Ein-Freund-Regelung

Ein-Freund-Regelung: Der digitale „Buddy“

(1) „Jeder nur einen Freund“, so kann man die Empfehlung zusammenfassen, mit der das Kanzleramt die Maßnahmen im gegenwärtig gültigen „sanften Lockdown“ noch einmal verschärfen wollte. Nachdem bereits Partys und größere Zusammenkünfte verboten wurden, sollen sich Kinder und Jugendliche künftig nur noch mit einem bestimmten Partner treffen und alle anderen Kontakte über diese elementare „Paarbildung“ hinaus vermeiden.

Aus der Perspektive des Infektionsschutzes sind solche Reduktionen konsequent. Sie schränken nicht nur die Anzahl von Kontaktmöglichkeiten ein, sondern verhindern auch die Bildung größerer Gruppen oder Massen. Die Bekämpfung der Infektion folgt dem Prinzip der Aufteilung und der Isolierung. Was zusammenkommen will, wird in seine elementaren Bestandteile zerlegt und auf Abstand gehalten.

In den Schulen hat das zu Experimenten mit dem Wechselunterricht geführt. Die Schulklassen sind in kleinere Kohorten aufgeteilt und in getrennten Räumen oder an wechselnden Wochentagen unterrichtet worden. Auch Ansätze zur festen Paarbildung wurden erprobt. An manchen Schulen wurden die Schüler aufgefordert, jeweils einen „Kumpel“ oder „Buddy“ zu benennen, den man im Fall einer angeordneten Quarantäne über den Stand des Unterrichts und der Hausaufgaben informieren sollte.

(2) Im Bereich der Schule wäre die Umsetzung der „Ein-Freund-Regelung“ wohl kein großes Problem. Schwierigkeiten befürchtet man dagegen im privaten Bereich. Ärzte und Erzieher weisen darauf hin, dass die meisten Kinder nicht nur einen „besten Freund“ haben, sondern sich in der Regel mit mehreren Freunden oder Freundinnen treffen. Der Zwang, sich für einen bestimmten Partner zu entscheiden, könnte zu Kränkungen und Enttäuschungen führen, die gerade jüngeren Kindern nicht zuzumuten wären.

Das ist eine ganz andere Argumentation, als sie von den Technikern des Infektionsschutzes vertreten wird. Die Ärzte und Erzieher haben vor allem die seelischen Lebensformen der Kinder im Blick. Darin kommen sowohl die enge Bindung an einen „Kumpel“ als auch das Leben in der Gruppe vor. Für die Entwicklung des Kindes ist beides wichtig: die Clique, in der man den Auftritt in einem größeren sozialen Gefüge ausprobieren kann; und die Zweisamkeit unter Freunden, in der man sich die eigenen Stärken und Schwächen wie in einem Spiegelbild gegenüberstellen kann.

Dabei darf man aber auch nicht übersehen, wie wichtig gerade die Clique im Alltag der Schule ist. Vor gut 60 Jahren hat T. Parsons (1959) darauf hingewiesen, dass die Formalisierung sozialer Beziehungen, wie sie im Schulunterricht angestrebt wird, nur deshalb funktionieren kann, weil in der Clique der Gleichaltrigen eine ergänzende Bewegung stattfindet: Die Clique schützt vor Vereinzelung und Isolierung; sie ist eine Möglichkeit, die Eingriffe der Schule einigermaßen „verdaulich“ zu machen; sie kann die Zurücksetzungen auffangen, die durch die konsequente Anwendung des Leistungsprinzips erzwungen werden usw.

Ohne die Clique kann daher auch die Schule nicht funktionieren. Wenn es die Clique nicht gäbe, könnte sich die soziale Dynamik der Schulklasse nicht entfalten und die Eingriffe der Lehrkräfte gingen ins Leere. Sie hätten es mit einer Ansammlung von Einzelindividuen zu tun, die aber als Klassenverband gar nicht existieren würde. Aus psychologischer Sicht ist die Gruppe der Gleichaltrigen eine Existenzbedingung sowohl für die Schule als auch für den Unterricht.

(3) Von diesen psychologischen Bedingungen wollen die Regierenden aber nicht viel wissen. Das liegt nicht nur daran, dass sie nur Augen für das Virus haben, das überall lauern könnte; es liegt auch daran, dass sie in einer Welt leben, in der es keine Begriffe für soziale Zusammenhänge gibt. In Wirtschaft und Politik herrscht ein Denken in Elementen vor. Die Verantwortlichen wissen nichts von den Nöten der biographischen Entwicklung oder von der Dynamik einer Schulklasse. Sie können nur isolierte Stoffe und Körper zusammenzählen.

Die Maxime vom „social distancing“ ist eine Zuspitzung dieses Denkens. Sie geht von der Voraussetzung aus, dass sich das Leben der Menschen als Addition von eindeutig definierten Zuständen erklären lässt. Im Idealfall sind das die Zustände einer digitalen Welt, in der es nur das „An und „Aus“ der Computertechnik gibt. Das „An“ und „Aus“ kennt keine Übergänge, keinen Kontakt und keine Entwicklung. Es kennt letztlich nur die Alternative zwischen Wirkung und Nicht-Wirkung, zwischen Existenz- und Nicht-Existenz.

Die digitale Welt lässt sich auch als ein Versuch bestimmen, den „Schatten“ und das „Geheimnis“ auszulöschen, den die soziale Wirklichkeit nun einmal mit sich bringt. Im Digitalen gibt es keine Abweichungen von der eigenen Identität, die Anlass für Entdeckungen oder neue Formen der Gemeinsamkeit bieten könnten. Begegnungen im digitalen Raum können entweder nur als Bestätigung und Wiederholung der eigenen Existenz oder als Verneinung und Bedrohung dieser Existenz verstanden werden.

In diesem Denken war unsere Kultur eigentlich bereits vor Corona befangen. Es hat dazu geführt, dass die Medizin nur noch Kennziffern, aber keine Menschen behandelt; dass die Epidemiologen und Immunologen von den Virologen überstimmt werden; dass die Psychologie mit Gehirnphysiologie gleichgesetzt wird; dass die Menschen nicht mehr miteinander reden, sondern nur noch danach fragen, ob der andere derselben Meinung ist wie man selbst.

Man könnte auch sagen: Die Menschen haben verlernt, bis zwei zu zählen. Sie haben vergessen, auf Zwischentöne, die Farben und die „Musik“ des Lebens zu achten. Was von ihrem einmal eingeschlagenen Weg abweicht, wird als Gefährdung der eigenen Identität erlebt. Wenn man „negativ“ geladen ist oder genügend „Anti-Körper“ gebildet hat, dann kann das Leben wie gewohnt weitergehen; bei „positivem“ Ergebnis könnte man von etwas Fremden „infiziert“ werden und dann wird man zumindest zeitweise in den Zustand der Nicht-Existenz versetzt.

(4) Die „Ein-Freund-Regelung“ stellt deshalb mehr als nur eine weitere Maßnahme im Kampf gegen das Virus dar. Sie ist auch Ausdruck einer Ideologie, die unveränderliche Identitäten festhalten und als „alternativlos“ kennzeichnen will. Sie isoliert die Kinder und Jugendlichen vom sozialen Leben in der Clique, aber auch von den wechselnden Zuständen, die eine freundschaftliche Zweisamkeit nun einmal mit sich bringt.

Übrig bleibt das auf sich selbst zurückgeworfene Individuum, das nur noch Kontakt mit seinesgleichen aufnehmen soll. Der „eine“ Freund ist natürlich derjenige, der nicht mit dem Virus befallen ist. Er ist der „Buddy“, der keine zusätzlichen Eigenschaften haben darf und nur noch die Wiederholung der eigenen materiellen Existenz darstellt: sozusagen der digitale „Body“, der mit sich selbst identische Schüler-Körper, der nach den Vorstellungen der Regierung demnächst in Serie gehen und die neue Population der digitalen Schule bilden könnte.

Die Kanzlerin hat ihren Vorschlag am Abend des 16.11.2020 in freundlichem Tonfall und ohne jeden drohenden Unterton vorgetragen. In Wirklichkeit handelt es sich aber um einen ungeheuren Vorgang. Es ist ein Angriff auf die soziale Existenz von Kindern und Jugendlichen. Es ist ein Angriff, der sie auf ihre nackte Existenz reduziert.

 

Parsons, Talcott (1959): Die Schulklasse als soziales System. Einige ihrer Funktionen in der amerikanischen Gesellschaft. Harvard Educational Review, Bd. 29, Nr. 4, 297-318.

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