Lockdown

Lockdown: Die Was-auch-immer-Schule

(1) Jetzt also doch. Nach vergeblichen Versuchen, die Ausbreitung des Virus durch zusätzliche Kontakteinschränkungen einzudämmen, hat die Regierung noch einmal einen „harten Lockdown“ verkündet. Eine gute Woche vor Weihnachten müssen Geschäfte, Friseurläden und Kosmetikstudios schließen, Zusammenkünfte an Weihnachten sollen auf den engsten Familienkreis beschränkt bleiben, die Feiern an Silvester fallen aus.

Der Lockdown betrifft auch die Schulen, deren Betrieb kurz vor dem regulären Ferienbeginn erheblich heruntergefahren werden soll. Die Präsenzpflicht wird aufgehoben, Schüler ab der 8. Klasse sollen nur noch über Online-Medien unterrichtet werden, die Ganztagsbetreuung erfolgt im Notbetrieb. Der Beginn der Weihnachtsferien wird um zwei Tage vorgezogen und der Termin für das Ende der Ferien offen gelassen.

Obwohl sich die Regierung unter dem Eindruck der steigenden „Fallzahlen“ zu entschlossenen Handeln gezwungen sah, wollte sie einen abrupten Stopp des Schulbetriebs vermeiden. Den Familien sollte die Möglichkeit gegeben werden, sich auf den Lockdown einzustellen, die Betreuung für die Kinder neu zu organisieren und die Zeit bis zum Ende der Ferien zu überbrücken. Die Politiker wollten die Schule schließen, aber sie wollten sie gleichzeitig auch offen halten.

Ähnlich wie bei den übrigen Beschlüssen ist daher auch für den Bereich der Schule eine halbherzige und widersprüchliche Entschließung herausgekommen. Es gilt weiterhin die Schulpflicht, aber die Präsenzpflicht ist aufgehoben. Die jüngeren Jahrgänge können noch zur Schule kommen, die älteren Schüler sind aber in jedem Fall vom Unterrichtsbesuch befreit. Für alle gilt bis zum Ferienbeginn die Pflicht zum Distanzunterricht, andererseits sollen wichtige Prüfungen und Klausuren aber auch weiterhin in den Räumen der Schule abgenommen werden.

(2) Als die Maßnahmen am Morgen des dritten Adventssonntags verkündet werden, sitzen viele Eltern und Lehrer noch über ihrem Frühstücksei. Die meisten brauchen einige Zeit, bevor sie die Konsequenzen der neuen Regelungen verstanden haben. Sie ziehen das Internet zu Rate, telefonieren mit befreundeten Familien oder Kollegen und schauen auf der Homepage ihrer Schule nach. Die Verwirrung wird umso größer, je mehr sie versuchen, sich Klarheit zu verschaffen.

Die Eltern sind aber auch die ersten, die den Ernst der Lage erfasst haben. Kurz vor Weihnachten stehen alle Familien unter einem enormen Druck. Im Arbeits- und Privatleben müssen noch wichtige Dinge abgeschlossen, Weihnachtsgeschenke besorgt und die Feiertage geplant werden. Am Sonntag kommt zusätzlich das Problem hinzu, wer am nächsten Tag die Kinder betreuen soll. An Online-Meetings teilnehmen, innerhalb von zwei Tagen noch letzte Dinge einkaufen, Geschenke verpacken, Weihnachtsgrüße verschicken und gleichzeitig Kinder betreuen – das kann keine Mutter, das kann kein Vater schaffen.

In vielen Familien entbrennt ein Streit darüber, welcher Elternteil die Betreuung übernehmen sollte. Wer soll arbeiten gehen und wer soll zu Hause bleiben? Wer kann sich wenigstens für die Zeit der Zoom-Konferenz um die kleinen Kinder kümmern? Wer bleibt immerhin so lange zu Hause, bis alle aufgestanden und auf den Weg zur Schule gebracht sind? Es gibt Berichte von verzweifelten Eltern, die um kurz vor Mitternacht bei ihren Lehrern anrufen, weil sie nicht wissen, was am nächsten Tag mit ihren Kindern geschehen soll.

(3) Aber auch die Kinder sind nicht glücklich. Wenn die Schule von einem Tag auf den anderen dichtmacht, dann kann das Jahr nicht ordentlich zu Ende gehen. Es gibt keine Zeit mehr für Weihnachtsfeiern oder für Unterrichtsstunden außerhalb der strengen Ordnung, die in der übrigen Zeit des Jahres eingehalten werden muss. Man kann sich nicht von Lehrern oder Mitschülern verabschieden und keine Wünsche für das Fest und den Jahreswechsel austauschen.

Wenn das alte Jahr nicht zu einem guten Ende gebracht wird, dann weiß man auch nicht, wie es im kommenden Jahr weitergehen soll. Man hängt regelrecht in der Luft: mit Klausuren, die nicht geschrieben oder zurückgegeben wurden; mit Projekten, die zum wiederholten Mal aufgeschoben oder abgesagt wurden; mit Versuchen, seine Leistung in dem einen oder andere Fach noch einmal zu verbessern.

Geradezu dramatische Formen kann das abrupte Ende der Schule für diejenigen Schüler annehmen, bei denen die Leistungen im laufenden Schuljahr so schwach waren, dass ihr Verbleib auf der Schule in Frage steht. Wenn solche Schüler nicht wissen, ob das bereits vereinbarte Beratungsgespräch mit der Lehrerin oder dem Lehrer stattfinden wird, kann sich eine ähnliche Verzweiflung wie bei den Eltern einstellen. Sie wissen nicht mehr, wie sie den nächsten Tag noch schaffen sollen.

(4) In den Schulen herrscht bereits am Morgen nach dem Regierungsbeschluss blankes Entsetzen. Wie schon bei früheren Beschlüssen der Regierenden erfahren Schulleiter und Lehrkräfte erst aus den Medien vom Inhalt der Entscheidungen. Die Rechtsgrundlagen dieser Entscheidungen werden zudem erst mehre Tage später durch Parlamentsbeschluss geschaffen. Bis dahin sind die Schulen dazu aufgefordert, in einem rechtsfreien Raum zu handeln.

Abgesehen von dieser auch in verwaltungsrechtlicher Hinsicht heiklen Frage werfen die Entscheidungen eine Reihe praktischer Probleme auf. Die Beschlüsse sind so allgemein gefasst, dass die Verantwortlichen vor Ort nur ahnen können, was die Politik eigentlich will: Wie soll beispielsweise in den unteren Jahrgängen ein flächendeckender Präsenzunterricht garantiert werden, wenn den Eltern gleichzeitig freigestellt wird, ihre Kinder über Online-Portale unterrichten zu lassen? Sollen ab sofort in jeder Unterrichtsstunde verschiedene Lehrkräfte für die verschiedenen Formen von Präsenz-, Distanz- oder Hybridunterricht abgestellt werden?

Ähnlich wie bei den Eltern und den Schülern lässt sich auch bei den Lehrkräften und den Schulleitern zum Jahresende eine zunehmende Verzweiflung beobachten. Wozu hat man in den vergangenen Monaten so viel Aufwand betrieben, wenn am Ende doch alles umsonst sein soll? Wozu die vielen Richtungspfeile, Markierungen und Abstandshalter, die hastig umgeschriebenen Stunden- und Lehrpläne, die endlosen Auseinandersetzung um den Sinn von Maskenpflicht und Abstandsregeln, wenn den Schulen am Ende des Jahres signalisiert wird, dass das alles doch keinen Sinn gehabt haben soll?

(5) „Was auch immer“ hat die Kanzlerin verkündet, als sie im Bundestag auf die Maßnahmen zu sprechen kam, die sie von den Schulen zur Bekämpfung des Virus erwartet (Plenarprotokoll vom 09.12.2020). Sie meinte damit, dass die Schulen sich mit allen verfügbaren Mitteln an der Bewältigung der von ihr verkündeten Notlage zu beteiligen hätten. Sie gibt damit aber auch gleichzeitig zu erkennen, dass sie nicht genau weiß, wie diese Mittel eigentlich aussehen sollen. Sie ruft zu einer nationalen Kraftanstrengung auf und lässt gleichzeitig offen, worauf sich diese Anstrengung eigentlich richten soll.

Mit keinem Wort werden darüber hinaus die Schwierigkeiten erwähnt, die den Beteiligten durch die Beschlüsse abverlangt werden. Keine Äußerungen zu den Fragen der Kinderbetreuung, zu den Verunsicherungen von Schülerinnen und Schülern, zu verwaltungsrechtlichen oder schulpraktischen Problemen. Mit Details hält sich die Kanzlerin nicht auf, das ist ausdrücklich nicht ihr „Kompetenzbereich“. Sie redet sich damit heraus, dass in Schulfragen die Landesregierungen verantwortlich sind.

Man kann aber auch den Standpunkt vertreten, dass es sich bei dem Wort der Kanzlerin um eine „Bankrotterklärung“ handelt (Rosenfelder 2020). Mehr als zwanzig Millionen Schülereltern, elf Millionen Schülerinnen und Schüler, knapp eine Million Lehrkräfte: Wenn das Schicksal dieser Menschen mit einem „Was auch immer“ reguliert werden soll, dann spricht daraus eine ungeheure Indifferenz gegenüber den Anstrengungen des Familienlebens, eine Abstumpfung gegenüber den berechtigten Entwicklungshoffnungen der Kinder, aber auch ein fehlendes Bewusstsein darüber, wie sehr die Schule eine Institution der gesamten Gesellschaft ist.

Auch wenn im Hintergrund der verkündeten Maßnahmen die Rede von einem todbringenden Virus allgegenwärtig ist: Keine Kultur kann es sich auf Dauer leisten, die Institutionen abzubauen, die das gemeinsame Leben in einer Kultur zusammenhalten. Zu diesen Institutionen gehören klare Unterscheidungen zwischen der Woche und dem Wochenende ebenso hinzu wie Formen des Ankommens und Abschied-Nehmens oder der Übergang zwischen dem altem und dem neuen Jahr. Dazu gehören aber auch der Respekt vor dem beruflichen Amt und die Anerkennung des Rechts auf zureichende Information hinzu. Schließlich kann man von denjenigen, die politische Entscheidungen treffen, auch erwarten, dass sie Verantwortung übernehmen und dafür mit ihrer Person geradestehen.

All das ist uns im vergangenen Jahr fast unbemerkt abhanden gekommen. Aus Angst vor dem Tod haben wir zugelassen, dass sich das Virus in die Fundamente unserer Kultur einnistet und diese von innen heraus aushöhlt. Am Ende des abgelaufenen Jahres müssen wir erschrocken feststellen, dass wir zwar alle Anstrengungen unternommen haben, die Gesundheit des Einzelnen zu schützen, dafür aber dabei sind, das gemeinsame Leben in einer menschlichen Kultur zu opfern.

 

Merkel, Angela (2020): Rede vor dem Deutschen Bundestag am 9.12.2020. In: Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 1/198. Verfügbar unter: https://dserver.bundestag.de/btp/19/19198.pdf

Rosenfelder, Andreas (2020): Merkels „Was auch immer“ ist eine Bankrotterklärung. In: Die Welt. Onlineausgabe vom 14.12.2020, verfügbar unter:  https://www.welt.de/debatte/kommentare/plus222440114/Corona-und-Schulen-Merkels-Was-auch-immer-ist-eine-Bankrotterklaerung.html