Licht aus – Über Entsagungswelten
Von Michael Ley & Carl Vierboom
(1) Zuerst ist man nicht sicher, ob man richtig gesehen oder sich vielleicht getäuscht hat. Ein kurzes Flackern, fast wie ein Zurückzucken und dann ist das Licht wieder stabil. Nur eine Stufe tiefer, auf einem niedrigeren Niveau. Das kann man aushalten, das fällt kaum auf. Nach einer Weile fragt man sich sogar, ob es wirklich dunkler geworden ist. Das Auge adaptiert doch recht schnell und ein wenig Licht kommt auch noch vom Abendhimmel im Westen.
Viel größer ist der Kontrast zwischen den verschiedenen Stadtvierteln. Vor wenigen Minuten war man noch in der Innenstadt, wo die Menschen bei sommerlichen Temperaturen dicht gedrängt an den Tischen saßen. So eine Urlaubsstimmung kennt man sonst nur aus den Touristengebieten im Süden. In den Wohngebieten ist es dagegen deutlich ruhiger. Erst zehn Uhr am Abend und auf den Straßen ist kaum ein Mensch zu sehen.
Und dann werden auch noch die Straßenlaternen heruntergedimmt. Es ist fast wie in der Jugendherberge, wo um 22.00 Uhr alle auf den Zimmern sein müssen und kurz darauf das Licht ausgemacht wird. Gehen Sie weiter, gehen Sie nach Hause, lassen Sie sich nicht anregen, kommen Sie nicht auf die Idee, es gebe noch Vergnügen oder Zerstreuung. Die Nacht bietet keine Alternative zum Tag. Schluss für heute, hier gibt es nichts mehr zu sehen.
(2) Es ist nur ein kurzer Moment der Irritation, der aber Anlass für Spekulationen gibt. Etwas unheimlich ist der Gedanke, dass es irgendwo einen Apparat geben muss, der das Herunterdimmen der Straßenbeleuchtung steuert. So eine Art künstlicher Herbergsvater, der das Licht zentral verwaltet und darüber entscheidet, wann es für wen in welcher Dosierung verfügbar ist und wer im Dunkeln sitzen muss.
Im eigenen Haushalt gibt es ebenfalls Schalter zum Herunterdimmen, aber die hat man selbst in der Hand, man wird nicht bestimmt. Es ist auch nicht so, dass auf einen Schlag alle Beleuchtungskörper im ganzen Haus um dieselbe Leistung heruntergeschraubt werden. Die Beleuchtung wird in jedem Zimmer individuell geregelt. Im Schlafzimmer will man kein grelles Licht, das Arbeitszimmer muss gut ausgeleuchtet sein, im Esszimmer gibt es mehrere Lampen, deren Lichtquellen sich wechselseitig ergänzen.
Das Schöne an der Elektrizität ist, dass sie als gleichmäßige und scheinbar unerschöpfliche Lichtquelle zur Verfügung steht, aber auch so dosiert werden kann, dass sie den individuellen Wünschen und Bedürfnissen entspricht. Strom ist zentral und dezentralisiert zugleich; ein riesiges System, das einerseits vom Staat organisiert wird und andererseits ins Kleine geht und in jedem Haus neu organisiert werden kann (vgl. Schivelbusch 2005: 153).
(3) Bei der Straßenbeleuchtung rechnet man eigentlich damit, dass das Licht konstant und dauerhaft leuchtet. Das Licht ist ein warmer Fluss, der nicht abreißt und die Nacht ausleuchtet. Das Straßenlicht signalisiert, dass man nicht allein im Dunkeln stehen muss, dass es noch etwas Großes gibt, auf das man sich verlassen kann und was das Kleine schützt. Wenn Kinder sich nachts in ihrem Zimmer fürchten, lassen Eltern manchmal die Tür einen Spalt weit offen. Die Kinder wissen dann, dass die Eltern sie nicht im Stich lassen.
In den Zentren der Städte verzweigen und vervielfältigen sich die Lichtströme so sehr, dass man sie mit einer „elektrischen Milchstraße“ (Le Corbusier) verglichen hat. Die Beleuchtung der Straßen, der Schaufenster, der Werbetafeln, der Restaurants, Bars, Theater und Kinos zeugen vom Reichtum einer Gesellschaft, die sich keine Einschränkungen auferlegen will. Die Menschen, die in das Licht der Stadt eintauchen, nehmen damit in gewisser Hinsicht auch die Kräfte auf, die zur Erzeugung der Elektrizität erforderlich sind (vgl. Vierboom & Härlen 2011). Sie werden Teil von Mächten, die ihre eigenen, individuellen Möglichkeiten übersteigen.
Bei Musikfestivals, Fußballspielen, Filmvorführungen wird die Inszenierung der Lichtwirkung für viele Menschen eingesetzt und perfektioniert. Die Kinos hießen früher einmal Lichtspielhäuser und waren vor der Erfindung des Fernsehens Anziehungspunkte für die Massen. Die Nazis haben das für Propagandazwecke ausgenutzt. Sie haben auch die Parteitage mit monumentalen Licht-Spektakeln („Lichtdom“) erfunden und damit den NS-Staat als eine nicht mehr zu hinterfragende, totale Macht in Szene gesetzt.
(4) Das nächtliche Herunterschalten der Lichtleistung kommt anders daher. Es ist keine eindrucksvolle Light Show, sondern das Gegenteil von Licht. Es ist das Licht im Sparbetrieb. Schon das Wort vom Herunterdimmen, vom Herabstufen hat etwas Kränkendes. Es ist so, als würde man in seiner persönlichen Existenz heruntergestuft. Man wird gleichsam gezwungen, sich auf einer anderen Rangstufe des Lebens zu bewegen: abgeschnitten von der unerschöpflichen Quelle des künstlichen Lichts.
Das Ausschalten des Lichts macht die Menschen passiv und schwach. Es lässt sie nicht mehr teilhaben an einem Ganzen, das stärker ist als sie selbst, sondern es wirft sie zurück auf die eigene Existenz und ein Minimum von Wirkungs- und Entwicklungsmöglichkeiten. Ohne Licht irren die Menschen nur noch unbeholfen im Dunkel herum. Sie werden abhängig von anderen, auf deren Führung sie angewiesen sind.
Ohne Licht verschwindet auch die sichtbare Welt. Fassaden, Häuser, Fahrzeuge, Menschen verlieren ihre Kontur und verschwimmen mit der dunklen Umgebung. Die Welt wird unzugänglich für Begegnungen, für Entdeckungen, für Austausch und Erkenntnis. Der öffentliche Raum schrumpft zusammen und am Ende bleibt nur noch die eigene Wohnung übrig. Die Menschen werden zu Stubenhockern und die Städte zu Nicht-Orten.
(5) Das Abdunkeln ganzer Städte wurde vor zehn Jahren aus Kostengründen in einigen Städten des Ruhrgebiets ausprobiert, aber schnell wieder aufgegeben (Meßing 2013). Im großen Stil gab es so etwas eigentlich nur in Kriegszeiten, als man mit Verdunkelung die Orientierung feindlicher Bomberpiloten erschweren wollte. Entsprechende Verordnungen wurden in vielen europäischen Ländern bereits während des ersten Weltkriegs erlassen. Aus Angst vor deutschen Zeppelinen wurde 1914 in London sogar die Beleuchtung zu Weihnachten, dem traditionellen Lichtfest, verboten (Prager Tagblatt 1914).
Während der Nazizeit wurde die Organisation des Luftschutzes bereits im Jahre 1935 per Gesetz geregelt. Ein Jahr später wurden spezielle Verordnungen zur Verdunkelung der Häuser und Straßen erlassen, die immer peniblere Vorschriften enthielten und sogar die Abdeckung der Kellerschächte verlangten. In manchen Siedlungen mussten sämtliche Hausfassaden mit schwarzen Tarnanstrichen versehen werden (vgl. Baumann 2020) .
Die Menschen mussten damals wohl gewusst oder zumindest geahnt haben, dass das Land auf einen Krieg zusteuerte. Dunkle Fenster und dunkle Häuser sind nicht das Heim, in dem wir uns gerne aufhalten. Sie haben etwas Bedrohliches und Un-Heimliches: als wäre in der schwarzen Farbe bereits die feindliche Welt enthalten, die das vertraute Leben zerstören wird.
Der Krieg beginnt niemals unerwartet, sondern er kündigt sich zuerst im Alltag der Menschen an. Er beginnt mit einem Angriff gegen das eigene Volk, gegen ihre Lebensgewohnheiten, gegen den Reichtum und die Vielfalt der Kultur, gegen das, was frühere Generationen erreicht und erschaffen haben.
(6) Wir wissen nicht, ob den Deutschen wieder ein blutiger Krieg bevorsteht, ein globaler Wirtschaftskrieg ist aber bereits in vollem Gange. Die Aufrufe und Verordnungen zum Sparen sind eine für alle spürbare Folge dieses Wirtschaftskriegs. Sie stimmen die Deutschen ein auf einen Winter der Entsagungen und der Entbehrungen.
Die Entsagungswelten, von denen die Politiker sprechen, verhindern aber auch wirtschaftliche Erholung, Aufschwung und Erneuerung. Sie verhindern, dass sich die Menschen der Notwendigkeit von Veränderungen stellen und dass sie dabei mutig und erfinderisch werden. Der Mangelzustand nimmt ihnen nicht nur elektrische, sondern auch seelische Energien. Er raubt ihnen die Hoffnung und die Perspektive, dass sich ihr Leben zum Besseren wenden könnte.
Das Abschalten des Lichts ist ein Sinnbild für die Entkräftung einer ganzen Gesellschaft. Die Gesellschaft wird zum Stillstand verurteilt und es wird so getan, als gebe es dazu keine Alternative. Das Lied vom Sparen ist eine Fortsetzung des Lockdowns in anderer Gestalt. Es ist das Eiapopeia vom Mangel, von der Selbstbeschränkung und den fehlenden Entwicklungsmöglichkeiten.
Baumann, Maria et al. (2020): Verdunkelung als Vorsorgemaßnahme. In: 75 Jahre Kriegsende in Regensburg. Digitales Ausstellungsprojekt in Zusammanarbeit mit dem Bistum Regensburg. Verfügbar unter: https://www.kriegsende-regensburg.de/vertiefungskapitel/stadt-im-krieg/verdunkelung
Meßing, Frank (2013): Laternen aus – wie Städte mit nächtlicher Verdunklung sparen wollen. Der Westen, Online-Ausgabe vom 3.5.2013. Verfügbar unter: https://www.derwesten.de/wirtschaft/laternen-aus-wie-staedte-mit-naechtlicher-verdunklung-sparen-wollen-id7913942.html
Prager Tagblatt (1914): Dunkle Weihnachten in London. Prager Tagblatt vom 30.12.1914, S. 6. Verfügbar unter: https://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?apm=0&aid=ptb&datum=19141230&seite=7
Schivelbusch, Wolfgang (2005): Entfernte Verwandtschaft. Faschismus, Nationalsozialismus, New Deal 1933-1939. Frankfurt (2008): Fischer.
Vierboom, Carl; Härlen, Ingo (2011): Gefährdung und Verletzbarkeit moderner Gesellschaften am Beispiel eines großräumigen Ausfalls der Stromversorgung. Kurzgutachten für den Deutschen Bundestag. Berlin: Büro für Technikfolgen-Abschätzung.