Mit Corona leben: Deutschland oder Frankreich?
(1) Kleine Aufregung in der Sommerpause: Nena und Helge Schneider brechen ihre Konzerte ab, weil sie mit den Hygienekonzepten der Veranstalter nicht einverstanden sind. Bei Helge laufen dauernd Servicekräfte durch die Zuschauerreihen, wodurch sich der Künstler gestört fühlt. Bei Nena kommt es zu Irritationen, als die Sängerin ihre Zuschauer zur Bühne bittet und aus der freundlichen Aufforderung eine Schmährede auf die Corona-Maßnahmen wird.
Von der Arbeit der beiden Künstler kann man halten, was man will. Sie gehören jedoch zu den wenigen, die überhaupt den Mund aufmachen und die Auswirkungen der Corona-Politik auf ihren Beruf thematisieren. Ein Konzert, eine Theater- oder Opernaufführung, das ist immer eine gemeinsame Veranstaltung. Kein Künstler macht seine Arbeit allein, auch dann nicht, wenn die Leute hinterher sagen, sie hätten Nena, die Stones oder die Netrebko gehört. Zu einem packenden Auftritt wird das Ganze erst, wenn der berühmte „Funke“ auf das Publikum überspringt, wenn die Band den Besuchern im Stadion „einheizt“ oder sich der Opernstar von der Stimmung im Konzertsaal mitnehmen und tragen lässt.
Bei den Auftritten von Nena und Helge Schneider hat man diesen Zusammenhang zerstört. Die Zuschauer, die Helge Schneider sehen wollten, wurden in Strandkörbe verfrachtet, die meterweit auseinander standen und von den Veranstaltern schon fast zynisch als „VIP-Lounge“ bezeichnet wurden. Bei Nena wurden die Abstände mit 15.000 Bier- und Cola-Kästen markiert und die Zuschauer mit tatkräftiger Unterstützung von Sicherheitskräften daran gehindert, sich vor der Bühne zu versammeln und gemeinsam zur Musik zu tanzen.
Was solche keimfreien Arrangements mit Musik oder Kunst zu tun haben sollen, lässt sich nur schwer nachvollziehen. Statt dessen kommt einem Foucault in den Sinn, der als beste Methode zur Verhinderung von Massenbewegungen die Vereinzelung der Menschen beschrieben hat: Jedem Individuum einen Platz und auf jeden Platz ein Individuum. Nach Foucaults Ansicht passt diese Methode zu Gefängnissen ebenso gut wie zu Krankenhäusern, Kasernen oder Schulen.
In Deutschland ist man anscheinend dabei, auch die Konzertveranstaltungen nach dem Zellen-Prinzip zu organisieren. Die Menschen werden in eine Kastenwelt hineinmanövriert, die keine spontanen Bewegungen und Lebensäußerungen mehr zulässt, sondern diese Bewegung einmauert in ein System von Zuteilungen, Vorschriften, Verboten. Das ist das Gegenteil von Kunst und Kultur, das ist Gefängnis- und Lagerhaltung. Nena und Helge tun Recht daran, sich über solche Zumutungen zu beschweren.
(2) In Frankreich würde man sich über die Probleme, mit denen sich die Deutschen zur Urlaubszeit herumschlagen, nur wundern. Die Franzosen haben zwar Foucault hervorgebracht, die Kollegs, in denen das Zellenprinzip und die Kastenwelten perfektioniert wurden, auch die Gefängnisse und das dazu gehörende Rechtssystem, aber sie haben zum Glück die Liebe zu der Wirklichkeit behalten, die auch vor den großen Systemen der Gesellschaft schon da war: das Leben unter freiem Himmel, am Meer, im Licht, im Süden, in der Sonne.
Bei 35 Grad im Schatten kümmert sich in Frankreich niemand um Abstandsregeln oder Hygienekonzepte. Abstand hält man allenfalls in der Mittagszeit, wenn die Hitze so drückend wird, dass sie nur in einigermaßen gekühlten Innenräumen zu ertragen ist. Sobald es draußen wieder kühler wird und eine frische Brise vom Meer her aufkommt, sammeln sich die Franzosen auf den Plätzen in den Städten und Dörfern des Landes, unter Sonnenschirmen oder den weit ausladenden Zweigen der alten Bäume, vor Bars, Restaurants und Cafés.
In Frankreich spricht man auch nicht wie in Deutschland von der Corona-Krise, sondern von der „crise sanitaire“, also der Krise des Gesundheitswesens. Irgendwie klingt in dem Begriff schon die Aussicht auf Heilung an. Vielleicht kommt hier deshalb auch niemand auf die Idee, eine formales Hygienekonzept auszuarbeiten, bevor man eine Veranstaltung durchführt oder ein Café eröffnet. In Hotels und Restaurants wird den Gästen mitgeteilt, was man vorhat, um die Übertragung des Virus einzudämmen, aber man macht daraus keinen Staatsakt oder ein wissenschaftliches Programm. Die Franzosen tun einfach das, was nötig ist – oder die Dinge, von denen sie glauben, dass sich das Virus dadurch beschwichtigt lässt.
Im übrigen gehen sie aber ihrer Arbeit und ihren Geschäften nach, wie sie es gewohnt sind. Im Frühstücksraum des Hotels wird man gebeten, eine Maske zu tragen, wenn man sich vom Tisch erhebt. Wenn man vor dem Buffet steht, sind die Speisen und Getränke aber natürlich wichtiger als die Hygieneregeln. Sobald man jemanden trifft, mit dem man sich über das reichhaltige Angebot unterhalten kann, hält man selbstverständlich ein Schwätzchen. Man trifft sich, man spricht sich – ohne gleich drei Meter zurückzuweichen, wie das in Deutschland der Fall ist, wenn man jemandem nur die Tür aufhalten will.
Die Franzosen bewegen sich sozusagen wie selbstverständlich im Fluss des gewohnten Alltagslebens. Die vielen Unterbrechungen, Abstandshalter, Markierungen und Warnungen, die man aus Deutschland kennt, braucht man in Frankreich nicht. Hier hat man den Alltag nicht zerschlagen wie in Deutschland. Man hat ihn „ganz“ gehalten und das merkt man auch den Menschen an. Die Franzosen wirken irgendwie sicherer, selbstbewusster, freundlicher als in Deutschland. Sie haben ihren Verstand und ihre guten Sitten noch beisammen, sie nehmen Rücksicht und erkennen sich gegenseitig an. Frankreich ist einfach ein kultiviertes Land. Deutschland ist dabei, zu einem kulturellen Entwicklungsland zu werden.
(3) In Frankreich braucht man auch nicht unbedingt offizielle Veranstalter und Konzertagenturen, wenn man Musik hören will. Zumindest in den Sommermonaten machen die Franzosen ihre Musik in den meisten Fällen selbst. An den Stränden, wo sich die Jungen treffen und die Musik den ganzen Tag aus den Lautsprechern dröhnt und den Rausch untermalt, in den man sich durch Hitze und Alkohol hineintreiben lässt, ist es sowieso immer laut. Aber auch auf den Plätzen im Hinterland, wohin sich die Älteren zurückgezogen haben, weil sie die starken Reize nicht mehr so gut vertragen, geht es am Abend nicht ohne Musik ab.
Die kleinen Gemeinden haben meistens kein Geld für große Künstler. Sie nehmen häufig die eigenen Leute, die eine gute Stimme haben, passabel Gitarre spielen können oder über Equipment für einen Karaoke-Abend verfügen. Wenn es etwas anspruchsvoller sein soll, ist auch schon einmal eine junge Band dabei, die sich in der Region gerade einen Namen macht und erste Erfahrungen mit eigenen Auftritten sammeln will. Im Urlaub kann das manchmal noch mehr zünden als die Konzerte der großen Stars.
Am meisten scheinen sich die Franzosen für Karaoke zu begeistern, denn dabei können sie die Chansons aufführen, die in Frankreich alle kennen: die Lieder von der verschmähten Liebe, vom Verlassen-Sein und Sich-Wiederfinden, von den großen Hoffnungen und den schmerzhaften Pleiten des Lebens. Die Menschen kennen diese Lieder in- und auswendig und meistens dauert es auch nicht lange, ehe jemand aus den vollbesetzten Stuhlreihen nach vorne tritt und sein persönliches Lieblings-Chanson zum Besten gibt. Es ist das unbewusste Lied des Seelischen, das die Menschen am Tage begleitet, ohne dass sie das wissen und das sie dann am Abend auf dem Platz mit allen Leuten teilen wollen.
Man kann sich probeweise einmal fragen, warum es in Deutschland keine Karaoke-Aufführungen auf öffentlichen Plätzen gibt. Wahrscheinlich liegt das nicht nur am schlechten Wetter, sondern auch daran, dass die meisten Plätze in Deutschland zu Park-Plätzen umgebaut worden sind. Die Deutschen geben ihr Geld lieber für Autos als für gutes Essen und gute Musik aus. Sie treffen sich lieber im Vereinsheim als auf einem Platz, wo sie möglicherweise mit Fremden in Kontakt kommen könnten, die nicht zu ihrer eigenen Volksgruppe gehören. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass die Deutschen ihre unbewussten Lieder lieber für sich behalten, als sie mit anderen zu teilen.
(4) Meistens steht am Rand der Plätze, auf denen die Franzosen sich treffen, das örtliche Rathaus oder die Gemeindeverwaltung. In die Fassade sind in respektgebietender Höhe die Leitsprüche der Französischen Revolution eingemeißelt und über den Fenstern weht die Trikolore. Die Fahne und die Revolution sind immer anwesend, genauso wie der Stolz auf die Geschichte des Landes, von der in den vergangenen Jahren der Lack allerdings ziemlich abgeblättert ist. Die Menschen wissen das und sie wissen auch, dass die Sprüche von der Gleichheit und der Brüderlichkeit nicht mehr so richtig stimmen. In vielen Straßen sieht es fast so trostlos aus wie in deutschen Großstädten, die Geschäfte sind geschlossen, die Arbeitslosigkeit vor allem unter den Jungen ist hoch und die Probleme der Einwanderer sind auch in Frankreich seit Jahrzehnten ungelöst.
Im Juli und August wollen die Franzosen von diesen Problemen aber nichts wissen. Bei den Festen und Gesängen dürfen alle mitmachen, die dabei sein wollen. Selbst die Touristen aus Deutschland sind willkommen, die Menschen mit den blassen Gesichtern, die immer ängstlich nach der Maske greifen, wenn sie von ihrem Platz aufstehen und zur Sicherheit die eidesstattliche Erklärung bei sich tragen, die ihnen Symptomfreiheit bestätigen soll. Die Franzosen wissen, dass sie sich in der Provinz vor der Staatsmacht nicht zu fürchten brauchen. Der Staat sitzt im fernen Paris, aber an der Peripherie gelten andere Regeln, zumindest in diesem kurzen Sommer. Im Juli und August verwandelt sich der Süden Frankreichs in den längsten Tisch Europas. In diesem Jahr wirkt es so, als wollten die Menschen einen letzten Sommer feiern, bevor die alte Welt zu Ende geht.
Allerdings ist dieses Bild nicht ganz wahr. In Frankreich hat die Regierung angekündigt, dass sie die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie erheblich verschärfen wird. Sie fordert Zwangsimpfungen für bestimmte Berufsgruppen und macht den „Gesundheitspass“ in Zukunft zur Voraussetzung für den Besuch von Restaurants und Cafés, von öffentlichen Veranstaltungen und gemeinsamen Festen. Man könne auch sagen, die Regierung macht einen Strich durch den Alltag der Menschen und fordert sie auf, sich unter die Knute der Zentralregierung zu begeben.
Anders als in Deutschland zögern die Franzosen nicht, gegen diese Zumutungen auf die Straße zu gehen. Seit Mitte Juli gibt es in jeder größeren Stadt Proteste und Demonstrationen, bei denen die Anzahl der Teilnehmer von Woche zu Woche zunimmt. Die Regierung weiß, dass sie vor allem im Süden des Landes nicht einfach durchregieren kann und hat einige Bestimmungen bereits zurückgenommen oder entschärft. Gleichzeitig versucht sie, mit Veranstaltungen, die den Vorgaben der Regierung entsprechen, Präsenz zu zeigen und das Volk zu beeindrucken.
(5) In einem Dorf in der Provence wurde eine solche Gegenveranstaltung in der Nähe anderer staatlicher Institutionen eingerichtet. Gleich neben dem Krankenhaus, der Schule und dem Friedhof hatte die Kommune so ziemlich den hässlichsten und traurigsten Platz des ganzen Ortes ausgesucht, eine eingezäunte Ödnis, die eher an einen Parkplatz in Deutschland erinnert als an einen Festplatz. So ähnlich mögen vielleicht die Orte ausgesehen haben, an denen die Auftritte von Nena und Helge Schneider stattgefunden haben: Nicht-Orte ohne Anbindung an eine lebendige Gemeinschaft.
Trotzdem hat sich der Veranstalter bemüht, aus diesem verlorenen Areal eine angemessene Konzertkulisse zu machen. Mit erheblichem Aufwand wurde eine Bühne aufgerichtet, professionelle Sound- und Lichttechnik herbeigeschafft und eine halbwegs bekannte Band zum Vorspielen engagiert. Als es losging, wurden die Verstärker so laut aufgedreht, dass die Stimmen der Sänger durch den ganzen Ort getragen wurden und sich wahrscheinlich auch die Kranken im anliegenden Krankenhaus überlegt haben, ob sie nicht doch lieber gesund werden und endlich nach Hause gehen sollten.
Trotz aufwendiger Werbung im Vorfeld blieb das Interesse an der Veranstaltung eher gering. Der Zutritt wurde natürlich streng überwacht. Es gab Absperrungen und Drängelgitter, mit denen die Zuschauer an den Kassenhäuschen vorbeigetrieben wurden wie die Autofahrer auf den französischen Autobahnen zu den Mautstellen. Außerdem war Security in großer Besetzung anwesend und half den Angestellten dabei, die Gesundheitspässe der Konzertbesucher einzuscannen und zu kontrollieren. Später tauchte auch eine Abordnung der Polizei auf, die mit Maschinenpistolen bewaffnet war und dafür sorgte, dass alle Anwesenden an die Terrorgefahr denken mussten, die nach dem Beschluss der Regierung immer noch über der Bevölkerung schwebt.
Einige Dorfbewohner versuchten einen Blick durch den Sichtschutz zu erhaschen, es gab Beifall von den Freunden und Bekannten der Bandmitglieder, aber richtige Stimmung wollte nicht aufkommen. Das richtige Leben spielte sich nur wenige Straßen weiter auf dem Dorfplatz ab, wo Einheimische, Urlauber und Touristen dicht gedrängt an den Tischen saßen und feierten wie die Bewohner des berühmten gallischen Dorfes, das sich mit Hilfe eines Zaubertranks dem Einfluss der Römer zu entziehen versteht.
(6) Der Zaubertrank der heutigen Gallier ist die Macht der seelischen Wirklichkeit, die sich auf Dauer von keiner Staatsmacht und auch nicht von Seuchen oder Pandemien unterdrücken lässt. Das Leben ist einfach stärker als staatliche Willkür und wie die Erfahrung zeigt, steht es auch nach Jahren der Diktatur wieder auf, so lange die Einschränkungen auch dauern mögen. Es wäre ein großer Irrtum zu glauben, dass die Menschen sich dem Kontrollregime einer neuen Weltordnung widerstandslos fügen würden.
Der Vergleich zwischen Deutschland und Frankreich macht aber auch darauf aufmerksam, dass es unterschiedliche Formen gibt, mit staatlichen Zwangsmaßnahmen umzugehen. In Frankreich lehnen sich die Menschen nur in Ausnahmefällen gegen die Zentralregierung auf. Sie wissen, dass es den Staat mit seinen Forderungen und Eingriffen geben muss, damit das gesellschaftliche Leben einigermaßen zusammenhält. Die Franzosen lieben die Zentralregierung und ihren Verwaltungsapparat aber nicht wirklich. Sie ertragen diesen Apparat, aber sie misstrauen ihm zugleich und sie verachten seine Vertreter.
Mit dieser Spaltung kommen die Franzosen wesentlich besser durch das Leben als die Deutschen, die alles nach einem einzigen Muster zurechtmachen und regulieren wollen. Die Franzosen können ihren Regierungschef einen guten Mann sein lassen, aber sie müssen sich nicht selbst aufspielen, als wäre jeder von ihnen ein Staatschef, der seine Mitmenschen zu dirigieren und zu erziehen hat. Vielleicht sind die Franzosen deshalb auch ein wenig klüger als die Deutschen, die immer gleich bereit sind, jede Geschichte zu glauben, die ihnen von den Mächtigen aufgetischt wird.
Den Preußen sieht man an, dass sie den Stock geschluckt haben, mit dem sie geprügelt wurden, hat H. Heine einmal gesagt. Genauso scheinen die Deutschen jetzt die Geschichte vom Virus zu schlucken, zu dem jeder auf Abstand gehen soll. Sie üben sich im Isolieren und Zerlegen, im Kleinmachen und Kleinhalten, im Anlegen von Strandkorb- und Kastenwelten. In ihren Einzelzellen fühlen sich die Deutschen wie Könige, darüber hinaus können sie aber fast nichts mehr denken. Sie führen ein Leben als Ein-Zeller und haben möglicherweise schon längst verlernt, wie sich das Leben in einer wirklichen Gemeinschaft anfühlt.