Kölner Zellen – Über den Karneval der Jugend

Kölner Zellen – Über den Karneval der Jugend

(1) In Köln beginnt am Donnerstag der Straßenkarneval und dafür haben sich viele Kneipenwirte in diesem Jahr etwas Besonderes ausgedacht. Wer bei ihnen feiern will, der muss sich im Vorfeld eine Eintrittskarte besorgen. Ohne Ticket steht man vor verschlossenen Türen oder kräftig gebauten Security-Mitarbeitern. „Trink doch einen mit“, das war gestern. Heute heißt es an vielen Stellen nur noch: „Wir bleiben unter uns.“

Viele Karnevalisten haben für das neue Konzept durchaus Verständnis. Die Tickets ersparen das lange Warten vor dem Einlass, die drangvolle Enge im Innern der Kneipe und das dauernde Rein und Raus der Gäste, die kommen oder gehen wollen. Wenn man einmal drin ist, dann steht relativ eindeutig fest, wer dazugehört und wer nicht. Eine geschlossene Gesellschaft ist immer auch eine kleine Welt für sich.

Natürlich spielen auch die Erfahrungen während der vergangenen drei Jahre eine Rolle. Es soll Menschen geben, die immer noch ernsthaft davon überzeugt sind, dass das Virus auf einer rheinischen Karnevalssitzung in die Welt gesetzt und von hier aus in ganz Deutschland verbreitet wurde. In diesem Jahr ist das Betreten einer Kneipe zwar nicht mehr an den Nachweis einer Impfung gebunden; man kann sich aber vorstellen, dass sich manche Menschen im Innern der Wirtshäuser etwas sicherer fühlen, wenn der Abstand zu ihren Mitmenschen gewahrt bleibt.

(2) „Sicher und respektvoll feiern“, so lautet auch die Devise der Stadt Köln, die in der Vergangenheit einige Probleme damit hatte, der feiernden Massen Herr zu werden. An bestimmten Hotspots, zu denen vor allem das Viertel um die Kölner Universität gehört, droht auch dieses Mal das Geschehen aus dem Ruder zu laufen. Junge Leute werden zu Tausenden die Straßen und Kneipen des Viertels fluten und daraus eine Maxi-Version jener berüchtigten Partymeilen machen, wie man sie von südlichen Ferieninseln oder alpinen Skiressorts kennt.

Die Stadt Köln, die schon einmal Fünfe gerade sein lässt, wenn es um die zuverlässige Organisation ihrer Verwaltungsaufgaben geht, ist offenbar fest entschlossen, dieses Mal hart durchzugreifen. Mit viel Aufwand hat sie ein „Sperr- und Sicherheitskonzept“ ausgearbeitet, das den Andrang der „Feiernden“ kanalisieren und die Jugend auf eigens präparierte Ausweichzonen umleiten soll, wenn es im Uni-Viertel zu voll werden sollte. Ein halbe Million Euro hat die Stadt allein für die Abdeckung der Rasenflächen um das Universitätsgelände ausgegeben, weil die Grünflächen als Naturschutzgebiet ausgewiesen sind und für so viele Menschen eigentlich gar nicht freigegeben werden dürfen.

Die vielen Sperrgitter und die meterhohen Drahtzäune um das Ausweichgelände erinnern allerdings eher an ein militärisches Sperrgebiet als an eine Feierzone. Das Gelände soll zwar von einer Musikband „bespielt“ werden, damit die Menschen, die in die Ausweichzone umgeleitet werden, nicht das Gefühl haben, irgendetwas zu verpassen. Aber so eine Band gibt es auch im Gefängnis, wo man die Insassen manchmal großzügig mit Musik und anderen Extras bei Laune  hält. Auch die eigens angeheuerten Hundertschaften von Ordnungs- und Security-Mitarbeitern, die überall im Viertel Zugänge und Taschen kontrollieren sollen, machen den Eindruck, als wolle man die jungen Leute erst einmal in ein Bootcamp stecken, bevor man ihnen erlaubt, Karneval zu feiern.

Man habe nichts dagegen, wenn die Menschen an Karneval ihren Spaß haben wollen, behauptet die Stadt Köln auf ihrer Homepage. Aber im gleichen Atemzug redet sie vom „Respekt“, den die jungen Leute der Stadt und allen, die darin wohnen, schuldig wären. Und weiter heißt es mit drohendem Unterton: „Wer unsere Stadt vermüllt und die zahlreichen Toiletten ignoriert, hat nicht verstanden, worum es im Karneval und beim Feiern geht.“

(3) Die Kölner behaupten gerne, dass sie den rheinischen Karneval erfunden und von Köln aus in andere Städte des Rheinlands exportiert hätten. Das machen sie in diesem Jahr daran fest, dass vor genau zweihundert Jahren ein Komitee gegründet wurde, das bis heute die Organisation des großen Stadtfestes übernimmt. In Wirklichkeit waren es aber nicht die Kölner, die diese Idee hatten, sondern die Preußen, die mit den Rheinländern und dem Karneval nicht viel anfangen konnten. Der Karneval war rauschhaft, aggressiv, gewalttätig und zerstörerisch – jedenfalls aus Sicht der preußischen Regierung, die sich genauso vor zerbrochenen Fensterscheiben wie vor den revolutionären Gesängen der Studenten fürchteten.

Tatsächlich hatte es den Karneval nämlich schon lange vor der Gründung des Festkomitees gegeben und genauso wie in anderen Landesteilen war das nicht nur ein buntes, sondern immer auch ein wildes Treiben. Wenn die Menschen den nahenden Frühling witterten, dann drangen sozusagen auch die triebhaften Seiten ihres Daseins hervor und verlangten nach ihrem Recht. Vor allem die jungen Leute rotteten sich zusammen, zogen lärmend durch die Gassen und Straßen der Stadt, drangen in Häuser ein und kehrten die ordentliche Welt der Bürger für einige Tage vollständig auf den Kopf. Was die Studenten heutzutage im Univiertel anrichten, ist gegen den Karneval in seiner Urform ein Kinderspiel.

Die preußische Obrigkeit konnte sich mit diesem Treiben auch deshalb nicht anfreunden, weil die Revolte des Karnevals nicht nur auf den sozialen Alltag, sondern auch auf die politische Ordnung der Gesellschaft zielte. Für die Preußen lag das Rheinland fast schon in Frankreich, wo Könige gestürzt und die Kirchen säkularisiert worden waren. Deshalb dauerte es auch nicht lange, bis die Preußen den Karneval ebenso systematisch in den Griff nahmen wie alle anderen Dinge in ihrem Reich. Nachdem das Festkomitee offiziell gegründet war, gab es sich erst einmal eine ordentliche Satzung, wählte einen Präsidenten und eine Anzahl von Räten, die dem Präsidenten fortan zur Hand gehen sollten und bis heute zuverlässig ihr Amt verwalten.

Danach ging man daran, Zucht und Ordnung in das karnevalistische Treiben der Kölner Bürger zu bringen. Das Herumziehen in wilden Horden wurde selbstverständlich verboten. Statt dessen wurde ein Umzug organisiert, der den Triumphzügen der Könige nachempfunden war und das Volk in die Rolle mehr oder weniger passiver Zuschauer verwies, die dem „Helden“ Karneval huldigen sollten, aus dem wenig später ein richtiger „Prinz“ wurde. Auch die studentischen Burschenschaften tauchten in anderer Gestalt als Karnevalsgesellschaften wieder auf. Sie bestanden ebenfalls aus lauter Männern, waren genauso trinkfest wie die Studenten, gaben sich aber staatstragend und haben bis heute eine Vorliebe für schmucke Uniformen und blank polierte Säbel.

Die Kölner behaupten heute, das alles wäre als Parodie auf die preußischen Zustände gedacht gewesen. Das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass nach dem Eingriff des „festordnenden Komitees“ die Kritik an den Herrschenden nur noch ziemlich verhalten ausfiel. Eigentlich war der Gründungsakt des Kölner Karnevals so etwas wie ein Pakt zwischen dem preußischen Staat und dem aufstrebenden Bürgertum, das den Karneval nach seinen eigenen Regeln organisierte: genauso bürokratisch, genauso bieder und genauso langweilig wie sich das Bürgertum in dieser Zeit selbst verfasst hat.

(4) Zum Glück ist es dabei aber nicht geblieben. So wie das Rheinland „wilde“ Denker wie Heinrich Heine oder Karl Marx hervorgebracht hat, so hat es auch die „wilde“ Form des Karnevals bewahrt: die alternativen Karnevalsgesellschaften, die gegen den Muff des traditionellen Sitzungskarnevals „anstinken“; die bunten Horden, die sich weitgehend unorganisiert und unerkannt treffen und dabei wie „alte Säue“ über die Stränge schlagen; die vielen Lieder, die den Alltag der Menschen zum Thema haben und dabei auch Dinge aussprechen, die dem Volk und nicht den Herrschenden wichtig sind.

Vor allem hat sich abseits des Sitzungskarnevals aber auch der Straßen- und der Kneipenkarneval erhalten. Die wilden Tänze in den Kölner Kneipen sind sozusagen die „revolutionären Zellen“, aus denen der Karneval einmal entstanden ist. Sie sind laut, sie sind eng, sie sind rauschhaft und sie sind ekstatisch. Für ein paar Stunden kommen Menschen zusammen, die sich in den meisten Fällen vorher noch nie gesehen haben, die sich aber trotzdem bei jeder Gelegenheit in den Armen liegen, die wie ihre studentischen Vorbilder sehr viel trinken und die schließlich gemeinsam und voller Inbrunst die Lieder anstimmen, in denen sich ihr eigenes Leben widerspiegelt: die Sehnsucht nach menschlicher Verbundenheit und Nähe; die Liebe zu der Stadt, in der man wohnt und arbeitet; die Trauer über die Vergänglichkeit der Zeit, die alles gibt, aber auch alles wieder nimmt.

In Köln wird erzählt, dass im Kneipenkarneval ebenso viele Ehen gestiftet wie geschieden worden sind. Genauso verhält es sich wahrscheinlich auch mit den Touristen, die anschließend für immer in Köln bleiben oder fluchtartig die Stadt verlassen wollen. Für alle gilt, dass sie die eigentümliche Musik des Karnevals so schnell nicht wieder aus dem Kopf bekommen können. Der Karneval ist wie eine Aufforderung, das eigene Leben zu überdenken und anders anzugehen. Er ist im Grunde eine Verheißung darauf, dass das Leben mehr zu bieten hat als Arbeit, Disziplin und Müll-Trennung. Er ist eine Feier der Verwandlung und der Fülle, die aus dieser Verwandlung hervorgehen kann.

(5) Es sagt schon einiges über den Zustand unserer gegenwärtigen Kultur aus, wenn sie dieses Fest nach den drei langen Corona-Jahren nur unter großem Vorbehalt und zahlreichen Vorsichtsmaßnahmen feiern will. Zwar wird offiziell behauptet, man würde nun endlich zur Normalität zurückkehren, aber in Wirklichkeit wird weiter abgesperrt, aussortiert und dichtgemacht. Ähnlich wie bei Corona wird das Ganze zugleich unkenntlich gemacht durch eine heuchlerische und verlogene Moral: Ausschluss und Kontrollen geschehen nur zur eigenen Sicherheit; der Respekt vor anderen verlangt die Einschränkung persönlicher Freiheiten; Strafen und Repressionen drohen nur denjenigen, die die Regeln der Gemeinschaft missachten.

Auffällig ist darüber hinaus, dass sich die Maßnahmen auch hier wieder gegen die jungen Leute richten. Während man bei Corona befürchtet hatte, dass Kinder und Jugendliche infektiöses Material auf Alte und Kranke übertragen könnten, fürchtet man sich im Karneval vor der Ansteckung durch ein Virus, das von der studentischen Jugend ausgehen könnte. Offenbar sieht die Stadt die Umgebung der Universität als so gefährlich an, dass sie das ganze Gebiet am liebsten einzäunen und unter eine dicke Schutzschicht aus Isolier- und Dämm-Material legen würde. Die Jugend muss in Sicherheit gebracht werden, behauptet die Stadt. In Wirklichkeit meint sie aber: Steckt die Jugend hinter Gitter, damit sie uns nicht gefährlich werden kann!

Aber spricht die Stadt damit nicht vielleicht ungewollt eine tiefere Wahrheit aus? Immerhin sind sich Psychologen und Soziologen ziemlich einig darin, dass das Verhältnis der Generationen nicht ohne Spannungen bleiben kann. Die alte Generation wünscht sich die Jungen, denn ohne die Jungen würde zerfallen, was sie selbst aufgebaut hat. Gleichzeitig hat sie aber auch allen Grund dazu, sich vor der Jugend zu fürchten, denn diese will es immer anders machen als ihre Väter oder Mütter. Sie will die Welt nach ihren eigenen Vorstellungen neu erfinden und dabei scheut sie auch nicht davor zurück, das Alte einzureißen, zu zerstören oder auf den Kopf zu stellen.

Die Revolte des Karnevals ist daher notwendig auch ein Fest der Jugend. Die Verwandlungen, die im Karneval angelegt sind, entsprechen der Verwandlungssehnsucht, von der die junge Generation angetrieben wird und die stark und sichtbar, groß und wirksam in Erscheinung treten will. Es ist sicher kein Zufall, dass sich die jungen Menschen in Köln ausgerechnet in der Nähe der Universität versammeln, denn das war in der Vergangenheit einmal der Ort, an der die neue Generation ihre geistige Nahrung finden, aber auch die Ausrüstung für Aufstieg und Karriere erwerben konnte. Um diese Hoffnung ist die Jugend heute zum größten Teil beraubt worden.

(6) Wir haben in den Jahren vor Corona erlebt, wie die Jugend in vielen Ländern der Erde gegen bestehende Regierungen revoltiert und alte Machtverhältnisse beseitigt hat. Wir haben ebenfalls erlebt, wie westliche Regierungen auf diese Bewegungen in Panik reagiert oder versucht haben, die Revolten in politisch neutrale Proteste umzuwandeln. Corona kann man in diesem Zusammenhang auch als einen Versuch verstehen, das Virus der Revolte sozusagen schon im Keim zu ersticken und den jungen Menschen die Schuld am Zerfall einer Gesellschaft zu geben, die notwendigen Veränderungen aus dem Weg zu gehen versucht und daher nur noch im Ausnahme- und Krisenmodus regiert werden kann. Die Jungen ersticken die Alten, hieß es. In Wirklichkeit ging es aber um die alte Bundesrepublik, deren Leistungs- und Funktionsträger sich in eine Sackgasse manövriert hatten und die ihren Bürgern kein Bild von einer lebenswerten Zukunft anbieten konnten.

Im 19. Jahrhundert haben die alten Preußen nicht so sehr auf die Wirkung der Moral, sondern auf diejenige der Disziplin gesetzt. Die Preußen haben den Kölnern nicht nur den Karneval gebracht, sondern auch neue Befestigungsanlagen, die Eisenbahn, die Industrialisierung und ein staatliches Schulsystem, in dem der Nachwuchs mit den Errungenschaften der preußischen Herrscher bekannt gemacht wurde. Als die Jugend um die Jahrhundertwende trotzdem aufbegehrte und neue Rechte einforderte, schickte das deutsche Kaiserreich sie kurzerhand in den Krieg. Am Ende des ersten Weltkriegs hatten allein in Deutschland mehr als zwei Millionen Soldaten ihr Leben verloren; allerdings war auch das Reich der Preußen endgültig von der Landkarte verschwunden.

Die Mitarbeiter der Kölner Stadtverwaltung werden die „tollen“ Tage wohl mit gemischten Gefühlen erwarten und inständig hoffen, dass ihr „Sperr- und Sicherheitskonzept“ unter dem Ansturm der jungen Leute nicht auseinanderfällt. Man kann den Verantwortlichen nur raten, sich spätestens am Aschermittwoch zusammenzusetzen und unter Missachtung aller intellektuellen Sperr- oder Ausweichzonen eingehend über die Situation der Jugend, der Schulen und der Universität zu beraten. Solange diese Situation nicht in ihrer wirklichen Tragweite wenigstens erkannt wird, steht zu befürchten, dass der alte Karneval zurückkehren und sich in der Stadt in Form einer Dauerrevolte der jungen Leute festsetzen wird.

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