanderungs- und Asylpolitik der Bundesrepublik stärker zu reglementieren. Die CDU lässt durchblicken, dass sie dafür sogar bereit ist, noch vor den Wahlen entsprechende Gesetze zu beantragen und diese auch mit Unterstützung der AfD durch den Bundestag zu bringen.
Über die Motive der Tat, die Lebensumstände des Täters oder den Stand der Ermittlungen wird wie schon in den vorangegangen Fällen äußerst sparsam oder gar nicht berichtet. Wir erfahren, dass der Mann aus Afghanistan geflüchtet ist, seinen Asylantrag aber zurückgezogen und die Rückkehr in sein Heimatland angekündigt hat. Recherchen der Medien ergeben, dass sich der Täter mehrfach in psychiatrischer Behandlung befunden hat und von den zuständigen Fachkräften nicht als Gefährder eingestuft wurde. Ein terroristischer Hintergrund der Tat wird von offiziellen Stellen ausdrücklich ausgeschlossen.
Ohne Kenntnis der Ermittlungsakten lassen sich die Lücken in der Berichterstattung nicht schließen und daher bleiben auch sämtliche Vermutungen über Motive oder Hintergründe der Tat spekulativ. Andererseits gehört der Anschlag zu einer Reihe von Taten, die sich hinsichtlich der Tatumstände jeweils deutlich unterscheiden und ein spezifisches Tat-Profil erkennen lassen. Unterschiedlich sind sowohl Orte und Zeitpunkte der Tat, die verwendeten Tatwaffen sowie die Personengruppen, die die Täter als Opfer ausgewählt haben.
Auf dieser Grundlage ist es möglich, zumindest Vermutungen über den jeweiligen Kontext der Taten abzuleiten. Schon auf der Oberfläche werden bestimmte Muster und Strukturen sichtbar, die Anhaltspunkte für ein psychologisches Verständnis der Tat abgeben können. Dabei ergeben sich auch Hinweise darauf, dass die politische Diskussion, die gegenwärtig um das Asylrecht in Deutschland geführt wird, zu kurz greift.
– In Solingen geschieht der Anschlag auf einem Stadtfest, das im Spätsommer 2024 aus Anlass des 650-jährigen Bestehens der Stadt als „Festival der Vielfalt“ gefeiert werden soll. Der Attentäter attackiert mit gezielten Messerstichen die Festbesucher, von denen er drei tötet und acht weitere teils lebensgefährlich verletzt. Die Tatwaffe ist ein Messer mit 15 cm langer Klinge und die Tat scheint gezielt und vorsätzlich ausgeführt worden zu sein. Wenig später behauptet der IS, die Tat sei in seinem Auftrag ausgeführt worden. Die Behörden gehen danach von einem terroristischen Anschlag aus, sprechen aber von einem Einzeltäter. Nach der spektakulären Festnahme des Täters bricht die Berichterstattung über den Fall ab. Statt dessen setzen Diskussionen über Maßnahmen zur Gefahrenabwehr und zur Sicherheitspolitik ein.
– Die Tat in Magdeburg passiert wenige Tage vor Heiligabend auf einem Weihnachtsmarkt. Als Tatwaffe benutzt der Täter ein leistungsstarkes SUV, das er im Vorfeld der Tat angemietet hat und das er auf einer der „Gassen“ des Weihnachtsmarktes auf 80 km/ beschleunigt haben soll. Bei der Tat werden sechs Menschen getötet und fast 300 Personen verletzt. Unter den Toten und Verletzten sind auch Kinder. Die Tat wir offiziell als „Amokfahrt“ eines Einzeltäters eingeordnet und ein terroristischer Hintergrund ausgeschlossen. Wenige Tage später ereignet sich ein ähnliches Attentat auf einer Neujahrsveranstaltung in New Orleans.
– In Aschaffenburg greift der Täter um die Mittagszeit eine Gruppe von Kindergartenkindern in einer öffentlichen Parkanlage mit einem Küchenmesser an. Ein 2-jähriges Mädchen und ein 41-jähriger Mann, der sich schützend vor die Kinder stellt, werden getötet. Drei weitere Menschen, darunter ein Kleinkind, werden schwer verletzt. Die Behörden bezeichnen die Tat als Messerangriff und gehen von einer psychischen Störung des Täters aus. Ein terroristischer Hintergrund wird ausgeschlossen.
1. Der Tatort
(1) Es fällt auf, das die beiden ersten Taten in Verbindung zu Festen stehen, die in gesellschaftlicher Hinsicht mit einer gewissen Bedeutung aufgeladen sind. Stadtfeste sollen allgemein das Selbstverständnis und die Solidarität der Stadtgesellschaft fördern und werden wie in Solingen häufig auch für ideologische Zwecke („Diversität“) instrumentalisiert. Demgegenüber steht der Weihnachtsmarkt in Verbindung mit dem religiösen Weihnachtsfest, auch wenn dabei eher die profane oder kommerzialisierte Seite des Festes zum Vorschein kommt.
Die Taten von Solingen und Magdeburg unterbrechen nicht nur die Ausrichtung dieser Feste, die im Anschluss an die Vorfälle abgesagt oder geschlossen werden, sondern sie zerstören auch den Bindungseffekt, der von solchen Festen ausgehen soll. Die Attentäter zerschneiden oder zerschlagen sozusagen Formen der Vereins- und Massenbildung, auf die jede Gesellschaft angewiesen ist und die auch in unserer modernen, scheinbar aufgeklärten Kultur durch Versammlungen, gemeinsame Rituale und Zeremonielle unterstützt werden.
Bei der Untersuchung von Anschlägen und Attentaten ist die Symbolik der Ortes bisher noch nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt worden. Es ist jedoch zu vermuten, dass Motive und Umstände der Tat sehr eng mit den Eigentümlichkeiten des Ortes verbunden sind. Obwohl die öffentliche Anteilnahme in der Regel den Opfern des Attentats gilt, hat die Bestürzung immer auch damit zu tun, dass die Anschläge die Ausrichtung gemeinsamer Feiern oder Feste abrupt beenden. Der terroristische Anschlag richtet sich daher meistens nicht gegen einzelne, bestimmte Personen, sondern auch gegen die gesellschaftliche Einheitsbildungen und ihre Symbole.
(2) Besonders auffällig wird dieser Gesichtspunkt beispielsweise bei den Anschlägen auf das Bataclan (2015), das sowohl mitten im Vergnügungsviertel der Pariser jeunesse dorée liegt als auch in der Nähe von Orten, an denen die französischen Revolution ihren Ausgang nimmt oder die für das republikanische Bewusstsein der Franzosen von Bedeutung sind (Place de la République, Place de la Nation).
Auch der Anschlag von Nizza (2016) nutzt die Symbolik des Ortes: nämlich die Promenade des Anglais, die als Laufsteg der Schönen und Reichen bekannt ist, aber auch als Vorzeigemeile für PS-starke Kraftfahrzeuge. In beiden Fällen werden Orte zu Schauplätzen eines Massakers, die historisch als Kern der französischen Kultur (Paris) oder als wesentlicher Teil der Identität eines Küstenortes (Nizza) gelten.
Verglichen mit den französischen Beispielen wirkt das Prestige von Städten wie Solingen oder Magdeburg eher zweitrangig. Wenn man sich das Programm für das „Festival der Vielfalt“ ansieht, ergibt sich der Eindruck von Beliebigkeit oder geradezu Lieblosigkeit. Das Fest scheint eher die prekäre wirtschaftliche Lage der Stadt und der angrenzenden Region wiederzugeben als den Stolz auf die eigene Geschichte. Auch die Weihnachtsmärkte sind heute zu extrem künstlichen Erlebniswelten geworden, die irgendwo zwischen Märchenwelt und Oktoberfest rangieren. Die ursprüngliche Strahlkraft der Orte oder des Festes ist deutlich verblasst. Sie bringen keine gemeinsamen Erwartungen und Verpflichtungen, keine gemeinsamen Auftritte oder Aufbrüche hervor. Als Außenstehender hat man eher den Eindruck, es würden nur noch die Reste oder Zitate ehemals identitätsstiftender Kultivierungsbilder zelebriert.
Es wäre daher voreilig, die Anschläge, wie dies in Reden von Politikern häufig geschieht, als Anschläge auf die ganze Gesellschaft zu klassifizieren. Die Anschläge zerstören allenfalls künstliche Reproduktionen geschichtlicher Identitäten. Sie richten sich gegen die Kulissen und Fassaden einer Gesellschaft, die das große Einheitsversprechen nur noch demonstriert, aber nicht mehr zu einer Wirklichkeit machen kann, die im Alltag tatsächlich gelebt wird. Weder das „Festival der Vielfalt“ noch die Weihnachtsmärkte sagen etwas darüber aus, wie es mit der Gesellschaft weitergehen soll oder was sie von ihrer eigenen Zukunft erwartet.
Fast ebenso erschütternd wie die Bilder von den Tatorten wirken daher die Fotos, die wenige Tage nach der Tat veröffentlicht werden. Am Ende sieht man totes, leeres Gelände, das von Flatterband abgesperrt wird, verrammelte Buden oder vereinzelte Spuren der Verwüstung, die von den Reinigungskräften noch nicht weggeräumt wurden. Man sieht die zubetonierten Fußgängerzonen der deutschen Städte, man sieht einen Nicht-Ort (Augé 1994). Nicht weit davon entfernt, meistens in der Nähe einer Kirche, dann eine Stelle, an der riesige Mengen von Blumen, Kerzen, Teddybären niedergelegt wurden.
Die Verzweiflung über den Tod der Menschen, die daraus spricht, ist vielleicht die einzige Wahrheit, die an den Nicht-Orten Gültigkeit beanspruchen kann. Wenigstens die Erschütterung der Menschen ist echt.
(3) Im dritten Fall, dem Messermord von Aschaffenburg, ist die Symbolik des Ortes nicht ohne weiteres erkennbar. Die Tat hat sich in einem Stadtpark ereignet, der nicht für ein besonderes Fest vorbereitet wurde und in dem auch keine Massenversammlung stattgefunden hat. Der Stadtpark ist gewöhnlich eine Freizeit- und Erholungszone, so etwas wie eine Oase mitten im angrenzenden Betrieb der Stadt und im übrigen Trubel des Alltags. Üblicherweise halten sich die Menschen hier allein oder in kleineren Gruppen auf.
Es wird allerdings auch davon berichtet, dass der Stadtpark in Aschaffenburg als Aufenthaltsort der Drogenszene bekannt ist und in der Vergangenheit Festnahmen wegen Körperverletzungen und anderer Delikte stattgefunden haben. Die Polizei soll den Park zeitweise auch als „gefährlichen Ort“ deklariert haben und die Bürger besonders zu den Abend- und Nachtstunden zur Vorsicht aufgefordert haben. Diese Maßnahmen waren zum Zeitpunkt der Tat allerdings schon wieder außer Kraft gesetzt worden.
Es ist nicht ausgeschlossen, dass der Täter zu der Drogenszene des Stadtwaldes Kontakt hatte oder dass der Stadtpark zu den Orten gehört hat, die er neben der Flüchtlingsunterkunft und dem Bahnhof regelmäßig aufgesucht hat und die deshalb zu seinen bevorzugten Aufenthaltsorten gehört haben. Der Täter ist selbst wegen eines Drogendeliktes aktenkundig gewesen und es wird auch darüber spekuliert, dass er drogenabhängig gewesen sein könnte. Er kann den Stadtpark also nicht als feindlichen Ort erlebt haben, sondern mit hoher Wahrscheinlichkeit als einen Fluchtpunkt, an dem er auf Unterbringung, Unterstützung oder Hilfe hoffen konnte. Es ist unter dieser Voraussetzung nicht ausgeschlossen, dass er die Gruppe der Kinder und Erzieher als Eindringlinge erlebt hat.
– Nach Ansicht von A. Ehrenberg (1998) sind die Drogenkranken in unserer Gesellschaft die Nachfolger derjenigen Menschen, die früher als geisteskrank klassifiziert wurden und in Psychiatrien untergebracht wurden. Ehrenberg glaubt, dass die Depression darauf verweist, dass sich „der Mensch als Subjekt nicht wiederfindet.“ Demgegenüber drücke das Suchtverhalten „die Sehnsucht nach einem verloren gegangenen Subjekt aus“ (Ehrenberg nach Roudinesco, S. 20).
– Gewöhnliche Bürger machen um Drogenabhängige, die in den Städten bestimmte Terrains für sich beansprucht haben, in ähnlicher Weise einen Bogen, wie sie dies früher um die Geisteskranken gemacht haben. Das Verhalten Drogenabhängiger wirkt nicht nur unberechenbar und unvermittelt, sondern es wirkt auch bedrohlich, unzugänglich, unbehandelbar. Wie die Geisteskranken scheinen Drogenabhängige unter unheimlichen Zwängen zu handeln, denen sie nicht entkommen können. Sie wirken so, als wären sie von fremden Mächten besessen.
– In Parks, an Bahnhöfen oder in Fußgängerzonen siedeln sich die Drogenabhängige heutzutage wie Mitglieder einer Gegengesellschaft an. Sie sind sozusagen vogelfrei, Gesetzlose, die außerhalb der Ordnungen der Kultur stehen und oft nur noch ein paar Habseligkeiten ihr eigen nennen können. Am Abend und in der Nacht feiern sie Feste, zu denen die übrigen Bürger keinen Zutritt haben. Am Morgen müssen sie dafür die Rechnung bezahlen: einerseits in Form schwerer körperlichen Beeinträchtigungen; andererseits in Form von Bestrafungen, die ihnen die Drogenhändler androhen, wenn sie sich nicht an die vereinbarten Verträge halten.
2. Der Täter
Bei den Taten in Magdeburg und Aschaffenburg liegen Hinweise auf Delikte vor, die im nachhinein als Hinweise auf die Gefährlichkeit der Täter bewertet werden. Der Täter aus Magdeburg soll beispielsweise Drohungen gegenüber Anwälten und Behördenmitarbeitern ausgesprochen haben und deshalb auch von der Polizei aufgesucht worden sein. Der Täter aus Aschaffenburg ist mehrfach wegen unterschiedlicher Gewaltdelikte, aber auch wegen Widerstandes gegen Vollzugsbeamte auffällig geworden. Zusätzlich soll er sich mindestens dreimal in verschiedenen Psychiatrien aufgehalten haben. Über den Täter in Solingen wissen wir so gut wie nichts, er scheint plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht zu sein.
Die einzelnen Delikte wurden von den Behörden aufgenommen und auch strafrechtlich verfolgt. Eine Einordnung als Gefährder erfolgte jedoch nicht, weil die einzelnen Ereignisse eine solche Einschätzung aus juristischer Sicht nicht erlaubte. Auch die Untersuchungen in der Psychiatrie ergaben im Fall des Messermörders anscheinend keine begründeten Hinweise auf die Möglichkeit einer Selbst- oder Fremdgefährdung. Es scheint also insgesamt so zu sein, dass sich das Verhalten der Täter in den beiden Fällen, in denen Informationen über die Vorgeschichte der Tat vorliegen, unter einer Schwelle bewegt hat, die es erlaubt hätte, dieses Verhalten als eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit zu klassifizieren.
Dies gilt jedoch nur so lange, wie man die einzelnen Vorfälle getrennt voneinander betrachtet. Untersucht man sie im Zusammenhang, dann kommt man nicht daran vorbei, von erheblichen Auffälligkeiten im Verhalten der Täter zu sprechen oder auch bestimmte Abweichungen zu erkennen, die auf pathologische Störungen hinweisen. Unabhängig von der Frage, inwiefern solche Störungen auch schon im Vorfeld der Tat eine Aussage zur Gefährlichkeit der Täter erlaubt hätten, wäre bei nüchterner Betrachtung wahrscheinlich sehr wohl eine Einschätzung möglich gewesen, dass mit den betreffenden Personen etwas nicht stimmt.
(1) Im Fall des Attentäters aus Aschaffenburg stehen auf den ersten Blick scheinbar harmlose Drogendelikte oder Fahrten mit gefälschten Fahrkarten neben offenkundigen Gewaltdelikten und Angriffen auf die Polizei. So soll der Täter eine Mitbewohnerin im Flüchtlingsheim bedroht und versucht haben, sie gewaltsam in sein Zimmer zu zerren. Auch von Messerangriffen gegen eine (oder möglicherweise dieselbe) Mitbewohnerin wird berichtet. Darüber hinaus soll der Mann, angeblich um Hilfe bittend, eine Polizeiwache aufgesucht haben, anschließend aber einer Beamtin ins Gesicht geschlagen haben. Bei dem Versuch, den Mann zu überwältigen, soll er versucht haben, an die Dienstwaffe der herbeieilenden Beamten zu gelangen.
Bei den Vorkommnissen handelt es sich um erhebliche Grenzüberschreitungen, die sich in auffälliger Weise gegen Frauen wenden und bei denen zumindest einmal auch ein Messer als Tatwaffe zum Einsatz kommt. Bemerkenswert erscheint allerdings, dass dem Gewaltausbruch im zweiten Fall die Bitte um Hilfe und Unterstützung vorausgeht. Ein Mann, der in der Vergangenheit bereits mit der Polizei in Konflikt geraten ist und anschließend freiwillig eine Polizeidienststelle aufsucht, muss sich in einer körperlichen oder psychischen Ausnahmesituation befunden haben. Es scheint so zu sein, als hätte er in diesem Ausnahmezustand Hilfe gefordert und diese Hilfe zugleich als Bedrohung erlebt.
In dieselbe Richtung geht möglicherweise ein weiterer Zwischenfall, bei dem der Mann von Polizisten völlig unbekleidet auf einem Bahnsteig des örtlichen Bahnhofs vorgefunden wird. Auch dieser Vorfall verweist auf einen Zustand im Drogenrausch oder auf einen psychotischen Schub. Gleichzeitig deutet der Mann mit seinem Verhalten aber möglicherweise auch auf Situationen der Ohnmacht und des Ausgeliefert-Seins. Wer nackt am Bahnsteig steht, hat keine Chance, irgendwo hinzukommen und ein anderes Leben zu beginnen. Es bleibt ihm nur „das nackte Leben“. Er ist tatsächlich vogelfrei, ein „homo sacer“ (Agamben 2002).
(2) Bei dem Attentäter von Magdeburg liegen die Verhältnisse anders. Der Mann ist bereits Anfang 50, lebt seit mehreren Jahren in Deutschland und verfügt über eine Ausbildung als Mediziner. Die Medien berichten, dass er sich für die Flüchtlinge aus Saudi-Arabien eingesetzt hat, dabei aber mehrfach mit Anwälten und Vertretern von Vereinen in Konflikt geraten ist und dabei auch Drohungen ausgesprochen haben soll, die zu Anzeigen und Reaktionen der Polizei geführt haben. Staatliche Stellen in Saudi-Arabien und England sollen die Bundesrepublik vor der Gefährlichkeit des Mannes gewarnt und seine Auslieferung gefordert haben.
– Der Täter hat in Deutschland eine Ausbildung zum Facharzt für Psychiatrie und Psychiatrie absolviert und arbeitet seit 2020 für ein Klinikkonsortium (Salus) bei der Betreuung suchtkranker Straftäter. Es ist nicht bekannt, ob er das Medizinstudium in seinem Heimatland (Saudi-Arabien) oder in Deutschland abgeschlossen hat. Mitarbeiter der Klinik haben nach der Tat gegenüber der Presse Zweifel an der fachlichen Kompetenz des Arztes geäußert. Seit Oktober 2024 hat er wegen Urlaubsansprüchen und Krankschreibung nicht mehr in der Klinik gearbeitet.
– Seine Angaben zu den Tatmotiven klingen wirr. Offenbar hat sich der Täter mit allen möglichen Autoritäten angelegt: den deutschen Behörden, die nach seiner Ansicht zu langsam arbeiten; mit dem Islam, mit dem er gebrochen haben will; mit der Ärztekammer, die das Facharzt-Zertifikat angeblich zu langsam ausgestellt hat. Der Mann soll ein „Vielschreiber“ (NRW-Innenminister H. Reul in SZ 2025) gewesen sein, der mit allen in Unfrieden lebte und am liebsten jeden vor Gericht bringen wollte, der ihm in die Quere kam. Es ist nicht ausgeschlossen, dass er sich von seiner Stellung als Arzt ein höheres Prestige versprochen hat als es mit der Behandlung in einem Maßregelvollzug verbunden ist. Hinter den vielen Anschuldigungen und Beschwerden steckt möglicherweise auch eine große Unzufriedenheit mit dem, was er im Alter von 50 Jahren erreicht hat. Vielleicht wollte der Mann in Deutschland als König leben, sah sich aber in die Rolle eines Bettelmanns zurückgeworfen.
3. Die Behörden
In der Berichterstattung über die Taten wird immer wieder auf ein angebliches Versagen der deutschen Behörden hingewiesen, die nach Ansicht der Medien schon früh auf die Gefährlichkeit der späteren Täter hätten aufmerksam werden und entsprechende Maßnahmen hätten ergreifen müssen. In der öffentlichen Diskussion läuft diese Kritik häufig auf die Forderung hinaus, verdächtige Ausländer, am besten aber gleich alle Ausländer möglichst zügig abzuschieben.
In den meisten Fällen haben sich die Behörden aber an die Regeln gehalten, die ihnen das Gesetz vorschreibt. Festnahmen und Verurteilungen auf bloßen Verdacht widersprechen dem Strafrecht in einer liberalen, demokratisch verfassten Gesellschaft und sind deshalb auch im Rahmen des Asylrechts nicht zulässig. Ebenso sind einer dauerhaften oder zeitlich begrenzten Unterbringung in einer Psychiatrie aus guten Gründen hohe Hürden entgegengesetzt. In Deutschland kann niemand nur deshalb verhaftet werden, weil er sich auffällig oder ungewöhnlich verhält.
(1) Eine andere Frage ist jedoch, was mit Straftätern geschieht, die wegen einzelner Delikte bereits in das Visier von Polizei und Justiz geraten sind, sich aber einer Strafverfolgung entziehen. Im Fall des Täters von Aschaffenburg ist beispielsweise bekannt, dass Geldstrafen wegen Schwarzfahrens, Drogenbesitzes und Körperverletzung erlassen wurden, ein Vollzug der Strafbefehle aber niemals erfolgt ist. Der Täter von Magdeburg soll mehrere Anzeigen wegen Bedrohung erhalten haben, die aber lediglich mit einer Aufforderung zur Unterlassung geahndet wurden. Eine „Gefährderansprache“ konnte lediglich auf dem Postwege zugestellt werden, weil der Adressat persönlich nicht erreichbar war. Bei dem Täter von Solingen scheiterte selbst die bereits angeordnete Abschiebung an dem Umstand, dass der Mann zum Abschiebetermin nicht in der Unterkunft anwesend war.
Das Problem der Behörden scheint damit zu tun haben, dass die zuständigen Stellen die Fälle immer nur verwalten, dass der Vollzug der Verwaltungsentscheidungen aber häufig nicht mit der notwendigen Entschiedenheit durchgesetzt wird. Wenn beispielsweise Strafmandate nicht bezahlt werden, setzen erst einmal weitere Verwaltungsvorgänge ein, in denen Fristen gesetzt werden müssen, Mahngebühren eingefordert werden oder Urteile zur Erzwingungshaft gefällt werden müssen. Selbst wenn dies im Einzelfall erfolgreich ist, kann der Prozess, wie dies im Fall Aschaffenburg geschehen ist, durch neu hinzukommende Taten gestoppt oder wieder in den ursprünglichen Zustand versetzt werden, so dass die ganze Prozedur wieder von vorn beginnt.
All das kostet Zeit, Geld und vor allem Personal. Wenn eine Gefährderansprache angeordnet wurde, müssen Polizeibeamte zum Wohnort der verdächtigen Person fahren und an der Haustür klingeln. Treffen sie die Person nicht an, werden sie es nicht am nächsten Tag erneut versuchen, weil sie dann schon andere Termine haben. Für den Besuch an der Arbeitsstelle benötigen sie wiederum gesonderte Anordnungen, die erst von den zuständigen Dienststellen der Justiz erlassen werden müssen usw. Am Ende stellen sie dann ein Gefährderanschreiben auf dem Postwege zu, wobei ein guter Anwalt vor Gericht sehr leicht in Frage stellen kann, ob der Angeklagte eine solche Zustellung auch wirklich erhalten hat.
(2) Selbst schwerwiegende Verstöße gegen Recht und Gesetz können durch das Raster der Strafverfolgungsbehörden fallen. Offenbar hat der Täter von Aschaffenburg in der Flüchtlingsunterkunft Mitbewohnerinnen körperlich angegriffen bzw. versucht, sie gegen ihren Widerstand in sein Zimmer zu zerren. Es ist bekannt, dass solche Vorfälle in den Unterkünften keine Seltenheit sind. Die Wohnverhältnisse sind beengt, es gibt keine Privatsphäre, die Lärmbelästigung ist enorm. Die Leitung der Unterkunft hat die Wahl, entweder bei jeder Gelegenheit die Polizei zu verständigen oder es bei einer Ermahnung zu belassen.
Ähnlich werden möglicherweise auch die Mitarbeiter der Psychiatrie gehandelt haben. Die Psychiatrien sind nicht nur durch (neuere) Gesetze dazu angehalten, die Entscheidung über den Verbleib in der Anstalt den Patienten selbst zu überlassen, sondern sie sind auch chronisch überlastet. Mehr als zwei oder drei Tage können akute Notfälle üblicherweise nicht behandelt werden. Dem späteren Täter hat das vielleicht schon ausgereicht, um an Medikamente und einen Schlafplatz zu gelangen.
Auch die Polizeidienststelle könnte den Angriff des Täters in seiner Gefährlichkeit falsch eingeschätzt haben. Man kann vermuten, dass ihnen der Täter wegen seiner Vorgeschichte bereits bekannt gewesen ist und dass sie ihn wegen seines Verhaltens als einen verrückten Drogenabhängigen eingeordnet haben, vor dem man sich in acht nehmen muss, dem aber ohnehin nicht zu helfen ist. Vielleicht war ihnen auch die Szene am Bahnsteig bekannt, in der sich der Mann entkleidet und damit sozusagen selbst entwaffnet hat. Die Polizei hat ihre Methoden, mit solchen Individuen fertigzuwerden. Sie wird sie nicht in jedem Fall als potentielle Mörder erkennen.
– Offenbar haben Behörden Schwierigkeiten damit, an den Fällen „dranzubleiben“. Die Arbeit der Justiz, aber auch der Vollzugsorgane ist bürokratisch reglementiert und damit in extremer Weise zersplittert. Die Zuständigkeiten sind unübersichtlich und die Kooperation zwischen den einzelnen Stellen wird auch aus rechtlichen Gründen verhindert, beispielsweise durch die Schweigepflicht der Ärzte. Gleichzeitig muss gerade im Strafvollzug aber auch jeder einzelne Schritt, der die Individualrechte der Betroffenen berührt, eigens begründet und angeordnet werden, und zwar immer durch richterlichen Beschluss.
– In einer demokratischen Gesellschaft sind die Verwaltungsbehörden so aufgestellt, dass sie gar nicht eigenständig entscheiden oder handeln dürfen. Die Behörden sind Apparate, die immer nur auf Zuruf, nämlich durch Anweisung des Gesetzgebers in Aktion treten können. Würden sie das nicht tun, wäre ihr Handeln nicht mehr durch Recht und Gesetz legitimiert, sondern der Willkür der Beamten überlassen. Die Apparate dürfen sozusagen keinen eigenen „Willen“ haben und sind deshalb „gleichgültig“ gegenüber den Partialinteressen einzelner Individuen oder gesellschaftlicher Teilgruppen.
– In den westlichen Staaten hat sich die bürokratische „Gleichgültigkeit“ aber so verselbständigt, dass sie jede Festlegung, Konsequenz und Entschiedenheit verhindert. Ein Vorhaben, das einmal in die Mühlen der Verwaltung gerät, ist auf Wochen, Monate oder Jahre hinaus blockiert. Es wird in einem Schwebezustand gehalten, in dem das Verfahren ausschließlich sich selbst genügt und die Verwaltung so tun kann, als wäre sie selbst der erste und einzige Zweck des Staates. Die Verwaltung hat sich zu einem Doppelgänger des Staates entwickelt, der den ursprünglichen Interessen des Staates und seiner Bürger entgegenläuft und diese nur ausbeutet, um sich selbst zu ernähren.
– Vielleicht ist in diesem Zusammenhang die Feststellung angebracht, dass die Flüchtlingskrise nicht nur enorme Verwaltungskosten verursacht, sondern auch zu einem beachtlichen Anwachsen der bürokratischen Apparate geführt hat. Die Bürokratie ist vielleicht der größte Profiteur der Flüchtlingskrise, weil diese nicht nur zusätzliches Geld und Personal in die Apparate gespült hat, sondern auch die Unvermeidbarkeit der Bürokratie bestätigt hat: ihre Notwendigkeit, ihre Unausweichlichkeit, ihre Unantastbarkeit. Die Flüchtlingskrise hat sozusagen den Ewigkeitscharakter der deutschen Bürokratie bestätigt.
– Die Kehrseite besteht darin, dass sich die Flüchtlinge, solange ihr Aufenthaltsstatus ungeklärt ist, in einem unerträglichen Wartezustand befinden. Der Schwebezustand, den ein deutscher Bürger während der Behandlung eines beliebigen Behördengangs erlebt, erstreckt sich bei den Flüchtlingen auf ihre gesamte Existenz. Sie werden in einen Status der Vorläufigkeit, der Unentschiedenheit, der Gleichgültigkeit versetzt, der jedes entschiedene Handeln unmöglich macht: keine Arbeit, keine Wohnung, keine Zukunft.
4. Die Tat
Die Taten in Solingen, Magdeburg, Aschaffenburg bestürzen durch ihre Brutalität und Gewalt. Für gewöhnliche Menschen scheint es unmöglich zu sein, in einem SUV mit hoher Geschwindigkeit über einen Weihnachtsmarkt zu rasen und das Fahrzeug nicht schon nach dem ersten Zusammenstoß anzuhalten. Aus dem Alltag wissen wir, dass schon kleinere Unfälle in Fahrzeuginnern als erhebliche Erschütterungen nicht nur der Karosserie, sondern auch des eigenen Körpers erlebt werden. Wo bleibt also das Miterleben der Täter, wo bleibt ihr Mitgefühl, ihr Mitleid?
Auch bei den Messerattacken in Solingen und Aschaffenburg stellt sich diese Frage. In beiden Fällen hören die Täter nach dem ersten Angriff auf ihr Opfer nicht auf, sondern dehnen diesen Angriff auf weitere Opfer aus, versuchen möglichst viele Menschen zu töten oder zu verletzen. In Aschaffenburg sagen Zeugen aus, der Täter habe wie besessen auf die Kinder eingestochen: Der hörte und hörte nicht auf.
Die Taten erscheinen so entsetzlich, dass man sich am liebsten nicht näher damit befassen möchte, Man befasst sich mit den Tätern, ihrer Herkunft und ihrer Vorgeschichte, man versucht Motive und Beweggründe zu rekonstruieren, man klagt die Behörden an, die die Taten hätten verhindern sollen. Man scheut aber davor zurück, sich die Taten genauer anzusehen. Dabei liegen die Motive in den Taten selbst. Die Taten sind der Schlüssel zur Erklärung. Wenn man die Umstände der Tat kennt, dann kennt man auch ihre Hintergründe.
(1) In Solingen kommt der Täter scheinbar aus dem Nichts. Wir wissen nur wenig über seine Vorgeschichte und er ist im Vorfeld der Tat auch nicht durch Verstöße gegen deutsches Recht aufgefallen. Wir wissen nur, dass sein Asylantrag abgelehnt wurde, dass er gemäß dem Abkommen von Schengen nach Bulgarien überstellt werden sollte, sich der Abschiebung aber entzog. Auf dem Stadtfest hat er scheinbar wahllos auf Zuschauer eingestochen, die vor einer von drei Bühnen einem Rockkonzert zuhörten. Anschließend konnte er unerkannt in der Menge verschwinden.
– Der Täter muss gezielt und rasend schnell vorgegangen sein. Innerhalb kurzer Zeit hat er drei Menschen getötet und acht weitere schwer verletzt. Die Messerstiche zielten offenbar auf den Hals der Opfer und müssen so ausgeführt worden sein, dass in einer Bewegung mehrere Hiebe oder Streiche mit dem Messer erfolgen konnten. Das setzt voraus, dass der Täter über Erfahrungen in Kampftechnik verfügt und den Anschlag im Vorfeld eingeübt hat. Auch das unerkannte Verschwinden vom Tatort deutet auf eine gewisse „Professionalität“ oder Erfahrung des Täters.
– Wichtig ist der Umstand, das die Messerattacke zum Hals der Opfer geführt wurde. Nicht das Herz oder die Brust waren also das Angriffsziel, sondern der Hals. Der Täter wollte offenbar, dass die Opfer ausbluten. Sie wurden im Wortsinne abgeschlachtet, wie Schlachtopfer behandelt. Das „Festival der Vielfalt“ sollte in ein „Schlachtfest“ verwandelt werden. Die Zuordnung zum IS als Auftraggeber besitzt daher eine hohe Plausibilität.
(2) In Magdeburg benutzt der Täter ein PS-starkes SUV als Tatwaffe. Er wählt einen Zugang, der für Rettungsfahrzeuge freigehalten wurde und biegt auf eine „Rettungsgasse“ des Weihnachtsmarktes ein. Anschließend beschleunigt er. Er tötet auf seiner Fahrt sechs Menschen und fügt fast dreihundert (299) Besuchern teils lebensgefährliche Verletzungen zu. Es gelingt ihm noch, über eine Seitengasse den Markt zu verlassen.
– Vom Täter wissen wir, dass er Mediziner ist, sich Fehden mit Behörden und Autoritäten leistet und sich darüber beschwert, wenn Vorgänge nicht schnell genug erledigt werden. Wir können daher annehmen, dass er die Fahrt über den Weihnachtsmarkt in einer imaginierten Funktion als Arzt oder Sanitäter unternommen hat. Der BMW X3 könnte aus der Perspektive des Täters nicht nur ein Mordwerkzeug, sondern gleichzeitig auch so etwas wie ein Rettungsfahrzeug gewesen sein, mit dem er seine Vorrangstellung als Arzt unterstreichen und zum ersten Mal sein Recht auf unbegrenzte Vorfahrt durchsetzen konnte. Die Tat bedeutet so viel wie: Ich bin Arzt, ich habe Vorfahrt, ich will, dass ihr aus dem Weg geht. Es war die Tat eines größenwahnsinnigen Psychopathen.
(3) Der Messerangriff in Aschaffenburg galt möglicherweise zunächst nicht den Kindern. Eine Erzieherin, die die Kinder begleitet hat, sagt aus, dass der Täter der Gruppe einige Zeit nachgestellt hat und sie deshalb versucht hat, den Park mit den Kindern zu verlassen. Die Vorgeschichte des Täters lässt vermuten, dass er sich der Erzieherin annähern oder sie überwältigen wollte. Nachdem es der Frau gelungen war, sich dem Zugriff zu entziehen, hat der Täter sich über die Kinder hergemacht. Die Kinder mussten sozusagen als Ersatzobjekte für eine nicht vollzogene Vergewaltigung herhalten.
– Durch seine Tat sagt der Täter: Wenn ich keine Frau haben kann, dann kann (und soll) es auch keine Kinder geben. Der Mann, der ermordet wird, als er die Kinder schützen will, repräsentiert den Vater und komplettiert das Bild der Tat. Der Täter hat im Stadtpark von Aschaffenburg eine ganze Familie ausgelöscht: nämlich die eigene Familie, die er wohl niemals haben wird.
5. Der gesellschaftliche Kontext
Es muss hier noch einmal darauf hingewiesen werden, dass sämtliche Vermutungen über Motive und Hintergründe der Tat spekulativ sind, solange die Ergebnisse der Ermittlungen nicht abgeschlossen sind oder bekannt gegeben werden. Über die psychologischen Beweggründe lassen sich gesicherte Aussagen darüber hinaus erst nach ausführlichen und intensiven Gesprächen mit den Tätern machen. Solche Explorationen finden sich beispielsweise in den Arbeiten des Psychiaters L. Sohn (2007).
In der öffentlichen Diskussion wird aber weder nach den Motiven der Tat noch nach den jeweiligen Umständen der Tat gefragt. Statt dessen hat sich in der Bevölkerung das Gefühl eingestellt, Flüchtlinge könnten jederzeit und an jedem Ort zuschlagen oder zu Massen-Mördern werden. Die Serie der Anschläge hat das Sicherheitsgefühl der Menschen so sehr beeinträchtigt, dass die Sorge um die eigene Sicherheit diejenige nach den Motiven der Täter überlagert. Forderungen nach Abschiebung straffällig gewordener Flüchtlinge scheinen dabei noch die mildeste Reaktion zu sein. Viele Menschen scheinen inzwischen sogar bereits zu sein, das Asylrecht insgesamt in Frage zu stellen.
Der Anschlag von Aschaffenburg scheint dabei einen Wendepunkt zu markieren, der auch zu erheblichen Veränderungen im politischen Kräfteverhältnis der Parteien führen könnte. Die Situation wirkt so, als hätten sich die politischen Parteien mit ihrer Flüchtlingspolitik ein riesiges Problem eingehandelt und als seien sie durch Fehleinschätzungen und Versäumnisse nun unter Zugzwang geraten. Aus Sicht der Bevölkerung sind die Flüchtlinge mit Abstand das größte Problem, das von den Politikern gelöst werden soll. Offenbar ist man der Ansicht, dass man dieses Problem am besten dadurch löst, dass man die Menschen außer Landes schafft, dass man sie, wie die Schweizer sagen „ausschafft“.
Die Flüchtlinge sind aber nicht das einzige Problem, vor dem Deutschland steht. Die Flüchtlingskrise ist nur die Stelle, an denen diese Probleme am deutlichsten zum Ausdruck kommen. Die Flüchtlingsproblematik wird als die Bruchstelle identifiziert, an der das gesellschaftliche Gefüge zerbrechen könnte. Es wird also so getan, als wären die Flüchtlinge die Verursacher einer Krise, die aber an anderen stellen entstanden ist und die sich die deutsche Gesellschaft zum größten Teil selbst eingebrockt hat. Die Flüchtlingskrise ist die Bühne, auf der die Probleme Deutschlands diskutiert und gleichzeitig weggeredet werden sollen.
Wenn man sich die Taten von Solingen, Magdeburg und Aschaffenburg genauer ansieht, dann lassen sich jedoch immer auch bestimmte Beziehungen zum gesellschaftlichen Kontext und den darin enthaltenen Widersprüchen aufzeigen. Die Taten entstehen nicht im luftleeren Raum und es wäre ein großer Fehler, die Tatmotive ausschließlich mit persönlichen Problemen in der Lebensgeschichte der Täter zusammenzubringen. Man kann die Anschläge vielmehr auch als Antworten auf bestimmte Zustände verstehen, in denen sich die gesamte Gesellschaft befindet. Die Täter reagieren auf bestimmte Schwachstellen im System der Gesellschaft und rücken sie durch ihre Taten in das Bewusstsein der Öffentlichkeit. Erst dadurch erhalten die Taten ihre Wucht und Dramatik. Erst dadurch führen sie zu einer echten Erschütterung des gesellschaftlichen Zusammenhangs.
(1) Am einfachsten lässt sich die Beziehung zu gesellschaftlichen Problemlagen bei der Tat in Solingen aufzeigen. Die Verantwortung für das Attentat ist von einer fundamentalistischen Terrororganisation übernommen worden, deren Wirken zum Zeitpunkt des Anschlags längst aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden war. In der Zwischenzeit haben ehemalige Mitglieder der Organisation die Macht in Syrien übernommen und deutsche Politiker bereits Verhandlungen mit den neuen Machthabern geführt. Würde sich herausstellen, das der Täter in Solingen tatsächlich Verbindungen zum IS gehabt hat, dann ist nicht ausgeschlossen, dass in Zukunft ähnliche Anschläge stattfinden werden.
Entscheidend ist in diesem Zusammenhang aber nicht die Verbindung zum IS, sondern der fundamentalistische Hintergrund der Tat. Ausgerechnet auf einem „Festival der Vielfalt“, auf dem die Ideologie der Toleranz, der Gleichberechtigung und der Diversität gefeiert werden soll, schlägt der Anhänger einer fundamentalistischen Glaubensrichtung zu und sprengt das Fest. Die Tat von Solingen macht deutlich, dass Vielfalt allein noch keine Garantie für ein friedliches Zusammenleben sein kann.
Die Ideologie der Vielfalt und der Fundamentalismus gehören dabei zusammen. Es ist nicht so, als würde der Fundamentalismus von außen in eine tolerante und freiheitliche Gesellschaft importiert. Der Fundamentalismus entsteht vielmehr, wenn das Bekenntnis zur Freiheit dazu führt, dass entschiedene Festlegungen und Richtungen vermieden und statt dessen alles gleichzeitig passieren und möglich gemacht werden soll. Das führt nicht nur dazu, dass die Qualität der Stadtfeste nachlässt und die Auftritte der Musikgruppen immer langweiliger werden, sondern dass Begrenzungen auf einmal mit Härte und Gewalt durchgesetzt werden sollen. Der Fundamentalismus ist das Gespenst einer Freiheit, die sich nicht festlegen will und für die alles gleich-gültig sein soll.
(2) Im Zusammenhang mit dem Fall in Magdeburg wurde bereits auf die Probleme der Bürokratie und der Apparate hingewiesen. Die Schwierigkeiten scheinen hier mit dem Aufteilen, Isolieren und Entkoppeln von Lebenszusammenhängen zu tun zu haben. Den Behörden fällt es schwer, an einem Fall „dranzubleiben“, aber auch der Täter hat Schwierigkeiten, eine zusammenhängende Lebensperspektive zu entwickeln. Der Kontext von Arbeit und Beruf ist durch Spezialisierung und Parzellierung der Verantwortung gekennzeichnet und selbst die ärztliche Tätigkeit, die einmal zu den „freien“ Berufen gehörte, wird immer mehr in die Logik rationaler Kontrolle und Verwaltung eingezwängt. Hinzu kommen Dauerprüfungen und Formalismus, gleichzeitig aber auch immer wieder Versuche, die bürokratischen Regeln zu umgehen oder abzukürzen.
Jeder, der einmal mit der Verwaltung zu tun hatte, kennt den Wunsch, den Chef zu rufen, der dem endlosen Verteilen von Zuständigkeiten ein Ende bereiten soll. Den Chef gibt es aber nicht mehr, er hat sich hinter anonyme Dienste und IT-Systeme zurückgezogen. Führung und Verantwortung erfolgen sozusagen nur noch indirekt, sie haben kein persönliches Gesicht mehr. Ausflippen, Zuschlagen, Herumschreien sind eigentlich Versuche, den Systemen eine persönliche Antwort abzuringen. Gewalt und Amokläufe kommen auch hier nicht von außen, sie entstehen im Kern der Systeme selbst.
(3) In Aschaffenburg bezieht sich die Tat auf sehr kleine Kinder, auf einen Mann, der die Kinder schützen will und auf eine Erzieherin, die um ihr Leben fürchtet und flieht. Es geht auch um einen Täter, von dem wir angenommen haben, dass er sich die Frauen mit Gewalt nehmen will und selbst Kinder zeugen will. Es geht eigentlich um die sehr banale Frage, woher die Kinder kommen.
– In Deutschland kommen immer noch Kinder auf die Welt, aber seit den 70er Jahren kommen zu wenige. Es gibt nicht genug Kinder, die in der nachfolgenden Generation die ausscheidenden Arbeitskräfte ersetzen und die Rentenkassen füllen können. Deshalb setzt Deutschland darauf, die Arbeitskräfte aus dem Ausland zu importieren. Ohne diese Arbeitskräfte würden Unternehmen und Betriebe, aber auch die staatlichen Apparate längst nicht mehr funktionieren. Die deutsche Arbeitsgesellschaft existiert nur, weil Deutschland ein Einwanderungsland ist.
– Im Kontext der Flüchtlingskrise hat die Merkel-Regierung die Grenzen geöffnet und auf diese Weise zu gesellschaftlichen Verwerfungen nicht nur in Deutschland, sondern in allen Ländern Europas gesorgt. Merkel hat selbst keine Kinder, sie hat aber Deutschland dazu gezwungen, von heute auf morgen sehr viele Landes-Kinder aufzunehmen. Dass Kinder, aber auch Flüchtlinge, wenn sie in Massen eintreffen, sehr viel Arbeit machen, hat die Kanzlerin nicht bedacht. Sie hat geglaubt, durch ein wenig guten Willen und viel Geld ließe sich das Problem schon lösen.
(4) Die Politik der offenen Grenzen entspricht der Ideologie des Neoliberalismus und der Globalisierung. Angesichts der Bedingungen, die für die Existenz eines Staates lebensnotwendig sind, besitzt eine solche Politik geradezu selbstmörderische Züge. Sie zeugt vom Größenwahn einer Nation, die sich vor genau zehn Jahren auf dem Höhepunkt ihrer politischen und wirtschaftlichen Macht befand, dabei aber die Anzeichen für das bevorstehende Ende der neoliberalen Weltordnung nicht zur Kenntnis nehmen wollte. Merkel hat Deutschland an die Spitze Europas geführt, sie hat aber auch die Auflösung der gesellschaftlichen Kohäsion eingeleitet.
Der wirtschaftliche und gesellschaftliche Kollaps steht Deutschland allerdings noch bevor. Er wird sich als Folge des Krieges in der Ukraine einstellen, zu politischen Dauer-Krisen und zum Zerfall überstaatlicher Organisationen wie der EU und der NATO führen. Die Anzahl von Amokläufen und Attentaten werden in Zukunft weiter zunehmen, aber auch die Panik unter den politischen Eliten und Entscheidungsträgern. Die Unberechenbarkeit, die gegenwärtig dem amerikanischen Präsidenten zugeschrieben wird, gehört künftig zum Dauerzustand auch des europäischen Politikbetriebs. Die Menschen werden damit leben müssen, dass politische Entscheidungen in der Logik von Panikattacken oder Suizidversuchen getroffen werden.
Die Diskussion um die Flüchtlingskrise stellt zu diesen Entwicklungen lediglich die Ouvertüre dar. Sie signalisiert das Ende einer Ära, in der die Menschen gedacht haben, sie könnten vom Staat leben, ohne an den Staat zu glauben. Die Attentate zeigen, dass eine solche Gesellschaft weder in der Lage ist, sich selbst zu schützen noch erkennen kann, wie sie eine gemeinsame Zukunft gestalten soll.
Agamben, Giorgio (2002): Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Augé, Marc (1994): Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit. Frankfurt: Fischer.
Ehrenberg, Alain (1998): La Fatigue d’être soi. Zitiert nach: Elisabeth Roudinesco (2002): Wozu Psychoanalyse? Stuttgart: Klett, S. 20.
Sohn, Leslie (2007): Grundlose Angriffe. Zum Verständnis scheinbar zufälliger Gewalt. Jahrbuch der Psychoanalyse, 55, 9-36.
Süddeutsche Zeitung (2025): Warnung vor Anschlagsplan auch aus NRW. Ausgabe vom 23.01.2025. URL: https://www.sueddeutsche.de/politik/innenausschuss-magdeburger-attentat-warnung-vor-anschlagsplan-auch-aus-nrw-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-250123-930-353472
Bildnachweis:
Roy Zuo: Citizens mourning victims of Magdeburg Christmas market attack on Christmas Eve 2024. Quelle: Wikimedia Commons. URL: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:(202412)_Christmas_Eve_Magdeburg_mourning_02.jpg?uselang=de