Pique-nique geant

Pique-nique geant: Über Verwandtschaft durch Haferbrei

(1) Die Franzosen schon wieder. Seit Mitte Juli gehen die Bürger unseres Nachbarlandes auf die Straße, um gegen den „passe sanitaire“ zu protestieren: lautstark, mit Plakaten und Transparenten, unmaskiert. Parallel dazu laufen alle möglichen Formen des stillen Protests: in der Provinz lässt man sich das Zusammenleben auf öffentlichen Plätzen nicht nehmen; in Paris und anderen Großstädten lassen Tanz-Happennings für einen Moment die Hoffnung auf ein Leben ohne Corona aufleben.

In der vergangenen Woche war Reims an der Reihe. Mindestens zweihundert Menschen versammelten sich zu einem Picknick auf einem zentralen Platz der Stadt, der nicht nur Ausgeh- und Flaniermeile ist, sondern auch für Veranstaltungen, Feste und Demonstrationen genutzt wird. Dieses Mal blieben die Restaurants jedoch leer. Statt an gedeckten Tischen kamen die Menschen zu einer gemeinsamen Mahlzeit auf den Steinplatten in der Mitte des Place Drouet-d’Erlon zusammen. Sie hatten Decken, Speisen und Getränke mitgebracht, saßen in kleinen Gruppen auf dem Boden, unterhielten sich mit ihren Nachbarn und ließen es sich schmecken: Eltern mit Kindern, Alte und Junge, Männer und Frauen.

Wie man von den Veranstaltern der Aktion erfahren konnte, fanden auf dem Platz sowohl Geimpfte als auch Ungeimpfte zusammen. Weil das nach den strengen Vorgaben der Regierung in den Restaurants nicht mehr möglich war, hatten die Franzosen ihre Mahlzeit einfach von den Rändern in die Mitte des Platzes verlegt, wo die Kontrollmaßnahmen nicht mehr greifen konnten. Sie hatten eine Nische gefunden, in der sie ihre Freiheitsrechte publikumswirksam in Szene setzen konnten.

(2) Bei Reisen nach Frankreich war uns aufgefallen, dass die Franzosen die Vorgaben der Regierung zwar respektieren, dass sie sich aber weigern, der Corona-Hysterie ihren Alltag zu opfern. Im Unterschied zu den Deutschen, die gar nicht genug davon bekommen, ihr Leben in kleine Kästchen zu zerteilen, versuchen die Franzosen die Lebensformen zu erhalten, in denen sich der Alltag der Menschen nun einmal abspielt: das Essen und Trinken, die gemeinsamen Gespräche, die Feste und Feiern.

Die Aktion in Reims zeigt darüber hinaus, dass in solchen Formen offenbar auch der Zusammenhalt einer Gesellschaft begründet ist. Wenn die Menschen zum Essen zusammenkommen, dann sind Trennungen nach dem Muster von 3G unsinnig. 3G, das ist wahrscheinlich nicht zufällig eine Anleihe bei der Telekommunikationstechnik, mit deren Hilfe wir zwar um die ganze Welt telefonieren können, aber trotzdem nicht wissen, wie wir im Gespräch den richtigen Ton finden. Eine Gesellschaft, die sich ihre Seinszustände von Technologen und Technokraten vorschreiben lässt, darf sich nicht wundern, wenn ihr dabei auch der Sinn für Gemeinsamkeiten abhanden kommt.

Die meisten Franzosen haben jedenfalls keine Lust darauf, sich von ihren Polit-Funktionären auseinander dividieren zu lassen. Die Leute können sich impfen lassen, aber natürlich lässt man auch die Ungeimpften leben. Warum sollte man es machen wie bei Animal Farm und die Kampfhunde auf die eigenen Leute hetzen? Warum soll man sich über einer Frage entzweien, die man viel besser bei einem Glas Wein und einem guten Gespräch diskutieren kann? Der Zusammenhalt von Familien oder Freundschaften ist wichtiger als die Ideologie, die einem die Politiker unterjubeln wollen.

(3) Dass sich der Protest gegen die Regierung in einem gemeinsamen Essen zum Ausdruck bringt, hat natürlich noch eine andere Seite. Das Essen steht nämlich am Anfang einer jeden Gesellschaft. Kultur ist „Verwandtschaft durch Haferbrei“, hat der französische Soziologe Kaufmann (2005) – unter Verweis auf A. Richards (1932) – in einer Monographie über das Essen und das Kochen geschrieben. Er hat damit gemeint, dass das Bewusstsein gesellschaftlicher Einheit nicht vom Himmel fällt, sondern durch bestimmte Formen von Vertrautheit und Verlässlichkeit überhaupt erst hergestellt werden muss. Das gemeinsame Teilen der Mahlzeit ist die erste und grundlegende Form, in der die Vertrautheit zwischen den Angehörigen einer Kultur bestätigt wird.

Das gemeinsame Mahl ist dabei vor allem auch eine Form, in der die eigenen Leidenschaften vermittelt und „kultiviert“ werden können. Wenn wir zusammen mit anderen Menschen essen und trinken, dann lernen wir, dem anderen zuzuhören, ihm im Austausch für Salz und Pfeffer die Butter zu reichen und das Messer ausschließlich zum Schneiden von Fleisch zu benutzen. Wir lernen nicht nur, unsere Tischsitten zu verfeinern, sondern bezwingen gleichzeitig auch unser Verlangen, über den anderen herzufallen und ihn uns in Liebe oder Hass auf direktem Wege „einzuverleiben“ (vgl. Elias 1939).

Essen und Trinken dienen deshalb nicht nur der Ernährung der Menschen, sondern sie bilden auch die „Nahrung“ einer gemeinsamen Kultur. Eine Kultur, in der die Menschen nicht mehr gemeinsam an einem Tisch zusammenfinden, zerfällt. Deshalb ist es auch so gefährlich, die Ungeimpften vom Essen in den Restaurants auszuschließen. Die 2G-Regel ist ein Sprengsatz, ein gefährlicher Anschlag auf das Zusammenleben einer Gesellschaft.

(4) In der Kathedrale von Reims wurden seit den Zeiten Karls des Großen bis ins 19. Jahrhundert hinein die französischen Könige gesalbt. Auch das hat mehr mit dem gemeinsamen Essen zu tun, als es auf den ersten Blick scheint, denn die Sitten und Gebräuche, die uns heute beim Essen wichtig sind, wurden in erster Linie an den Königshöfen und im Kontext religiöser Praktiken entwickelt. Die Zauberer und Priester hatten das Privileg, die „Tabus“ festzulegen, die bei den Mahlzeiten zu beachten waren; die Fürsten und Könige nahmen für sich in Anspruch, den Besitz an Lebens- und Nahrungsmitteln eines Volkes zu beschlagnahmen und nach den Regeln der jeweiligen Feudalordnung zu verteilen – wobei es immer einige gab, die mehr als die anderen bekamen.

Nicht weit von Reims liegt auch das Dorf, in dem Jeanne d’Arc geboren wurde. Auf den Feldern, auf denen ihr Vater Getreide und Gemüse anbaute, glaubte das junge Mädchen die Stimmen der heiligen Katharina und des Erzengels Michael zu hören, die offenbar der Meinung waren, dass es mit der Verteilung der Reichtümer im damaligen Frankreich nicht gut bestellt war. Die Engländer hatten die Rede von der „Verwandtschaft durch Haferbrei“ nämlich offenbar in ihrem Sinne ausgelegt und waren der Ansicht, dass ihr eigener Familientisch bis nach Frankreich reichen würde.

Die Franzosen brauchten hundert Jahre, um die Engländer davon zu überzeugen, dass sie in dieser Angelegenheit von falschen Voraussetzungen ausgingen. Das junge Mädchen aus Lothringen kam ihnen dabei sehr gelegen, denn die feindlichen Truppen hatten inzwischen große Teile Frankreichs besetzt und die Moral der eigenen Truppen lag am Boden. Die himmlischen Stimmen und die Begeisterung der Johanna sorgten dagegen für eine entscheidende Wende. Die Engländer wurden bei Orléans besiegt und damit war der Weg frei nach Reims, wo der Dauphin in guter Tradition zum neuen König von Frankreich gesalbt wurde.

Die katholische Kirche war allerdings nicht gerade begeistert, denn sie hatte sich ein Privileg auf himmlische Stimmen gesichert und war darüber auch an der Verteilung der Tischgesellschaften und der Lebensmittel im Lande beteiligt. Weil die Kirche nicht zulassen konnte, dass ihr dieses Privileg von einem Bauernmädchen abgejagt wurde, fand Johanna ein schlimmes Ende auf dem Scheiterhaufen. Leider gewöhnten es sich in den folgenden Jahrhunderten die meisten Menschen ab, auf äußere oder innere Stimmen zu hören. Wer fortan auftrat wie die heilige Johanna, wurde entweder für verrückt erklärt oder zu einem Fall für den Verfassungsschutz, der solche Fälle unter dem Tatbestand der Delegitimierung von Staatsorganen verfolgte.

(5) Die Macht der Könige und der Kirchen ist heute gebrochen, und auch daran hatten die Franzosen wiederum sehr großen Anteil. Allerdings gibt es auch heute noch Clans und Kartelle, die für sich beanspruchen, den Reichtum der Völker unter sich aufzuteilen. Das sind nicht mehr die Feudalherrscher der Geschichte, sondern die Machtkartelle, die dem Volk im Namen von Pfizer, Biontech, Blackrock oder Bertelsmann nicht nur vorschreiben wollen, wer mit wem die gemeinsamen Mahlzeiten teilen darf, sondern die den Menschen anschließend auch noch die Rechnung für die Einschränkungen präsentieren, die ihnen willkürlich auferlegt wurden.

Ähnlich wie im Mittelalter die französischen Könige haben auch die gewählten Vertreter des Volkes gegenwärtig keine Idee davon, wie sie mit der Situation fertigwerden sollen. Weit und breit ist auch keine Johanna zu sehen, die statt auf das Geheul der Angst- und Panikmacher auf ihre innere Stimme hört. Statt dessen zeigen sich alle wie gelähmt von den vielen Tabus, die ihnen durch die neuzeitlichen Feudalherren auferlegt werden. Unter dem Einfluss der Tabus glauben sie daran, dass sie sich voneinander trennen müssen, anstatt sich zum gemeinsamen Gastmahl einzufinden.

Vielleicht zeigt die kleine Aktion in Reims, wie man aus dieser verfahrenen Lage wieder herauskommen kann. Solange es keine neue Johanna gibt, wird man den Krieg gegen die Mächtigen nicht gewinnen können. Man kann aber versuchen, noch einmal zu den Anfängen der menschlichen Kultur zurückzukehren und mit anderen das Essen zu teilen: wenn es sein muss, dann eben auf dem nackten Boden, ohne Tische und Stühle, als „Verwandtschaft durch Haferbrei“.

 

Video-Ausschnitt der Aktion in Reims: Twitter

Kaufmann, Jean-Claude (2005): Kochende Leidenschaft. Soziologie vom Kochen und Essen. Konstanz (2006): UVK Verlagsgesellschaft.

Elias, Norbert (1939): Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Frankfurt/ Main (1976): Suhrkamp.

Richards, Audrey (1932): Hunger and Work in a Savage Tribe. A Functional Study of Nutrition Among the Southern Bantu. London (2003): Routledge.

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