Impfmüdigkeit

Impfmüdigkeit – Über das Menschenbild der Spieltheorie

(1) Die Impfquote stagniert in Deutschland weiterhin auf einem bescheidenen Niveau von gut 60 Prozent. Sie ist damit von der Zielmarke ebenso weit entfernt wie das Wahlergebnis der großen Volksparteien von einer regierungsfähigen Mehrheit. Inzwischen werden sogar die mit viel Aufwand eingerichteten Impfzentren wieder abgebaut, weil sich hier niemand mehr blicken lässt. Gähnende Leere an den Stellen, wo zu Beginn der Kampagne täglich millionenfach geimpft wurde.

Den Regierenden scheint es zu gehen wie einem Autohersteller, der ein neues Produkt auf den Markt bringt und feststellen muss, dass der Zuspruch nach anfänglicher Begeisterung mit einem Male erlahmt. Der Impfstoff ist über Nacht zum Ladenhüter geworden. Wäre er tatsächlich ein Konsumgut, könnte er nur noch verramscht werden. Wer hat noch nicht, wer will noch mal.

Bei einem Produkt, das zum Wohle der Menschheit entwickelt wurde, geht das natürlich nicht. Anstatt sich mit der Einsicht zu begnügen, dass der Markt gesättigt ist, setzen die Regierenden alles daran, das widerspenstige Marktvolk von den Segnungen des Stoffes zu überzeugen: mal mit Werbegeschenken (Bratwurst), mal mit Zugangsbeschränkungen (3 G), mal mit Drohungen (Triage).

(2) Im Hintergrund sind schon längst die Marketingstrategen aktiv geworden. Komischerweise verspüren diese immer häufiger die Neigung, in den Medien öffentlich über ihre Ziele und Absichten zu plaudern – was bei einer echten Marketingkampagne so gut wie niemals vorkommt. Man kann also annehmen, dass die Marketingstrategen die Politiker gar nicht wirklich beraten, sondern ihnen lediglich Rechtfertigungen für Entscheidungen liefern sollen, die längst getroffen wurden. Nach dem Motto: Wir wissen zwar nicht, was wir tun, können es aber immer gut begründen.

In der FAZ hat sich jetzt auch ein Vertreter der „Spieltheorie“ zu Wort gemeldet. Er geht der Frage nach, ob man zur Steigerung der Impfbereitschaft zu Belohnungen oder doch lieber zu Bestrafungen greifen sollte. Eine Überzeugung durch rationale Argumente kommt für ihn nicht mehr in Frage. Ähnlich wie für die Politik bleibt zum gegenwärtigen Zeitpunkt auch für die Spieltheorie nur noch die Alternative zwischen „Zuckerbrot und Peitsche“.

Nach den Erkenntnissen der Spieltheorie sind Belohnungen allerdings mit einem Gewöhnungseffekt verbunden. Sie lösen bei den Adressaten leider unausweichlich den Wunsch nach immer mehr und immer größeren Belohnungen aus, so dass diese Möglichkeit am Ende mit erheblichen gesellschaftlichen Kosten verbunden sein könnte. Man müsste sozusagen viel Zuckerbrot für die Impfverweigerer backen, was dann wieder einmal auf Kosten des vernünftigen Teils der Bevölkerung ginge.

Es bleibt also nur die Möglichkeit der Bestrafung: natürlich nicht per Impfzwang, denn Zwang will in unserer freiheitlichen Gesellschaft niemand ausüben. Aber Bestrafung der Ungeimpften kann eben auch darin bestehen, die Gebühren für die Testung anzuheben, den Zugang zu öffentlichen Veranstaltungen zu verweigern oder im Quarantäne-Fall den Arbeitslohn zu streichen: alles Möglichkeiten, die von der Politik längst beschlossen wurden und durch die Spieltheorie jetzt endlich ihre wissenschaftliche Weihe erhalten haben.

(3) Der Begriff der „Spieltheorie“ ist eigentlich ein Etikettenschwindel. Es geht dabei nämlich nicht um das Ausloten oder Eröffnen von Spielräumen, sondern im Gegenteil darum, solche Spielräume zu schließen. Die Spieltheorie will Entscheidungen vorhersagen und berechenbar machen. Sie behauptet, sie könnte das scheinbar zufällige Verhalten der Menschen voraussagen wie das Ergebnis einer Rechenaufgabe.

Dazu reduziert die Spieltheorie komplexe Entscheidungssituation auf Situationen, die nur wenige Alternativen offen lassen. Das Verhalten der Akteure erscheint dann als Wahl zwischen unterschiedlichen Entscheidungsmöglichkeiten und kann zu den Handlungsmöglichkeiten der anderen Akteure in Beziehung gesetzt werden. Im einfachsten Fall gelingt dies mit Hilfe einer Matrix, in der jeweils genau aufgeführt ist, welche Kosten mit der einen oder anderen Entscheidung verbunden sind und welche Lösungen daher bevorzugt und welche abgelehnt werden sollten.

Weil sich die entsprechenden Modelle mit Hilfe mathematischer „Modellierung“ mächtig aufplustern lassen und daher auch Voraussagen für komplexere Situationen möglich werden, hat die Spieltheorie auch Eingang in die Wirtschaftswissenschaften und die Politik gefunden. Die Einführung neoliberaler Wirtschaftsordnungen stützt sich über weite Strecken auf Konzepte der Spieltheorie, und vieles deutet darauf hin, dass sie auch den Hintergrund für politische Entscheidungen im Rahmen der Corona-Krise gebildet hat. Sogar die Bezeichnung für das „Triell“ der Kanzlerkandidaten ist einer prototypischen Anordnung aus der Spieltheorie entnommen.

(4) Die Spieltheorie kommt scheinbar abgeklärt und wissenschaftlich daher, sie stützt sich aber auf einige ungeklärte Vorannahmen, die es in sich haben. Als bedenklich muss zum einen der geradezu naive Glaube an die vollständige Berechenbarkeit des menschlichen Handelns angesehen werden. Eine solche Berechenbarkeit gibt es nämlich nicht. Sie wird erst möglich unter den reduzierten Bedingungen, von denen die Spieltheorie ausgeht und in denen immer nur eine begrenzte Anzahl von Entscheidungsmöglichkeiten zur Verfügung steht.

Auch die Annahme, das menschliche Handeln könnte auf eine Verkettung bewusster Entscheidungen („rational choice“) reduziert werden, entspricht nicht unserer Alltagserfahrung. Entscheidungssituationen, wie sie im Zentrum der Spieltheorie stehen, machen nur einen kleinen Anteil des menschlichen Handelns aus. Wir sind nicht ständig dabei, uns zwischen verschiedenen Möglichkeiten zu entscheiden, sondern wir folgen in der Regel einem unbewussten Verhaltensmuster, in dem von vornherein bestimmte Richtungen festgelegt und andere Richtungen ausgeschlossen sind.

Besonders merkwürdig ist aber, dass sich die Spieltheorie auf Entscheidungen bezieht, die mit sehr weitreichenden und geradezu existenziellen Konsequenzen verbunden sind. Beim „chicken game“ geht es etwa um Jugendliche, die mit ihren Autos in Höchstgeschwindigkeit aufeinander zurasen; beim „Gefangenen-Dilemma“ um zwei Kriminelle, die vor der Wahl stehen, ihre Tat zu gestehen oder sie zu leugnen; beim „Triell“ sollen drei Schützen aufeinander schießen, bis keiner mehr übrig bleibt usw..

(5) Wieso gründen die Spieltheoretiker ihr Konzept auf solche extremen Beispiele? Warum fragen sie niemals danach, was dazu führt, dass Menschen überhaupt in solche Situationen hineingeraten? Müsste man nicht eher untersuchen, unter welchen Voraussetzungen gewaltsame Entscheidungen erzwungen werden, anstatt danach zu fragen, wie man aus selbstgeschaffenen Zwangslagen wie dem „chicken game“ wieder herauskommt?

Man könnte vermuten, dass die Spieltheoretiker sich zwar sehr wissenschaftlich und rational gebärden, in Wirklichkeit aber selbst viel Spaß an ausweglosen Situationen haben. Irgendetwas fasziniert sie an dem menschlichen „Dilemma“, das keine kooperativen Lösungen vorsieht, sondern immer nur Ausgänge, die auf Kosten der anderen Mitspieler erreicht werden. Die Spieltheorie liefert das passende Konzept zum Raubtierkapitalismus.

Im Unterschied zu anderen wissenschaftlichen Konzepten ist die Spieltheorie dank mächtiger Fördere allerdings in der Lage, die Wirklichkeit so herzustellen, dass sie zu den eigenen Annahmen passt. Für die Spieltheorie wäre es beispielsweise kein Problem, die Produkte in einem Warenhaus so anzuordnen, dass die Käufer irgendwann in eine Situation hineingeraten, in der sie sich zwischen vorgegebenen Kauf-Optionen entscheiden müssen. Wenn die Kunden das Kaufhaus anschließend mit vollen Einkaufstaschen verlassen und trotzdem das Gefühl haben, selbständig entscheiden zu haben, dann haben sowohl das Kaufhaus als auch die Spieltheorie gewonnen.

(6) Es lässt sich, wie gesagt, nicht ausschließen, dass das Kaufhausmodell auch bei der Corona-Politik eine Rolle gespielt hat. Wenn die Spieltheorie Recht hat, dann spricht nichts dagegen, die ganze Gesellschaft so zu behandeln, dass eine bestimmte Entscheidung erzwungen wird. Man erzeugt eine Notlage, aus der nur noch einige wenige Auswege herausführen, die komplett vorhersagbar und damit beherrschbar sind. Man hat die Gesellschaft sozusagen „verhaftet“ wie im Beispiel des Gefangenen-Dilemmas, in dem die Betroffenen nur noch zwischen wenigen Möglichkeiten wählen können. Am Ende steht in jedem Fall das Gefängnis.

Die Marketingexperten der Bundesregierung sprechen in der Regel nicht so deutlich über ihre Absichten. Das Wort von „Zuckerbrot und Peitsche“ ist immerhin deutlich genug – ebenso wie die Ausführungen des zuständigen Journalisten der FAZ, der die Situation in seinem Bericht mit den Erfahrungen in der Kinderstube vergleicht oder fordert, dass man Hinweise auf einen „verstecken Impfzwang“ in keinem Fall „durchgehen“ lassen solle.

Wer so spricht, der spricht nicht von demokratischen Prozessen, sondern von Dressur: als wäre die Gesellschaft ein Zirkus, in dem man das Volk abrichten könnte wie Affen, Pferde oder Elefanten. Es wäre den Verantwortlichen dringend zu raten, einmal darüber nachzudenken, ob nicht gerade eine solche Haltung als Ursache der Impfverweigerung anzunehmen wäre. Als Affen, die nach der Pfeife von superschlauen Spieltheoretikern zu tanzen hätten, wollen sich wahrscheinlich nur die wenigsten Menschen verstehen.

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