Neujahrskracher

Neujahrskracher – Über eine Entgleisung des französischen Staatspräsidenten

(1) Zuscheißen, diesen Ausdruck hat der französische Präsident zu Beginn des neuen Jahres in einem Beitrag für die Tageszeitung „Le Parisien“ gleich mehrfach wiederholt. „Ich habe nicht übel Lust, die Ungeimpften zuzuscheißen.“ Nicht „nerven“, „ärgern“ oder „belästigen“, wie die freundliche Übersetzung in den deutschen Medien lautet, sondern zuscheißen: „Les non-vaccinés, j’ai très envie de les emmerder.“

In dem Interview fügt Macron noch zwei weitere Dinge hinzu. Er sagt, dass die Ungeimpften in seinen Augen eine immense moralische Schuld („une immense faute morale“) auf sich laden würden. Sie hätten die Absicht, die größte Stärke einer jeden Nation zu untergraben, nämlich die Verantwortung für andere. Wer sich aber weigere, Verantwortung zu übernehmen, der sei für ihn kein Bürger mehr: „Un irresponsable n’est plus un citoyen.“

Schließlich kündigt er an, wie er sich das Leben der Ungeimpften in Zukunft vorstellt. Der Staat werde sie nicht ins Gefängnis werfen und sie auch nicht gewaltsam zum Impfen zwingen. Man werde ihnen aber den Zugang zu allem verwehren, was das freie Leben in einer bürgerlichen Gesellschaft ausmacht: „Ab dem 15. Januar könnt ihr nicht mehr ins Restaurant gehen, ihr könnt keinen Rotwein mehr trinken, ihr könnt nicht mehr Kaffee trinken gehen, ihr könnt nicht mehr ins Theater gehen, ihr könnt nicht mehr ins Kino gehen…“

(2) Mit seinen Aussagen knöpft sich der Staatspräsident gleich eine ganze Reihe ehrwürdiger Institutionen der französischen Gesellschaft vor. Insbesondere die Attacke auf den „citoyen“ hat es in sich, denn der Citoyen gilt in Frankreich als Ehrentitel. Während der französischen Revolution ersetzte die Anrede als „citoyen“ die herkömmlichen Anredeformen, in denen noch der Respekt vor den geistlichen oder den weltlichen „Herren“ zum Ausdruck kam. Der „citoyen“ war dagegen ein Zeichen dafür, dass in der neuen Gesellschaft alle Bürger gleiche Rechte beanspruchen konnten. Die Anrede als Citoyen besiegelte sozusagen das Ende der Feudalgesellschaft und des Absolutismus.

Im Begriff des Citoyens lebt bis heute das Bewusstsein der französischen Revolution und der Stolz auf die erkämpften Freiheits- und Menschenrechte weiter. Der Citoyen, das ist nicht einfach der Staatsbürger, sondern das ist der politisch mündige, der freie und der aktiv am Gemeinwohl partizipierende Bürger (Wach 2020). Der Begriff sagt einerseits etwas über die Rolle und das Selbstverständnis der Bürger in einer demokratischen Gesellschaft aus. Er sagt aber andererseits auch etwas über die Aufgaben des Staates aus, der diese Rolle anerkennen und schützen muss. Nicht der Staat gewährt dem Citoyen seine bürgerlichen Freiheiten, sondern der Citoyen gewährt umgekehrt dem Staat das Recht, diese Freiheit nach bestimmten Regeln und im Gesamtinteresse aller Bürger zu ordnen, zu begrenzen, zu formen und zu gestalten.

Der französische Citoyen ist daher das genaue Gegenstück zum deutschen „Untertan“, der alles hinnimmt, was ihm Staat, Politik und Verwaltung jeweils vorschreiben (Frank 2004). Der Citoyen erkennt die Zentralgewalt zwar an, aber er identifiziert sich nie so weit damit, dass er dazu keine eigene Meinung hat. Politische Teilhabe fängt für den französischen Bürger damit an, sich über gesellschaftliche Fragen zu streiten, gegensätzliche Meinungen anzuerkennen und bestehende Konflikte nicht unter den Teppich zu kehren. Über die Behauptung von Politikern, in der gegenwärtigen Gesellschaft gebe es keine Widersprüche, würde ein halbwegs gebildeter Citoyen nur verwundert die Stirn runzeln.

Das alles ist auch der Grund dafür, warum der Besuch von Restaurants, Kneipen oder Cafés ein Teil der politischen Kultur in Frankreich ist. Die Franzosen trinken den Wein nicht nur deshalb, weil sie sich daran berauschen wollen. Entscheidend ist vielmehr der ganze Rahmen, der das Gespräch, den Austausch und den Dialog mit anderen, häufig auch mit Fremden fördert. Das Café, die Restaurants und auch die Theater und die Kinos sind die Nachfahren der literarischen Salons und der Caféhäuser, die im 18. Jahrhundert die Aufklärung und den Aufstieg der bürgerlichen Gesellschaft vorbereiteten. Im Grunde sind es bis heute die Marktplätze, auf denen die „res publica“ besprochen und verhandelt wird (vgl. Sennett 2012, 112 ff.).

(3) Diese elementaren gesellschaftlichen Einrichtungen hat der französische Präsident in seinem Interview nicht nur in Frage gestellt, sondern gleichsam mit einer Handbewegung hinweggefegt. Das Interview für den „Parisien“ ist sozusagen ein Frontalangriff auf die Geschichte und das Selbstverständnis der französischen Gesellschaft. Es enthält im Grunde das Eingeständnis, dass der Vertrag, den Bürger und Staat miteinander geschlossen haben, zumindest für die Ungeimpften nicht mehr gültig ist. Die Ungeimpften werden zwar nicht ausgestoßen, aber sie werden nicht mehr als gleichberechtigte Vertragspartner akzeptiert. Der Staat spricht ihnen das Recht auf politische Teilhabe ab und reduziert sie damit auf den Status des deutschen Untertans, der sich allenfalls in seinem privaten Raum noch frei bewegen kann, darüber hinaus aber keinerlei Teilhabemöglichkeiten beanspruchen kann.

Offenbar ahnt man in Frankreich aber auch, dass sich Macrons Verdikt nicht nur gegen die Ungeimpften richtet. Wenn der Gesellschaftsvertrag einmal zur Disposition gestellt ist, dann wird damit eine Tür geöffnet, die noch ganz andere Optionen möglich machen könnte. Heute sind es die Ungeimpften, aber morgen vielleicht auch diejenigen, die noch nicht geboostert wurden, die ihre digitale App nicht rechtzeitig erneuert haben oder die auf andere Weise als nicht „gesellschaftsfähig“ befunden werden. Würde es nach Macron gehen, dann kann sich im Grunde niemand mehr sicher sein, ob er am nächsten Tag überhaupt noch als freier „citoyen“ oder schon als Funktionär aufwacht: als jemand, der ohne zu widersprechen ausschließlich „Verantwortung“ im Sinne der ihm vom Staat zugewiesenen Aufgaben und Funktion zu erfüllen hat.

Sobald der Staat sich anmaßt, nach eigenem Befinden darüber zu entscheiden, wen er als Staatsbürger anerkennt und wen nicht, dann hört er letztlich auf, ein demokratischer Staat zu sein. Die Bürgerrechte gibt es nun einmal nur ganz oder gar nicht. Ein Staat, der die Freiheitsrechte auf bestimmte Teilgruppen der Gesellschaft beschränkt oder andere Gruppen davon ausschließt, entzieht sich selbst seine Legitimation als Rechtsstaat. Er ist zum Willkürstaat geworden, in dem das Recht je nach Tagessituation ausgelegt und beliebig verändert werden kann. Das ist das Gegenteil von dem, was sich der „citoyen“ mit seinem Bekenntnis zur Gemeinschaft der „Freien“, der „Gleichen“ und der „Brüderlichen“ erkämpft hatte.

(4) Die Rede von den vielen Vorschriften und Verordnungen, mit denen der Präsident die Ungeimpften „zuscheißen“ will, hat im Übrigen noch eine andere Bedeutung. Die französischen Zeitungen kolportieren, dass sich der frühere Präsident Pompidou einmal mit denselben Worten über die Überregulierung durch die Verwaltung beklagt habe: Zu viele Gesetze, zu viele Verordnungen, zu viele Vorschriften gebe es in diesem Land. „Hört auf, die Franzosen dauernd zu belästigen. Lasst die Leute leben und ihr werdet sehen, dass alles gut wird. Lasst sie einfach in Ruhe! Man muss diesem Land endlich die Freiheit lassen.“

Das war im Jahr 1966, als Pompidou noch Premierminister unter dem ersten Präsidenten der Republik, dem General de Gaulle war. Er hat die anstößigen Worte allerdings nie öffentlich ausgesprochen, sondern sie erscheinen in den Memoiren eines Journalisten, der darüber erst lange nach Pompidous Tod berichtet. Adressat war auch nicht das französische Volk, sondern ein ehrgeiziger junger Regierungsbeamter, der mit einem Stapel amtlicher Dokumente in Pompidous Büro erschienen war und mit der Bitte um dessen Unterschrift einen präsidialen Wutausbruch provoziert hatte.

Der Name des ehrgeizigen Beamten war Jacques Chirac, der von 1995 bis 2007 französischer Staatspräsident war und der in Frankreich als typischer „Enarch“ gilt. So nennt man dort die Absolventen der nationalen Verwaltungshochschule ENA (École nationale d’administration), aus deren Reihen die Spitzenbeamten des Landes rekrutiert werden. Die ENA ist sozusagen die Kaderschmiede der Nation, auf der deshalb auch mehr als die Hälfte aller Präsidenten der Nachkriegszeit studiert haben – unter anderem auch der gegenwärtige Präsident, dessen Aufnahmeantrag allerdings erst im zweiten Anlauf stattgegeben wurde.

(5) Die ENA war ursprünglich in der Absicht gegründet worden, die (Teufels-)Kreise der öffentlichen Verwaltung zu stören und Strukturreformen durchzusetzen, die nur von außen auf den Weg zu bringen waren (vgl. Crozier 1963). Leider hat sich die ENA aber immer mehr zu einer geschlossenen „Anstalt“ entwickelt, in der bis auf wenige Ausnahmen nur Gleichgesinnte akzeptiert werden: eine kleine Elite von Funktionären, die den französischen Staat fast ausschließlich nach technokratischen Gesichtspunkten zu regieren und zu regulieren versucht.

Man kann durchaus annehmen, dass „emmerder“ eine gebräuchliche Bezeichnung hoher französischer Beamter und Funktionäre darstellt, die damit andeuten wollen, dass sie die Bewegungsspielräume des französischen Volkes nach Belieben einschränken und begrenzen können. Emmerder bedeutet, dass die Bürger mit Verordnungen, Vorschriften, Ermahnungen und Kontrollen zugedeckt werden, bis sie nicht mehr wissen, wo ihnen der Kopf steht. In Deutschland spricht man von der Gesetzes- oder Normenflut der Verwaltung; in Frankreich sagt man klar und deutlich, wer der Verursacher dieser Flut ist und wie sie beschaffen ist.

Es ist auch sehr gut denkbar, dass Corona für viele Staatsbeamte ein geeignetes Abführmittel darstellt, mit dem sich der Anspruch eines umfassenden und bis in die letzten Winkel des Alltagslebens reichenden Kontrollsystems verwirklichen lässt. Noch nie mussten so viele Anträge ausgefüllt, so viele Genehmigungen eingeholt und so viele Richtlinien nachgehalten werden wie in der gegenwärtigen Krise. Sobald ein Bürger heute vor die Haustür tritt, spürt er bereits den verlängerten Arm des Staates und beginnt selbst zu denken wie ein Funktionär: Ist die Maske dabei? Der Impfpass geladen? Der Mitmensch auf die notwendige Distanz gebracht?

Leider bedeutet der Allmachtsanspruch der Funktionäre aber auch, wie Pompidou dies vor fast 60 Jahren befürchtet hatte, das Ende des „citoyens.“ Wer davon redet, die Bürger mit Gesetzen „zuscheißen“ zu wollen, der sieht sich offenbar längst auf der nächsten Stufe der Menschheitsgeschichte angelangt und beklagt sich nur noch darüber, dass ein paar ewig Gestrige immer noch den Traum von Aufklärung, Emanzipation und Freiheit träumen. Emmerder bedeutet hier: Wir entsorgen diesen Traum auf dem Kothaufen der Geschichte.

(6) In Frankreich und im übrigen Europa haben die Worte Macrons für entsetzte Reaktionen gesorgt. Das französische Parlament hat eine laufende Sitzung unterbrochen und darüber debattiert, was die Äußerungen zu bedeuten hätten. Am vergangenen Wochenende ist die Zahl der Bürger, die gegen die Corona-Politik der Regierung auf die Straßen gegangen sind, erneut auf über hunderttausend angewachsen. Es ist anzunehmen, dass dieser Zuwachs eine Antwort auf die heiklen Äußerungen des Präsidenten darstellt.

Offenbar handelt es sich bei diesen Äußerungen aber nicht bloß um einen Ausrutscher. In dem Interview mit dem „Parisien“ hat Macron die anstößige Vokabel insgesamt dreimal wiederholt. Das lässt vermuten, dass er dabei die offizielle Linie der französischen Politik wiedergegeben hat. Der Präsident hat sozusagen vorsätzlich und in vollem Bewusstsein einen „Neujahrskracher“ platziert, der andeutet, wohin die politische Reise nach seiner Meinung in diesem Jahr gehen soll.

Ähnliche „Kracher“ sind auch aus England, aus Italien und aus Deutschland zu vernehmen. Wir wissen nicht, ob sich die Regierungsspitzen in Europa abgesprochen haben, wundern müsste man sich darüber aber nicht. Am Anfang des Jahres wird den Völkern der Einblick in eine Zukunft gegeben, die den überspannten Plänen einer abgehobenen Politikerkaste entspricht und immer weniger mit den alltäglichen Wünschen und Interessen der Menschen zu tun hat. In Frankreich entspricht dies dem Blick in den Abort; im übrigen Europa dem Blick in einen gesellschaftlichen Abgrund.

Quellen zum Zitat des Präsidenten:

Die Aussagen des Präsidenten im „Parisien“ (hinter Bezahlschranke): https://www.leparisien.fr/politique/europe-vaccination-presidentielle-emmanuel-macron-se-livre-a-nos-lecteurs-04-01-2022-2KVQ3ESNSREABMTDWR25OMGWEA.php

Eine ausführliche Zusammenfassung der fraglichen Stellen: https://www.franceinter.fr/politique/emmerder-les-non-vaccines-voici-in-extenso-ce-qu-a-dit-emmanuel-macron-dans-le-parisien

Hinweis auf den Ausbruch Pompidous: https://www.leparisien.fr/politique/emmerder-les-non-vaccines-quand-macron-sinspire-dune-petite-phrase-de-pompidou-05-01-2022-Z2RD3NTOOFAJROX655AGNRIHMI.php

Literatur:

Crozier, Michel (1963): Le phénomène bureaucratique. Essai sur les tendances bureaucratiques des systèmes d’organisation modernes et sur leurs relations en France avec le système social et culturel. Paris: Editions du Seuil.

Frank, Götz (2004): Die zögerliche Annäherung des Bürgers an den Citoyen. In: Das Forschungsmagazin der Universität Oldenburg, Nr. 39, S. 14-17. URL: http://www.presse.uni-oldenburg.de/einblicke/39/3frank.pdf

Sennett, Richard (2012): Zusammenarbeit. Was unsere Gesellschaft zusammenhält. Berlin: Hanser.

Wach, Lena (2020): Der europäische Citoyen: Normative Figur und empirische Bedeutungsvielfalt im Kontext zivilgesellschaftlicher Partizipation. Wiesbaden: Springer VS.

 

 

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