Long Covid bei Therapeuten

Long Covid bei Therapeuten – Über die Psychiatrisierung der Psychologie

Von Michael Ley & Carl Vierboom

(1) Für die meisten Menschen hat sich die Aufregung um Corona inzwischen erledigt. Die Gesellschaft hat jetzt andere Sorgen. Es geht um den Krieg in der Ukraine, um die Energiekrise und um die Inflation, die immer größere Löcher in die öffentlichen und privaten Haushalte reißt. Corona war nur ein Trainings- und Exerzierplatz. Die echten Herausforderungen stehen uns noch bevor.

In einigen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens trifft man allerdings weiterhin auf ein paar unverrückbare Stützpunkte des Corona-Regimes. Die Verkehrsbetriebe, die Ordnungsämter, die Krankenhäuser und die Arztpraxen haben sich auch nach fast drei Jahren noch nicht von ihren strengen Hygiene- und Abstandsregeln verabschiedet. In den tragenden Einrichtungen des Staates herrscht sozusagen Long Covid. Dort hält man an Maßnahmen fest, die zunehmend sinnlos geworden sind.

Zu diesen staatstragenden Einrichtungen zählen sich offenbar auch die Psychologen mit ihren therapeutischen Praxen. Noch im Sommer, als andere Menschen im Urlaub waren, haben sich die Therapeuten in geschlossene Räume zurückgezogen und die Hygienekonzepte für Herbst und Winter vorbereitet. Jetzt, wo es empfindlich kalt geworden ist, kommt kein Patient mehr ohne FFP2-Maske in ihre Praxen und bei bestimmten Gelegenheiten muss sogar ein tagesaktueller Test vorgelegt werden.

Auch die Einrichtung der Beratungsräume steckt immer noch im Corona-Modus fest. An der Eingangstür steht jetzt schon seit mehr als zwei Jahren der kleine Altar, auf dem der Hygienespender und die Papiertaschentücher platziert sind, in der Ecke brummt ein Lüftungsautomat vor sich hin und die Behandlungsstühle sind so weit auseinander gerückt, wie man das sonst nur von Ehepaaren kennt, die sich nichts mehr zu sagen haben.

Manche Therapeuten berichten sogar davon, dass sie nach jeder Behandlungssitzung Stühle und Türklinken desinfizieren und die Fenster aufreißen, um frische Luft hereinzulassen. Zu einer üblichen Praxis ist auch das Händewaschen zwischen zwei Sitzungen oder das Gurgeln mit desinfizierendem Mundwasser geworden. Bevor man mit der Behandlung beginnt, werden die Patienten außerdem gebeten, Auskunft über ihren Gesundheitszustand, über Erkältungssymptome oder Risikokontakte zu geben. Mit solchen „Explorationen“ glauben die Therapeuten Infektionsrisiken bereits im Vorfeld aussondern oder herausfiltern zu können (vgl. Bruder-Bezzel 2022).

(2) Es sieht so aus, als hätten die Therapeuten die Rede von der „klinischen Psychologie“ ziemlich wörtlich genommen. Sie haben ihre Praxen in „therapeutische Reinräume“ verwandelt, in denen die Gefahr von Ansteckung, Übertragung und Infektion möglichst schon im Keim erstickt werden soll. Die Psychologen bauen ihre Behandlungszimmer um, als würde jedes Mal ein operativer Eingriff bevorstehen, der nur unter strengsten Sicherheitsmaßnahmen durchgeführt werden kann.

Eigentümlicherweise richten sich diese Maßnahmen aber nicht nur gegen die Patienten, die schon beim Eintritt in die Praxis umständlichen und komplizierten Aufnahmeritualen unterworfen werden. Offenbar machen sich auch einige Therapeuten selbst zum Gegenstand vielfältiger Säuberungs- und Reinigungsmaßnahmen. Vor jeder neuen Sitzung putzen sie dem früheren Patienten hinterher, beseitigen alle Spuren seiner Anwesenheit und befreien sich auch selbst von solchen Spuren. Selbst der Mundraum wird ausgewaschen, um sämtliche Reste des gerade stattgefundenen Gesprächs herunterzuspülen.

Die Organisation einer psychologischen Praxis wird heute in vielen Fällen durch die Einrichtung eines rigorosen Hygiene-Regimes bestimmt. Ähnlich wie die Ärzte haben offenbar auch die Psychologen heutzutage den Ehrgeiz, ihren Patienten sozusagen in einem vollkommen geläuterten Zustand gegenüberzutreten. Erst wenn sie sich selbst von allem irdischen Schmutz befreit haben, können sie auch Helfer und Heiler sein. Sie müssen sich selbst und ihre Umgebung neutralisieren, bevor sie nur ein einziges Wort an ihre Patienten richten können.

(3) Über die Affinität der Psychologen zu ihren großen Vorbildern, den Medizinern, haben wir bereits an anderer Stelle geschrieben. Die Psychotherapeuten legen sich nur zu gern die Reputation der Ärzte zu, weil sie selbst vergessen haben, ihren Berufsstand mit einer solchen Reputation auszustatten. Die großen Kliniken mit den langen Fluren, die weißen Kittel und die Apparate, mit denen man in das Innere des Körpers gucken kann – das alles können die Psychologen nicht vorweisen. Wenn die Psychologen es richtig machen wollen, dann behandeln sie nur durch Worte. Verglichen mit einer Kernspintomographie wirkt das wie ein altertümlicher Dilettantismus.

Dabei ist es aber nicht so, dass die Psychologen in der Geschichte ihres Berufes nicht versucht hätten, autonome Konzepte der seelischen Wirklichkeit vorzulegen. Sie haben aber erfahren müssen, dass die anderen Heilberufe etwas dagegen hatten, wenn daraus eine eigenständiges Konzept für die Behandlungspraxis werden sollte. Sobald es um Behandlung im Sinne von Tätig-Werden oder Eingriff geht, melden die Ärzte ihr Monopol an. Meistens läuft das darauf hinaus, dass die Methoden der Psychologen, aber auch die Psychologen selbst möglichst klein gehalten werden.

Das fängt in der Ausbildung der Psychologen an, die deutlich länger dauert als die eines Arztes, am Ende aber nur einen Bruchteil dessen einbringt, was selbst ein mittelmäßiger Arzt verdienen kann. Im Unterschied zu den Ärzten, die darin eingeübt werden, am fremden Objekt zu behandeln, wird der Psychologe in seiner Ausbildung selbst zum Objekt der Behandlung gemacht. Alles, was im Studium verhandelt wird, bezieht er wie selbstverständlich zuerst einmal auf sich selbst. Wenn er das einige Zeit gemacht hat und immer noch Therapeut werden will, muss er sich darüber hinaus einer aufwendigen Lehranalyse unterziehen, in der insbesondere auch seine Lebensgeschichte ausdrücklich thematisiert wird.

Der Psychologe bekommt während seiner Ausbildung sozusagen selbst eine Diagnose verpasst, die über sein eigenes Leiden Auskunft gibt. Im Unterschied zu einer ärztlichen Diagnose muss er mit mit diesem Leiden zugleich ein ganzes Leben lang herumlaufen. Immer dann, wenn der Psychologe glaubt, er hätte seine Neurose endlich im Griff, kommt entweder ein Lehranalytiker oder ein wohlmeinender Kollege daher und belehrt ihn eines Besseren. Der Glaube an Heilung wird in der Psychologie grundsätzlich als Anzeichen einer bevorstehenden seelischen Krise gedeutet.

(4) Es ist zu vermuten, dass sich diese Verhältnisse noch einmal dramatisch zugespitzt haben, seitdem die Psychologen dazu gezwungen werden, im Verlauf ihrer psychotherapeutischen Zusatzausbildung ein praktisches Jahr in einer psychiatrischen Klinik zu absolvieren. Die entsprechende Regelung wurde eingeführt, weil der Gesetzgeber ein Äquivalent zum Arzt im Praktikum schaffen und den Psychologen zu angeleiteter Berufserfahrung im Klinischen Bereich verhelfen wollte.

Die Regelung ist mit Recht kritisiert worden, weil die Psychotherapeuten in Ausbildung (PiA) nur schlecht bezahlt werden und neben den erheblichen Summen, die für Ausbildungskurse, Praxismiete, Supervisionsstunden und Prüfungsgebühren anfallen, kaum noch Geld zum Leben übrigbleibt. Darüber hinaus muss man aber auch darauf hinweisen, dass Psychiatrie und Psychologie gänzlich unterschiedliche Dinge sind und die Tätigkeit des Therapeuten von ganz anderen Voraussetzungen ausgeht als die Behandlung psychiatrischer Fälle.

Es spricht daher einiges für die Annahme, dass das psychiatrische Jahr nicht so sehr der inhaltlichen Fortbildung dient, sondern vor allem den Zweck hat, das Berufsbild der angehenden Psychotherapeuten auf eine bestimmte Weise zu formieren. Dem Psychotherapeuten in Ausbildung geht es wie dem angehenden Lehrer im Referendariat. In beiden Fällen geht es vor allem darum, den Berufsanfängern klarzumachen, dass sie einen Unterschied zwischen ihrer eigenen Rolle und derjenigen ihrer Klienten machen müssen. Sie lernen sozusagen, auf der „richtigen“ Seite des Behandlungs-Settings zu stehen.

(5) Tatsächlich befinden sich die Therapeuten in der psychiatrischen Klinik häufig zum ersten Mal auf der Seite der Behandler. Formal stehen sie zwar noch unter Anleitung und Beobachtung, im Alltag der Klinik müssen sie aber bereits reguläre Fälle übernehmen und von Anfang sozusagen voll einsteigen. Ähnlich wie Lehrer im Referendariat sind auch die angehenden Psychotherapeuten mit dieser Situation hoffnungslos überfordert. Und ebenso wie die Lehrer machen sie für diese Erfahrung nicht die Bedingungen der Einrichtung oder der Ausbildung verantwortlich, sondern wiederum sich selbst oder die Neurose, die sie schon so lange kennen.

Wenn der Psychologe in dieser Situation einigermaßen überleben will, dann bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich anzusehen, wie es die anderen machen: seine Kollegen, der Stationsarzt, der Klinikdirektor oder die Krankenschwestern. Der Therapeut in Ausbildung nimmt sozusagen Witterung auf und versucht sich die Ideologie und das Gehabe zuzulegen, das er in der Klinik beobachten kann. Er eignet sich die Erklärungen an, mit denen man sich das seltsame Verhalten der Patienten zurechtlegt, den Jargon, den man im Umgang mit den schwierigen Fällen an den Tag legt, aber auch die vielen Ausreden und Entschuldigungen, mit denen harte und härteste Eingriffe in die persönliche Integrität der Menschen rechtfertigt werden.

Die Schule, die der angehende Therapeut in der Psychiatrie durchläuft, ist die Schule der Distanzierung, des Abstand-Nehmens und der Abgrenzung. Er legt sich eine dicke Haut zu und trainiert sich jede Form von Mitgefühl und Mitbewegung ab, die ihm aus der Zeit des Studiums möglicherweise noch geblieben ist. Nach einem Jahr Psychiatrie ist er nicht mehr Therapeut, sondern Psychiater geworden. Er hat gelernt, wie M. Foucault (1972) formuliert hat, aus den Mitteilungen der Patienten die Schreie der Verrückten herauszufiltern.

(6) Das Aus- und Wegfiltern, das Eindämmen, Beruhigen und Beschwichtigen seelischer Leiden findet auch in den psychiatrischen Kliniken heute nicht mehr mit den rabiaten und gewalttätigen Mitteln statt, die aus der Geschichte der Psychiatrie bekannt sind. An der Kultivierung dieser Eingriffe hatten ja nicht zuletzt auch die Psychologen bedeutenden Anteil, indem sie Gesichtspunkte der Gesprächs- oder Gruppentherapie auch in den Klinikalltag eingeführt, aber auch gänzlich neue Konzepte zur Genese der Schizophrenie vorgelegt haben (z.B. Bateson et al. 1969).

Vor diesem Hintergrund erscheint es wie eine späte Rache der Psychiater, wenn die Psychologen seit dem Ende der 90er Jahre nun ihrerseits auf die Kultur einer psychiatrischen Klinik abgerichtet werden. Die Psychologen, die diese Prozedur hinter sich gebracht haben, können gar nicht mehr auf die Idee kommen, eine autonome psychologische Auffassung ihres Faches zu entwickeln oder zu vertreten. Sie sind vielmehr klein und bescheiden gemacht worden und bewegen sich selbst in ihrer eigenen Praxis noch so, als stünden sie in der beruflichen Rangreihe unterhalb eines Assistenzarztes: gehorsam, beflissen, unterwürfig.

Muss man sich darüber wundern, dass die Psychotherapeuten heute zu denjenigen Berufen gehören, die auch die Corona-Maßnahmen am gewissenhaftesten umsetzen? Die Geschichte ihres Berufs und ihrer Professionalisierung lässt ihnen im Grunde gar keine andere Wahl. Sie machen das, was auch die Ärzte tun und was sie selbst am eigenen Leib erfahren haben. Sie neutralisieren, sterilisieren, und isolieren die Unruhe der seelischen Wirklichkeit und tun gleichzeitig so, als könnten sie damit eine Ordnung in die Wirklichkeit hineinbringen, die nicht mehr weiter zu hinterfragen ist.

Leider zerstören sie damit aber auch das, was vom Eigenrecht einer psychologischen Behandlung übriggeblieben ist. Die Maske, die weit auseinander gerückten Behandlungsstühle, der Zwang zum Reinigen der Praxiseinrichtung, das Hinterher- und Wegputzen – das alles richtet sich dagegen, die Patienten und ihre Leiden einfach einmal zum Ausdruck kommen zu lassen. Der Hygienewahn wehrt sich gegen das Geschehen-Lassen, gegen das Zuhören und gegen das genaue Hinsehen. Er übt einen Zwang aus, der den Patienten schon beim Hereinkommen bedeutet, dass bestimmte seelische Äußerungen genauso wenig erwünscht sind wie ein vertiefender Austausch oder auch nur der Anfang eines länger dauernden, gemeinsamen Gesprächs.

Der Filter, mit dem nach Foucault die Schreie der Patienten ausgeblendet werden, steht heute als technischer Luftreiniger in jeder zweiten therapeutischen Praxis. Er ist ein Symbol dafür, dass die psychologische Behandlung gleichsam „psychiatrisiert“ wurde und darauf gerichtet ist, fremd oder unverständlich erscheinende Seiten der seelischen Wirklichkeit „vernünftig“ zu machen. Er ist aber auch ein Symbol für den Psychologen, den man in seiner Ausbildung daran gehindert hat, ein eigenes Berufsbild zu entwickeln und der seine Selbständigkeit nur noch dadurch erweisen kann, dass er das Gehabe und die Verfahren der Medizin in geradezu unterwürfiger Weise imitiert.

 

Bateson, Gregory et al. (1969): Schizophrenie und Familie. Frankfurt/ Main: Suhrkamp.

Bruder-Bezzel, Almuth (2022): Psychologen als Erfüllungsgehilfen. In: Rubikon. Magazin für die kritische Masse. Ausgabe vom 09.11.2022. https://www.rubikon.news/artikel/psychologen-als-erfullungsgehilfen

Foucault, Michel (1972): Radiointerview vom 8.9.1972. Zitiert nach Thomas Barth (2004): Stimmen im Netz der Macht. Irrenoffensive Nr. 12. verfügbar unter: https://www.antipsychiatrie.de/io_12/foucault.htm

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