Exerzierplatz

Kontrollgesellschaft: Corona als Exerzierplatz

Von Michael Ley und Carl Vierboom

(1) Über die Sommerferien ist die nationale Impfkampagne ins Stocken geraten. Etwas mehr als die Hälfte aller Bundesbürger ist bisher doppelt geimpft, aber das reicht den Politikern nicht. Sie sind der Meinung, das Land könnte den Winter nicht unbeschadet überstehen, wenn sich nicht möglichst die komplette Bevölkerung „den kleinen Pieks“ abgeholt hätte. Voller Sorge wird bereits von den kommenden, den fünften oder sechsten „Wellen“ gesprochen und am Horizont taucht auch schon wieder das Gespenst des Lockdowns auf.

Gleichzeitig werden die Bemühungen verstärkt, auch diejenigen einzusammeln, die sich bisher noch nicht freiwillig in den Impfzentren eingefunden haben. Wenn die Menschen nicht zum Impfstoff kommen, dann muss der Impfstoff eben zu den Menschen kommen, behaupten die Politiker und lassen mobile Impfkommandos vor Einkaufszentren oder öffentlichen Plätzen auffahren. Manchmal werden den Leuten dazu auch Bratwürste, Freibier oder ein Einkaufsgutschein versprochen.

Auch Kinder und Jugendliche sollen beim Impfen mitmachen. Die STIKO äußert Bedenken, weil die Folgen für die Jungen aus medizinischer Sicht noch nicht absehbar sind, aber die Politik will sich mit solchen Kleinigkeiten nicht aufhalten. Immerhin geht es um eine Notlage von nationaler Tragweite und in dieser Lage kann kein Opfer zu groß sein. Deshalb sollen die mobilen Einsatzkommandos demnächst auch auf den Schulhöfen auffahren.

(2) Wir haben die Impfkampagne in einem früheren Beitrag als Massenmobilisierung beschrieben. Wenn man sich ansieht, was gegenwärtig in der Republik geschieht, dann sehen wir, dass diese Einschätzung zutrifft. Die Politiker reden so, als hätten sie unseren Aufsatz gelesen und organisieren das Impfen wie eine nationale Einigungsbewegung. Der Kanzlerkandidat der CDU kündigt eine „Impf-Offensive“ an und der Gesundheitsminister bezeichnet das Impfen sogar als eine „patriotische Pflicht“. Nur wenn alle mitmachen, kann der „Krieg gegen das Virus“ gewonnen werden.

Wer sich noch sträubt oder zögert, dem werden unverhohlen Konsequenzen angedroht. Die meisten Politiker sind inzwischen der Ansicht, dass von den bürgerlichen Freiheiten künftig nur diejenigen profitieren könnten, die geimpft sind. Impfskeptiker oder Impfgegner sollten nach ihrer Ansicht damit rechnen müssen, dass sie medizinisch nachrangig behandelt, von Restaurantbesuchen ausgeschlossen oder vom Dienst suspendiert werden können. Selbst die Grünen, die sonst jede Tier- und Planzenart vor der Ausrottung bewahren wollen, bekennen sich auf einmal ausdrücklich zur Diskriminierung von Ungeimpften. Das passiert „ganz automatisch“, meint ihr Vorsitzender im Sommerinterview des deutschen Fernsehens. Wahrscheinlich ist er sich über den Gehalt dieser Aussage nicht einmal annähernd im klaren.

Auch der Ton, in dem die Drohungen gegen die Ungeimpften ausgesprochen wird, ist in der Zwischenzeit etwas rauer geworden. Ein Standesvertreter der Ärzte ist der Meinung, die Leute sollten sich einfach impfen lassen und ansonsten „die Klappe halten“. Das erinnert stark an den Feldwebel, der seine Leute auf dem Kasernenhof anraunzt. Wie Foucault zeigen konnte, sind die Krankenhäuser und die Kasernen ungefähr im gleichen historischen Zeitraum entstanden. Wahrscheinlich würde es sich lohnen, diese Verbindungslinie einmal für die Gegenwart zu untersuchen.

Diejenigen, die sich kritisch äußern oder gegen die Politik der Regierung vielleicht sogar protestieren wollen, geraten immer mehr in die Defensive. Deutschland ist so ziemlich das einzige Land in Europa, in dem Demonstrationen gegen die Corona-Politik verboten werden. Die wenigen, die sich trotzdem versammeln, müssen seit dem vergangenen Wochenende damit rechnen, dass sie von der Polizei gefasst und eigenhändig verprügelt werden. Auch das passt zum Leben auf dem Kasernenhof.

(3) Die Kaserne ist aber auch ein Exerzierplatz, ein Erziehungs- und ein Umerziehungslager. Deshalb bleibt es auch in Deutschland nicht bei Ankündigungen und Drohungen, sondern man bringt den Menschen auch bei, wie sie sich demnächst auf Konzerten, beim Einkaufen oder in den Fußballstadien verhalten sollen. Nachdem man ihnen im vergangenen Jahr den gewohnten Alltag weitgehend weggenommen hat, werden sie nun auf den Zustand eingestimmt, der nach der Pandemie gelten soll.

Die Konzerte von Nena und Helge Schneider waren vielleicht der Anfang. Musikberieselung in Strandkörben, die meterweit voneinander weggerückt und beschönigend als „VIP-Lounge“ ausgegeben werden; 15.000 Getränkekisten als Abstandhalter für die Konzertbesucher; überall Security, die jede Art von Aufregung oder Spontaneität schon im Keime erstickt. Dazu viel Digitales: Einlasskontrollen per App, Überwachung des Impf- oder Teststatus, Aussondern und Abweisen derjenigen, die den jeweils geltenden Sicherheitsvorschriften nicht entsprechen. Die Konzertveranstalter üben sich in der Nachfolge von Polizei und Ordnungsamt.

In Berlin haben die Politiker voller Stolz verkündet, dass mit einem solchen Konzept demnächst auch wieder das Clubleben in Innenbereichen losgehen könnte. Der sagenumwobene Berliner Club „Berghain“ wurde für die Durchführung eines Pilotprojektes ausgesucht und erfolgreich getestet. In den Medien wird berichtet, die Leute hätten viel Spaß gehabt, bei den Einlasskontrollen seien aber auch einige Gäste mit positiven Testergebnissen aufgefallen und in Quarantäne geschickt worden. Die Kontrollen, die früher von Türstehern bewältigt werden mussten, werden jetzt von einem anonymen System erledigt. Niemand ist verantwortlich, den Entscheidungen des Systems kann sich aber auch niemand entziehen. „Das geht ganz automatisch“, würde der Vorsitzende der Grünen sagen.

Die Kölner haben sich mit einer sogenannten „Pop-Up-Kirmes“ leider wieder einmal im ganzen Land blamiert, nachdem das Ordnungsamt feststellen musste, dass die Kirmes selbst zwar völlig keimfrei funktionierte, sich dafür aber vor den Einlasskontrollen lange Schlangen bildeten und die Mindestabstände nicht eingehalten wurden. In einigen Fällen sollen die Menschen Zäune und Absperrungen auch einfach überrannt haben und sich tatsächlich ohne Kontrollen auf das Festgelände begeben haben. Daran lässt sich erkennen, wie schwer es der Staat mit manchen Volksgruppen im Lande hat.

Der Fußballclub der Kölner versucht die Blamage inzwischen wieder wettzumachen, indem er ankündigt, dass sein Stadion demnächst nur noch für Geimpfte und Genesene geöffnet sein wird. Diese Möglichkeit steht natürlich auch allen anderen Veranstaltern, Kaufhäusern, Supermärkten, Unternehmen oder Betrieben offen. Wenn das System von Eingangs- und Zugangskontrollen erst einmal etabliert ist, dann können die Zugangsbedingungen beliebig festgelegt oder verändert werden. Jeder, der Einlass begehrt, kann bis zuletzt nicht sicher sein, ob er im letzten Moment nicht doch noch abgewiesen wird.

Im Fall des Kölner Fußballvereins spiegelt diese Unsicherheit allerdings auch die Situation wider, in der sich die seit Jahren chronisch abstiegsbedrohte Mannschaft selbst befindet. In der Tabelle steht der Kölner Club meistens ganz unten, aber bei Corona will er ganz vorn dabei sein. Offenbar ist ihm dabei auch egal, dass er wahrscheinlich gerade diejenigen Fans vor den Toren stehenlässt, die ihm in der Vergangenheit immer treu ergeben waren. Nach oben buckeln und nach unten treten, das ist ebenfalls alte soldatische Tradition.

(4) Die immer weiter um sich greifende Unsicherheit ist das auffälligste Kennzeichen des neuen „Normal“. Offiziell werden sämtliche Maßnahmen mit dem Versprechen eingeführt, die gefährliche Seuche endlich in den Griff zu bekommen. Wie die Erfahrung zeigt, werden die Menschen in Wirklichkeit aber darüber im Unklaren gelassen, wie es weitergeht. Auch das passt zum Aufenthalt in den Kasernen und in den Umerziehungslagern: Niemand weiß, wie lange es dauern wird, wann das Training vorbei ist und wann der Ernstfall eintreten wird.

Bei Corona tragen zur Verunsicherung der Menschen vor allem die vielen widersprüchlichen Ankündigungen der Politiker bei. Die meisten, die sich in der Vergangenheit impfen ließen, haben das unter der Prämisse getan, dass sie danach ihre alten „Freiheiten“ zurück erhalten können. Inzwischen wird ihnen von den Politikern mitgeteilt , dass diese Auffassung wohl auf einem Missverständnis beruhe. Die Impfung sei nämlich keine Schutzimpfung, wie man sie aus der Vergangenheit kenne, sondern trage allenfalls dazu bei, „schwere Verläufe“ oder Todesfälle zu verhindern.

Wer sich impfen lasse, der sei deshalb auch nicht vollständig oder nur im Rahmen bestimmter Wahrscheinlichkeiten gegen die Infektion mit dem gefährlichen Virus geschützt. Über den Grad der Wahrscheinlichkeit sind sehr unterschiedliche Zahlen im Umlauf – ebenso wie über die Frage, inwiefern die Impfung gegen neue Varianten des Virus oder die gefürchteten „Impfdurchbrüche“ schützen könne. Wegen all dieser Unwägbarkeiten könne man auch den Geimpften nicht erlauben, sich in Zukunft ohne Beachtung der inzwischen zu „Basismaßnahmen“ ernannten Auflagen wie Maskenpflicht und Abstandsregeln im öffentlichen Raum zu bewegen.

Auch die Sache mit dem Einkaufen, dem Urlaub oder den Freizeitveranstaltungen hätten die Leute wahrscheinlich völlig falsch verstanden. Selbstverständlich müsse sich die Regierung das Recht vorbehalten, flexibel auf veränderte Gefahrenlagen zu reagieren. Das schließe auch die Möglichkeit ein, den Bewegungsspielraum der Bevölkerung einzuschränken, wenn damit die weitere Ausbreitung des Virus gestoppt werden könnte. Nachdem in den Corona-Verordnungen der Länder ein gestuftes Verfahren zur Umsetzung der verschiedenen Maßnahmen festgelegt wurde, erfolgen solche Einschränkungen, wiederum „ganz automatisch“.

Im Klartext bedeutet dies, dass im Grunde niemand wissen kann, was als nächstes kommen wird. Es ist nicht klar, was die Effekte des Impfens sein werden, ob die Schulen in diesem Jahr geöffnet bleiben werden, wohin man in Urlaub fahren kann oder wie das Einkaufen aussehen wird, wenn an den Eingängen überall der digitale Impfpass eingescannt werden soll. Die Politik übt sich im Anherrschen und Entzweien der Bevölkerung, aber sie scheint immer weniger zu wissen, was sie eigentlich tut.

(5) Vielleicht ist es aber auch so, dass die Verunsicherung und Zermürbung der Bevölkerung das heimliche Ziel der Politik ist. Das wäre jedenfalls ebenfalls nicht so weit von der Logik der Kaserne entfernt, wo es immer auch darum geht, die Menschen zu demütigen, ihnen den Stolz und das Selbstbewusstsein zu nehmen. „Ihr werdet sterben, aber das Korps ist unsterblich“, sagt der Sergeant in S. Kubricks „Full Metal Jacket“.

Die Ausbildung von Korpsgeist und die Zerstörung individueller Lebensperspektiven gehen immer Hand in Hand. In Deutschland freuen sich die Leute inzwischen schon, wenn die Regierung ihnen erlaubt, einzukaufen, in den Biergarten zu gehen oder ein steril und keimfrei gemachtes Popkonzert aufzusuchen. Weitergehende Ansprüche wie die Beteiligung an einer politischen Gestaltung des Gemeinwesens, Diskussionen über die inhaltliche Gestalt von Schulen oder Universitäten oder die grundsätzliche Frage, wie Alte und Junge miteinander leben sollen, sind von der Tagesordnung gestrichen.

Die vielen Kontrollen und Überwachungen, die in den nächsten Wochen und Monaten mit Sicherheit nicht abgebaut, sondern eher noch zunehmen werden, tun ein Übriges dazu. Wenn man heute einen Corona-Test durchgeführt hat und das Testcenter das Zertifikat auf das Handy geschickt hat, dann sieht man unter dem QR-Code einen digitalen Timer, der die Dauer der Gültigkeit bis auf Zehntelsekunden genau herunterzählt. Schon beim ersten Aufrufen des Testergebnisses wird man daran erinnert, dass ein gewisser Anteil der Zeit, in der das Ergebnis gültig ist, bereits abgelaufen ist.

Das Corona-Regime lebt von einer extrem reduzierten Zeitperspektive. Es lässt den Menschen keine Chance, sich auf die Zukunft hin zu entwerfen, sondern zwingt sie dazu, immer nur von einem Moment zum nächsten zu leben – wobei die Kontrollsysteme fast willkürlich darüber bestimmen können, wie lange dieser Moment dauern soll. Der Test, die Impfung, der Lockdown – keine dieser Maßnahmen bietet den Menschen eine nachhaltige Zukunftsperspektive. Die Politik der Regierung läuft vielmehr auf die fortdauernde Schwächung einer solchen Perspektive hinaus. Sie nimmt den Menschen das Gefühl, eine Zukunft zu haben und sperrt sie statt dessen in eine Gegenwart ein, aus der es kein Entrinnen mehr gibt.

(6) Ähnlich wie das Leben in der Kaserne, im Krankenhaus oder im Gefängnis wird auch das Leben in der Corona-Gesellschaft immer mehr zu einem fortgesetzten Alptraum. Es ist nicht nur der totale Anspruch, der diese Institutionen kennzeichnet, ihre „Alternativlosigkeit“, die jeden Ausweg zusperrt. Es geht dabei auch um den systematischen Ausschluss von Entwicklungs- und Verwandlungsmöglichkeiten, die zur menschlichen Existenz nun einmal hinzugehören. Seit Corona werden diese Verwandlungen nur noch mit einem Virus identifiziert, vor dem man sich fürchtet und das man zu bekämpfen und zu vernichten sucht.

Paradoxerweise kommt die gefürchtete Verwandlung aber durch die Hintertür wieder in den Alltag hinein. Je mehr man verbietet, je mehr man überwacht und kontrolliert, um so mehr erstarrt das gesellschaftliche und kulturelle Leben. Die Welt fühlt sich an wie unter Mehltau begraben. Es ist der Tod, der immer stärker in unser Leben eingreift. Je mehr sich die Corona-Gesellschaft absolut zu setzen versucht, um so mehr zerstört sie die Voraussetzungen, von denen sie selber lebt.

Der Exerzierplatz, der gerade in Deutschland eingerichtet wird, dient wahrscheinlich nicht der Einübung in einen Angriffskrieg. Man kann aber feststellen, dass Corona auf selbstzerstörerische Tendenzen innerhalb unserer modernen Gesellschaft verweist. Es so etwas wie ein kollektiver Selbstmord, den die deutsche Gesellschaft gegenwärtig begeht. Aus Angst vor dem Leben lassen die Menschen den Alltag und die Kultur sterben, die einmal die wesentlichen Grundlagen unseres Zusammenlebens ausgemacht haben.

Print Friendly, PDF & Email