Schule als Virenschleuder

Schule als Virenschleuder: Über die Denunziation der jungen Generation 

(1) Auf einer Pressekonferenz erklärt der Gesundheitsminister, die Schulen wären so etwas wie „Drehscheiben“, über die das Virus in die Familien verteilt und von den Jüngeren an die Älteren weitergegeben würden. Spahn benutzt das Argument, um erneut für die Impfung von Kindern und Jugendlichen zu werben. Allerdings hat er dabei nicht das Wohl der Kinder, sondern in erster Linie das der Erwachsenen im Blick. Die Schule ist nach seiner Ansicht „vor allem ein Risiko für die Älteren“.

Wie gewöhnlich belegt der Gesundheitsminister seine Aussagen nicht mit empirischen Daten (vgl. dagegen Heudorf & Gottschalk 2021). Er hat inzwischen einen Status erreicht, in dem er wahrscheinlich auch behaupten könnte, das Virus würde durch den Regen verteilt und man müsste die Republik durch eine Glaskuppel schützen. Wenn es um die Gesundheit geht, setzt gegenwärtig bei vielen Menschen das Denken aus und sie werden wieder gläubig. 

Das Bild von der Drehscheibe ist trotzdem nicht schlecht. Wir kennen Drehscheiben von der Eisenbahn, wo sie zum Umsetzen von Lokomotiven genutzt werden. Auch bei der Verbindung von Gelenkwagen, bei Aufzügen oder Fahrgeschäften auf der Kirmes spielen Drehscheiben eine Rolle. Im übertragenen Sinne werden Flughäfen oder Bahnhöfe als Verkehrs- und Transport-Drehscheiben bezeichnet. Im deutschen Fernsehen gibt es sogar eine Nachrichtensendung mit demselben Namen.

Man kann sich gut vorstellen, dass eine nach biologischen Gesichtspunkten konstruierte Drehscheibe in der Lage wäre, ein Virus nach allen Richtungen zu verteilen. Eltern wissen aus eigener leidvoller Erfahrung, dass vor allem Kinder im Vorschulalter jede Erkältung oder Grippe, die gerade im Kindergarten grassiert, mit nach Hause bringen und auf diese Weise für Vermehrung, Erhaltung oder Mutation des jeweiligen Virus sorgen. Im Blick der Eltern wird aus der Drehscheibe dann so etwas wie ein schnell rotierendes Karussell oder das, was manchmal auch eine „Virenschleuder“ genannt wird.

(2) Das Bild der Drehscheibe trifft auch die gesellschaftliche Konstruktion der Schule. Entgegen einer verbreiteten Annahme ist die Schule keine isolierte Anstalt, in der die Kinder, abgeschlossen von der Außenwelt, ein paar Jahre Lebenszeit absitzen müssen. Die Schule ist vielmehr nur deshalb denkbar, weil sie mit anderen gesellschaftlichen Einrichtungen und Institutionen verbunden ist. Sie ist eine Drehscheibe, auf der die Kinder aus dem kleinen Kreis der Familie auf das größere Gleis der Gesellschaft „umgesetzt“ werden.

Dieses „Umsetzen“ dauert in modernen Gesellschaften zehn bis dreizehn Jahre und wird in dieser Zeit zu wesentlichen Anteilen von den Familien mitgetragen. Ohne Eltern, und heute zunehmend auch ohne Großeltern, die die Kinder am Morgen wecken und anziehen, die sie am Nachmittag von der Schule abholen, die Hausaufgaben kontrollieren, Hefte und Schreibmaterial besorgen, die den Kindern Mut zusprechen oder sie ermahnen, die sich regelmäßig zu Sprechtagen, zu Grillfesten und Theateraufführungen einfinden: ohne die vielen kleinen und großen Alltags-Leistungen, ohne finanziellen und persönlichen Einsatz der Eltern wäre Schule überhaupt nicht denkbar (vgl. Tyrell 1987).

Auch in der gegenwärtigen Krise hätten die Schulen ihren Betrieb ohne den erheblichen Beitrag von Eltern und Familien nicht aufrecht erhalten können. Ohne zu klagen, haben die Eltern während des sogenannten „Distanzunterrichts“ Betriebsräume und Betriebsmittel zur Verfügung gestellt, die üblicherweise von den Schulen bereitgestellt werden müssen. Sie haben dafür gesorgt, dass die Kinder zu jeder Unterrichtsstunde pünktlich am Platz sitzen, dass sie dem Online-Vortrag des Lehrers folgen, dass sie in den Pausen genügend zu essen und zu trinken bekommen, dass sie bei alledem nicht den Mut verlieren oder über den erheblich eingeschränkten Bewegungs- und Kontaktmöglichkeiten verzweifeln.

Im Grunde haben Eltern und Familien während der Krise das Geschäft der Schule und der Lehrer zu wesentlichen Anteilen übernommen. Die Schule hat Ressourcen und den vom Staat garantierten Bildungsauftrag über lange Zeiträume faktisch an die Familien zurückgegeben, ohne den Eltern dafür einen angemessenen Ausgleich zu verschaffen. Statt dessen hält man ihnen vor, dass das alles noch zu wenig sei, dass die Kinder dem ungewohnten Setting des Distanzunterrichts nicht angemessen folgen, dass die Leistungen immer noch nicht ausreichen oder manche Kinder im Verlauf der Krise für die Schule „verloren“ gegangen seien. Die Schule hat den staatlichen Erziehungsauftrag privatisiert und beklagt sich anschließend darüber, dass viele Familien über der zusätzlichen Last zerbrechen (vgl. hier den Blog-Beitrag zur Online-Schule). 

(3) Die andere Seite der Drehscheibe besteht natürlich darin, dass die Schule in einer funktionierenden Gesellschaft auch wesentliche Entwicklungsleistungen für die Familien bereitstellt. Das „Umsetzen“ der Kinder in den größeren Kreis der Gesellschaft enthält eine biographisch und kulturell ausgesprochen wertvolle Möglichkeit, die eingefahrenen Geleise des Familienbetriebs zu verlassen. Die Schule ist für die Individuen sozusagen eine „zweite Chance“, die aus psychologischer Sicht auch die Perspektive enthält, sich von neurotischen Einschränkungen und Verstrickungen des Familiensystems zu befreien (M. Erdheim 1982).

Was viele Eltern als Bürde und Belastung erleben, hat im Interesse der Kinder daher durchaus seinen Sinn. Die Schule ist in den Familien eigentlich im Sinne eines dauerhaften Entwicklungs-Korrektivs präsent: mit Dauer-Aufforderungen zur Teilnahme an kleinen oder großen Veranstaltungen; mit der Dauer-Sorge um Schulleistungen und Noten; mit Dauer-Konflikten, die im Kreis der Mitschüler oder Lehrkräfte ausgetragen werden müssen; mit der Dauer-Frage, ob das eigene Kind den Anforderungen gewachsen ist oder am Ende vielleicht doch scheitern wird.

Die seelische Dynamik, die Ängste und Verzweiflungen, die Wut und der Ärger, der die Konfrontation mit den Anforderungen der Schule in den Familien auslöst, das alles ist auch in der wissenschaftlichen Literatur bisher erst in Ansätzen beschrieben worden. Die Dynamik wird in den Familien normalerweise sorgsam versteckt und geheim gehalten, denn die Schule konfrontiert die Familien immer auch mit der Frage, ob ihr eigener Lebensentwurf „anschlussfähig“ an das jeweils gültige Muster der Gesellschaft ist. Die Schule hält den Familien sozusagen den Spiegel der Gesellschaft vor und zwingt sie zu Überprüfungen der eigenen Entwicklungstauglichkeit (Ley 2012).

Solange die Schule sich als Teil einer einigermaßen liberalen und offenen Gesellschaft versteht, ist das eigentlich kein schlechtes Modell. Die Schule lässt den Familien ihre Rechte und bietet den Kindern zugleich die Chance, sich anders oder neu zu orientieren. Sie zwingt niemandem eine bestimmte Lebensweise auf, sondern stellt eine „Drehscheibe“ zur Verfügung, die zwischen der alten und der jungen Generation vermittelt. Die Konstruktion einer solchen Drehscheibe kann man daher auch als einen zentralen Entwicklungsmotor der Gesellschaft auffassen.

(4) Auch wenn der Gesundheitsminister von dieser gesellschaftlichen Bedeutung der Schule mit hoher Wahrscheinlichkeit keine Ahnung hat, so hat er mit der Drehscheibe doch instinktiv ein starkes Bild gewählt. Leider benutzt er das Bild aber dazu, genau das Gegenteil von dem zu fordern, was eine Drehscheibe sein will: Die Drehscheibe ist ein perfektes Bild für den Austausch und die Verbindung zwischen unterschiedlichen Systemen. Wenn man davon ausgeht, dass bei diesem Austausch Viren und Krankheiten verbreitet werden, muss man diesen Austausch natürlich unterbinden. Man muss die Drehscheibe anhalten oder stilllegen.

Die Aufforderung zum Durchimpfen von Kindern und Jugendlichen erfüllt unter dieser Voraussetzung eine ähnliche Funktion wie die Masken und die Abstands- und Hygieneregeln. Der Austausch zwischen den Jungen und den Alten soll verhindert und möglichst unterbunden werden. Das Impfen bedeutet, dass die beiden Systeme gegeneinander „immun“ gemacht werden sollen. Vor allem die Älteren sollen gegen eine Beeinflussung durch die Jüngeren geschützt werden.

Wie schon bei den früheren Maßnahmen stellt sich allerdings auch beim Impfen die Frage, warum der Minister nur an die Alten denkt, die geschützt werden müssen. Offenbar geht er davon aus, dass die Jungen robust genug sind, eine Infektion zu verarbeiten, er unterstellt ihnen aber gleichzeitig, dass sie das Virus weitergeben und verbreiten könnten, ohne selbst daran zu erkranken. Um die Weitergabe und Verbreitung zu verhindern, verlangt er eine flächendeckende Impfung der Kinder, die nach seinen Vorstellungen demnächst auch die Voraussetzung für eine Wiederaufnahme des Präsenzunterrichts sein soll.

Für die medizinischen Annahmen, die dieser Konstruktion zugrunde liegen, gibt es bisher, wie schon erwähnt, keine zureichenden empirischen Beweise. Wir müssen deshalb davon ausgehen, dass die scheinbar nur an medizinischen Zusammenhängen orientierte Argumentation des Ministers von irrationalen Phantasien und Motive beherrscht wird, die auch das Bild der Schule und der Kinder verzerren und ins Negative drehen: Ganz offensichtlich werden die Jungen hier nicht in ihrem Veränderungs- und Verwandlungspotential verstanden, sondern einzig und allein in ihrer Potenz für die Zerstörung von Altem und Altherhergebrachtem. Es ist das Bild von den Heranwachsenden als den „Zerstörern“ der Gesellschaft, auf das sich der Minister implizit beruft.

(5) M. Erdheim (1982) hat darauf hingewiesen, dass der Mythos von den Kindern als „Zerstörern“ der Gesellschaft häufig einen Ersatz für Zerstörungsphantasien darstellt, die sich gegen die eigene Familie richten und die Ablösung von der Herkunftsfamilie verhindern. Die Entwicklung solcher Kinder und Jugendlichen mündet nach dieser Ansicht häufig in einer „zerbrochenen Adoleszenz“, die durch Schuldgefühle und die Unfähigkeit gekennzeichnet ist, einen für die Gesellschaft produktiven oder „generativen“ Lebensentwurf zu wählen.

Wenn wir diese Einschätzung mit den Konsequenzen zusammenbringen, die aus den Überlegungen des Ministers für das System der Schule und der Erziehung resultieren, dann müssen wir in dem Virus einen Vorwand für die Belebung einer Zerstörungsphantasie erkennen. Es geht hier nur vordergründig um den Schutz der älteren Generation. Indem vor der Infektion der Alten gewarnt wird, wird gleichzeitig auch die produktive Kraft der Jungen als eine gesellschaftliche Gefahr markiert und von einem Austausch mit den übrigen Bereichen der Gesellschaft abgetrennt. Der „Krieg“ gegen das Virus ist zugleich ein Krieg gegen die junge Generation.

Sie ist darüber hinaus aber auch ein Krieg gegen die Institutionen, in denen Staat und Gesellschaft in der Vergangenheit das Verhältnis der Generationen vermittelt haben. Eine Gesellschaft, die ihre Schulen schließt, behindert mehr als nur die Vermittlung von Wissen oder Kompetenzen. Sie verhindert auch den Austausch und die Vermittlung des Generationenverhältnisses, von der die Zukunft einer Gesellschaft abhängen. Sie zerstört ihre eigene Zukunftsfähigkeit.

Je länger die Krise andauert, um so deutlicher werden die Schäden, die der Krieg gegen das Virus anrichtet. Das Auseinanderreißen der Generationen, wie es in den Kindergärten, in den Schulen und Universitäten praktiziert wird, hat ebenso verheerende Folgen wie das Auseinanderreißen der Betriebs- und Lieferketten in der Wirtschaft. Die gegenwärtige Krise entwickelt sich immer mehr zu einem gigantischen Feldzug gegen die Institutionen, die das Leben in unserer Gesellschaft bisher zusammengehalten haben.

 

Erdheim, Mario (1982): Die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit. Eine Einführung in den ethnopsychoanalytischen Prozeß. Frankfurt/ Main: Suhrkamp.

Heudorf, Ursel; Gottschalk, René (2021): SARS-CoV-2 und die Schulen – Was sagen die Daten? Hessisches Ärzteblatt 6, 2021, 356-359. URL: https://www.laekh.de/fileadmin/user_upload/Aktuelles/2021/Aktuelles_2021_05_06_Heudorf_Gottschalk.pdf

Ley, Michael (2012): Geteilte Erziehung. Psychologische Untersuchungen über das schwierige Verhältnis von Familie und Schule. In: Engagement, S. 105-114.

Tyrell, Hartmann (1987): Die ‚Anpassung‘ der Familie an die Schule. In: J. Oelkers et al. (Hrsg.), Pädagogik, Erziehungswissenschaft und Systemtheorie. Weinheim et al.: Beltz, S. 102-124.

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