Die letzte Generation

Die letzte Generation geht ins Museum – Über verkappte Amokläufe

Von Michael Ley & Carl Vierboom

(1) Die Klima-Aktivisten, die sich selbst als „die letzte Generation“ bezeichnen, gehen jetzt auch ins Museum. Nachdem sie in der Vergangenheit Straßen und Autobahnen blockiert haben, kleben sie sich seit einiger Zeit an die Werke alter Meister und verschaffen sich selbst und der Bewegung publikumswirksame Auftritte.

Bisher hat sich noch niemand darüber gefreut, dass junge Leute endlich freiwillig ins Museum gehen, wohin ihre Eltern sie stets vergeblich oder nur mit viel Überredungskunst zerren mussten. Es freut sich auch niemand darüber, dass sie vergleichsweise viel Zeit vor einzelnen, ausgewählten Kunstwerken verbringen, bei denen die meisten Besucher allenfalls ein paar Minuten verweilen, ehe sie zum nächsten Bild weitergehen.

Statt dessen überwiegt in den Medien deutliche Kritik an solchen Aktionen. Man hat zwar Verständnis für die Ziele der Aktivisten, zeigt sich andererseits aber auch genervt von den Kosten und Mühen, die mit der Ablösung der angeklebten Hände verbunden sind. Viele befürchten darüber hinaus, dass die edlen Kunstwerke oder die Bilderrahmen Schaden nehmen könnten. Ein Journalist findet es ausgesprochen unpassend, dass sich die Aktivisten ausgerechnet an einen Raffael ankleben, auf dem dieser die Gottesmutter „verherrlicht“ hätte.

(2) Große Kunst mit den Händen zu berühren ist tatsächlich ein Sakrileg. Wenn die Kinder heutzutage im Museum eine Sache lernen, dann diese: Nicht anfassen! Gewöhnliche Menschen dürfen sich den Werken der alten Meister nur unter Bezeugung der notwendigen Ehrerbietung nähern. Das Mitführen von Taschen, Rücksäcken, Schirmen ist ebenso verboten wie das Überschreiten des vorgeschriebenen Mindestabstands. Museumswächter und Alarmanlagen sorgen dafür, dass den wertvollen Kunstwerken kein Leid angetan wird.

Manche Leute meinen, dass die Kunstwerke erst durch solche Vorsichtsmaßnahmen den Charakter des Besonderen erlangen. Sie werden also nicht schon durch die Gegenstände wertvoll, die auf den Bildern zu sehen sind, sondern durch die Art und Weise, wie die Bilder präsentiert werden. Erst das Museum macht die Kunst zu großer Kunst. Das Museum ist so etwas wie ein Tempel zur Heiligung und Verehrung von Kunstwerken.

Ein Besuch im Pariser Louvre kann einen leicht davon überzeugen, dass an dieser Überlegung etwas dran sein könnte. Die vielen Menschen, die sich in spiralförmigen Kreisen auf die Mona Lisa zubewegen, erinnern an die Wallfahrer, die sich in Mekka um die Kaaba drängen – allerdings mit dem Unterschied, dass man die Mona Lisa nicht einmal an der kleinsten Ecke berühren darf. Zum Ausgleich posieren die Leute mit dem Handy und schicken Selfies im Life-Stream auf Instagram.

(3) Die moderne Kunst hat versucht, den sakralen Charakter der Museumskunst zu stören. Happenings, Installationen, Videokunst haben den Abstand zwischen Künstlern, Kunstwerken und Besuchern vermindert und die Herstellungsprozesse der Kunst nach vorn gerückt. Nur indem man in das Kunstwerk eindringt, kann man es verstehen. Wenn man durch den Louvre wandert, bleibt man in den meisten Fällen vor der Kunst. Man sieht den Tempel, aber nicht die Bilder.

Auf den ersten Blick erinnern auch die Aktionen der „letzten Generation“ an ein Happening. Die jungen Menschen, die sich, meistens paarweise, an die Werke berühmter Meister anheften, setzen sich über die Abstandsgebote hinweg, die die Museumskunst vor näherer Berührung schützten. Die Aktivisten machen sich sozusagen mit der großen Kunst gemein. Sie tun so, als wären sie mit den alten Meistern per Du, als gehörten sie selbst zur Malerwerkstatt, als wären sie an der Herstellung der Bilder beteiligt.

Es fällt allerdings auf, dass es in der Regel um Bilder geht, die nicht nur zu den teuersten Ikonen der Kunstgeschichte gehören, sondern die auch immer ein heiliges oder sakrales Sujet thematisieren. Häufig geht es um die Madonna, gelegentlich um ihr mythologisches Pendant wie in der Gestalt der „Primavera“, fast immer um Szenerien, die wie bei Raffael das banale Erdenleben in eine himmlische, überirdische Wirklichkeit transformieren.

Irgendwie hat man den Eindruck, die Aktivisten wollten selbst etwas von dieser himmlischen Wirklichkeit in sich aufnehmen. Das Berühren der Bilder oder des Rahmens wirkt so, als sollte die Kraft des Heiligen auf die Aktivisten überfließen. So etwas kennt man sonst nur aus den Formen religiösen Wunderglaubens. Man berührt den Rocksaum eines außergewöhnlichen Menschen oder dessen Nachbildung und hofft darauf, etwas von der Heiligkeit des Objektes in sich aufzunehmen.

(3) Aber es kommt noch etwas anderes hinzu. Das Ankleben der Hände führt zu merkwürdigen Verrenkungen und verdrehten Körperhaltungen. Die Aktivisten sind zwar mit den außergewöhnlichen Bildern verbunden, aber das macht sie selbst noch nicht zu außergewöhnlichen Menschen. Es verurteilt sie vielmehr zum Stillstand und zur Bewegungslosigkeit.

Die Aktivisten kommen auch nicht im triumphalen Aufzug, in Massen oder als vielköpfiger Demonstrationszug daher. Selbst als Paar wirken sie vereinzelt, schwach und hilflos. Mit schlecht sitzenden Kleidern, verdrehten Körpern und nach hinten gestreckten Armen wirken sie wie Märtyrer, die an den Pfahl gebunden wurden.

Die Aktivisten der „letzten Generation“ berufen sich auf ein höheres, gleichsam göttliches Prinzip, sie machen sich selbst aber schwach, klein und hilflos. Ihr Protest kommt sozusagen im Gewande der Unschuld, der Ohnmacht und der Verletzlichkeit daher. Sie protestieren, verzichten aber darauf, ihrem Protest ein eigenes Gesicht zu geben. Sie wollen nicht als Urheber von Protesten, sondern als passive Dulder und Erleider in Erscheinung treten.

(4) Aktiv werden demgegenüber die Institutionen, die den jungen Menschen zu Hilfe eilen und sie vom Asphalt oder von den wertvollen Kunstwerken ablösen. Die Institutionen werden sozusagen als Retter bemüht, denn die Aktionen funktionieren nur, wenn sich jemand darauf einlässt, dem Spiel der Aktivisten ein Ende zu bereiten. Würde man sie einfach über Nacht „hängen“ lassen, wäre der Spuk wahrscheinlich schnell vorbei. Niemand will in verschwitzter Kleidung, mit durchnässter Hose oder ausgerenktem Arm auf Instagram abgebildet werden.

Man kann probeweise die Hypothese aufstellen, dass der Prozess der Ablösung der eigentliche Sinn der Aktionen darstellt. Die Ablösung hat mehrere Facetten. Es steckt einerseits darin die Normalisierung einer angemaßten Heiligkeit, bei der der Anspruch auf Außergewöhnliches wieder auf das Maß des Alltäglichen zurückgeschraubt werden soll. Ablösung meint hier im Wortsinne: Trennung von den himmlischen Bildern, denen sich die Aktivisten verschrieben haben.

Das ist andererseits aber auch eine Fortsetzung der Anmaßung, die in den Klimaprotesten steckt, denn der Aufwand, den die Ablösung mit sich bringt, ist enorm: Aufwand an Personal, Sachmitteln, Zeit und Geld. Erst die Ablösung hat aber auch eine wirkliche Unterbrechung gesellschaftlicher Geschäftigkeit zur Folge. Es müssen Autobahnen gesperrt oder Museen geräumt werden, Verkehrsströme umgeleitet, Sicherheitskräfte angefordert und Aufräumarbeiten durchgeführt werden.

Das bloße Ankleben vor Kunstwerken erzielt diesen Effekt noch nicht. Erst durch das Eingreifen der Institutionen weiten sich die Aktionen zu einer nachhaltigen Unterbrechung des Publikumsverkehrs und zu einem weitreichenden Stillstand des gesellschaftlichen Alltagsbetriebs aus. Das Verhalten der offiziellen Stellen ähnelt den Einsätzen, wie man sie von schweren Unfällen, von Selbstmord- oder Terroranschlägen kennt.

(5) Es ist insgesamt eine brisante Mischung, die in den Aktionen der letzten Generation zusammenkommt. Auf der einen Seite finden sich Allmachtswünsche und Größenphantasien, die sich um den Anspruch auf „Heiligung“ durch überirdische Mächte äußern. Die jungen Leute behaupten zwar, sie wären die letzte Generation, in Wirklichkeit haben sie aber die Idee, die ersten zu sein, die die Menschheit retten werden. Wie der Minister Habeck glauben sie allen Ernstes daran, sie könnten „das Antlitz der Erde verändern“.

Das wollen sie aber nicht tun, indem sie sich für etwas Bestimmtes einsetzen oder etwas riskieren, sondern indem sie sich als kleine, abhängige Wesen inszenieren, die auf der Erde sitzen, deren Gliedmaßen gefesselt sind und die im Grunde nichts tun. Sie wollen die Erde sozusagen durch Nichts-Tun, durch Entsagung und Verzicht erlösen. Kleben-Bleiben wird als einziges Mittel der Veränderung angepriesen.

Damit das funktioniert, appellieren die Aktivisten zugleich an das Entgegenkommen gesellschaftlicher Institutionen, denen die Aufgabe der Ablösung übertragen wird. Darin steckt einerseits eine Relativierung der maßlosen Ansprüche, andererseits aber deren Fortsetzung, bei der die Institutionen zu unfreiwilligen Verbündeten der Aktivisten gemacht werden. Erst die Institutionen verwirklichen den Protest, für den die Aktivisten keinen Finger rühren.

(6) Man kann das alles schnell abtun mit dem Hinweis auf die Befindlichkeiten einer Generation, die so behütet aufgewachsen ist, dass sie nicht einmal zu anständigen Formen des Protests in der Lage ist. Man kann darin aber auch eine Spiegelung der moralischen Verwahrlosung sehen, die von der Erwachsenen-Generation gepflegt und an die Heranwachsenden weitergegeben wird: eine Wiederholung der Hyper-Moral, die von sich selbst behauptet, dass sie „alternativlos“ wäre; eine Fortsetzung der Verzichtsappelle, in denen Wasser gepredigt wird, während heimlich Schampus getrunken und Gewinn-Exzesse gefeiert werden; eine Anwendung der Orwellschen Neusprache, die Egoismus als Solidarität und Krieg als Frieden ausgibt.

Die jungen Menschen, die heute aufwachsen, sind eine Generation, die mit ungeheuren Verdrehungen und Verrenkungen gesellschaftlicher Maßstäbe groß geworden ist und die man zugleich daran gehindert hat, diese Verdrehungen zu durchschauen. Man hat ihnen ein weichgespültes Weltbild ohne Widersprüche, ohne Konflikte, ohne Haken und Ösen vorgegaukelt und so getan, als könnten sie in der besten aller Welten leben, ohne viel dafür tun zu müssen.

Die Aktivisten der „letzten Generation“ spielen diese Verhältnisse nach. Sie agieren die Bilder aus, die ihnen ihre Eltern vorgezeichnet haben: die simple Moral, die pathetisch aufgeblasen wird und nur die eigene Dummheit und Hohlheit verbirgt; die Erfahrung, dass man nicht weiterkommt und kleben bleibt, wenn man solche Bilder zum Maßstab des eigenen Handelns macht; das Angewiesen-Sein auf rettende Institutionen, die einen aus der Entwicklungs-Klemme befreien, in der man steckengeblieben ist.

Die Aktionen der „letzten Generation“ sind keine Aktions-Kunst wie die Happenings der 68er-Generation. Es sind eher Verzweiflungstaten einer Generation, die man mit maßlosen Ansprüchen allein gelassen und überfordert hat. Sie spiegeln die Wut auf die gesellschaftlichen Verhältnisse und zugleich die Ohnmacht, daran etwas zu verändern. In struktureller Hinsicht sind es eher verkappte Selbstmordanschläge oder Amokläufe als kunstvoll inszenierte Protestformen.

Im Augenblick scheint die Gesellschaft zu glauben, sie könnte auch noch den Abgrund, der sich im Verhältnis der Generationen auftut, mit Verständnis und selbstgefälliger Zerknirschung überbrücken. Es steht allerdings zu erwarten, dass sich aus den Protesten der sicherlich nicht „letzten“ Generation noch ganz andere Formen des Umbruchs und der Empörung entwickeln werden.

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