Die Erde als Scheibe

Die Erde als Scheibe – Über 2 G an Universitäten

Von Michel Ley & Carl Vierboom

(1) Klagenfurt gehört zu den vielen Städten in Europa, die ohne eine eigene Hochschule nicht mehr auskommen wollen. Die dortige Universität ist in den 1990er Jahren aus einer Lehrerbildungsanstalt hervorgegangen und nennt sich im Untertitel „Alpen-Adria-Universität“. Das klingt nach Skifahren im Winter und nach Badeurlaub im Sommer. Die Stadt am Wörthersee scheint sich viel Mühe zu geben, die studierende Jugend nach Österreich zu locken.

Mit wissenschaftlichen Glanzleistungen ist die Universität bisher noch nicht in Erscheinung getreten. Sie hat Kultur- und Wirtschaftswissenschaft, einen Technikstudiengang und interdisziplinäre Forschung und Fortbildung im Angebot. Das ist nicht sehr spezifisch, sondern entspricht eher dem Geschmack der Zeit, die sich nicht richtig festlegen will. Von allem ein bisschen, dann stehen einem auch nach dem Studium noch alle Möglichkeiten offen.

Zumindest in punkto Corona soll es ab sofort aber mit der Wahlfreiheit vorbei sein. Auf ihrer Homepage gibt die Universität bekannt, dass ab dem 10. November zu allen Gebäuden der Universität nur noch Geimpfte und Genesene Zutritt haben. Ungeimpften ist die Teilnahme an Lehrveranstaltungen verboten. Bei Zuwiderhandlung müssen sie damit rechnen, aus dem Gebäude entfernt oder für das laufende Semester sogar exmatrikuliert zu werden.

(2) Bemerkenswert sind die Begründungen der Maßnahme, die der Rektor der Universität bekannt gibt. In einem Interview mit der Wiener Tageszeitung „Der Standard“ führt er an, dass das Studium an einer Hochschule auch sonst schon an bestimmte Zulassungsbedingungen geknüpft ist, beispielsweise an die Matura. Von daher hätte das Versprechen der bürgerlichen Gesellschaft, „Bildung für alle“ bereitzuhalten, auch vor Corona schon nicht gegolten. In diesem Versprechen sieht er eher einen „Kampfbegriff“ als ein verfassungsmäßig garantiertes Grundrecht.

Die 2G-Regel stellt für den Rektor darüber hinaus ein Bekenntnis zu Vernunft und Wissenschaftlichkeit dar. Er ist der Ansicht, dass die Impfung das beste Instrument zur Bekämpfung des Virus ist, die die Wissenschaft zum gegenwärtigen Zeitpunkt zur Verfügung stellen kann. Wer sich der Nutzung dieses Instrumentes verweigere, der gebe damit auch zu erkennen, dass er den Erkenntnissen der Wissenschaft nicht traue. Solche Subjekte müssten sich demnach fragen, ob der Besuch einer Universität „das Richtige“ für sie sei.

Und wo sich der Rektor schon einmal in Fahrt geredet hat, macht er auch noch eine weitreichende Aussage zur gesellschaftlichen Funktion der Hochschulen. Die Universität hätte auch einen „meinungsbildenden Auftrag“, behauptet er in dem Interview. Darunter versteht er den Anspruch, „auf der Höhe der Wissenschaft zu sein und nicht einzelnen Internetmeinungen zu folgen“. In Zweifelsfällen müsse immer die Wissenschaft den Ausschlag geben. Dafür müsste der einzelne auch bereit sein, seine Privatmeinungen fallenzulassen.

(3) Es ist schon erstaunlich, wie ein offizieller Hochschulvertreter in wenigen Sätzen die Fundamente einreißt, auf denen das Selbstverständnis und die Identität der wissenschaftlichen Hochschulen gründet. Das Recht auf Bildung ist nun einmal keine Privatveranstaltung, sondern es gehört zu den Gründungsideen des aufgeklärten, liberalen Staates, der dieses Recht nicht einzelnen privilegierten Teilgesellschaften überlassen wollte. In der Tat war die Idee der Allgemeinbildung ein Kampfbegriff, aber er richtete sich gegen den Machtanspruch der Feudalherren oder der Kirche und nicht gegen das eigene Volk. Bei der Argumentation des Rektors kann man den Eindruck gewinnen, er würde sich nach den alten, vormodernen Zeiten zurücksehnen.

Natürlich kann man mit gutem Recht auch im Hochschulwesen über Zulassungsbeschränkungen und Auswahlverfahren nachdenken. Es macht aber einen großen Unterschied, ob man solche Beschränkungen mit formalen Qualifikationen wie der Matura oder mit einem medizinischen Eingriff wie der Impfung verknüpft. Der Fortschritt des modernen Bildungswesens besteht ja gerade darin, das Prüfungs- und Berechtigungswesen allein auf den Nachweis fachlicher Qualifikationen zu beziehen. Wenn jetzt auf einmal eine Impfung als Nachweis einer wissenschaftlichen Haltung herangezogen werden soll, dann könnte man mit demselben Recht in Zukunft auch die Schuhgröße, die Blutgruppe oder andere körperliche Merkmale als Qualifikationsnachweise beanspruchen.

Völlig hanebüchen wird die Argumentation des Rektors jedoch an der Stelle, an der er behauptet, die Hochschule hätte einen meinungsbildenden Auftrag. Seit wann geht es an einer Universität denn um Meinungen? Die Wissenschaft versteht sich doch eigentlich als Versuch, die Ebene der bloßen Meinungen zu verlassen und mit gesicherten Erkenntnissen zu operieren. Meinungsbildung ist Aufgabe der Zeitungen oder der politischen Propaganda. Hat der Rektor vielleicht vor, die Ausbildung zum wissenschaftlichen Denken durch Ideologiebildung zu ersetzen? Das wäre nicht mehr Hochschulbildung, sondern Gehirnwäsche.

(4) Der Rektor der Universität in Klagenfurt ist wahrscheinlich kein Dummkopf. Er war lange Jahre Vorsitzender der Österreichischen Universitätenkonferenz, ist bis heute beteiligt an der Einrichtung des europäischen Hochschulraums und hat sich am Max-Planck-Institut in Berlin Meriten im Bereich der Bildungsforschung verdient. Man kann ihm unterstellen, dass er sehr genau weiß, wovon er spricht.

Er scheint jedoch zur Kaste der Planer und Technokraten zu gehören, die das Bildungswesen seit Jahren und Jahrzehnten in ihrem Sinne umzubauen versucht. Für diese Kaste hat Bildung nicht so sehr mit der Einsicht in wissenschaftliche Zusammenhänge zu tun, sondern vor allem damit, Daten und Informationen zu sammeln, zu verknüpfen und zu verschalten. Das Ideal der Wissenschaftsfunktionäre ist die Riesen-Platine, auf der alle Einzelvorgänge zusammenlaufen und die nach den Vorstellungen ihrer Planer programmiert werden kann.

Der europäische Hochschulraum mit der Verrechnung von „workloads“, „credits“ und Leistungspunkten kommt dem Ideal einer solchen Riesen-Bildungs-Platine schon sehr nahe. Leider gibt es aber immer noch ein paar Studenten aus Fleisch und Blut, die mit ganz anderen Vorstellungen an die Hochschulen kommen und die den Funktionären ein Dorn im Auge sind. Seitdem die Bologna-Hochschulen eingerichtet sind, arbeitet die Kaste der Bildungsplaner daran, diesen menschlichen Faktor so umzupolen, dass er möglichst reibungslos mit dem idealen Modell der Bildungs-Platine verschaltet werden kann.

(5) Wie das in der Praxis geschieht, haben wir in einer Untersuchung über die Situation der Studierenden beschrieben. Im Modell der Bologna-Hochschule werden die Studierenden in einen eng getakteten Arbeitstag gespannt, der nur wenig Spielraum für überraschende Erfahrungen oder Entdeckungen lässt. Statt dessen werden die jungen Menschen durch eine Vielzahl bürokratischer Vorgaben gegängelt, in einen Dauer-Prüfungs-Modus versetzt und daran gehindert, Fragen zu stellen, die über das vorgeschriebene Pensum hinausgehen.

Nur am Abend, an den Wochenenden und in ein paar Auslandssemestern gesteht man ihnen in speziell gekennzeichneten studentischen „Hotspots“ einige Freiräume zu. In der Regel werden diese für exzessive Partys und Saufgelage genutzt und enden in kollektiven Rauschzuständen oder individueller Bewusstlosigkeit. Wissenschaftliche Erkenntnisse werden dabei nur sehr selten generiert.

Das Programm der Bologna-Hochschule läuft nicht nur darauf hinaus, überraschende und unvorhergesehene Erfahrungen zu verhindern. Es hat auch den Sinn, das innovative oder revoltierende Potential der nachfolgenden Generation stillzulegen. Die jungen Menschen werden auf eine Jugendinsel verbannt, wo ihnen der Einblick in die wirklichen Verhältnisse der Gesellschaft und damit auch der Ausweg in die Erwachsenengesellschaft versperrt wird. Ähnlich wie bei der „Truman-Show“ werden sie zu Mitspielern einer Inszenierung, die von den Erwachsenen in allen Einzelheiten geplant und immer wieder nach demselben Muster in Gang gesetzt wird. Weil die Erwachsenen wollen, dass alles so bleibt, wie es ist, werden die Jungen ruhiggestellt und mit leeren Versprechungen auf eine Zukunft abgespeist, die aber nie eintreten soll.

(6) Mit seinen Äußerungen zum Bild von Wissenschaft und Hochschule verschafft uns der Rektor der Universität Klagenfurt für einen kurzen Moment Einblick in das Denken der Regisseure, die für die Inszenierung der Bologna-Hochschulen verantwortlich sind. Er macht darauf aufmerksam, dass das Bild einer freien und autonomen Wissenschaft, das einmal am Anfang der aufgeklärten Moderne gestanden hatte, heute kaum noch Fürsprecher an diesen Hochschulen hat.

Statt dessen existiert an den Hochschulen nur noch eine Minimalversion von Wissenschaft. Unter dem Leitbild eines technizistischen Weltbildes wird alles beiseite geräumt, was nicht in das eigene Muster passt: der Alltag in der Gesellschaft, das individuelle Herkommen der Studierenden, der wissenschaftliche Streit und der methodische Zweifel. Das ist nicht Wissenschaft als Grundlage für Einsicht und Verstehen, das ist Wissenschaft als Wegmachen und Bereinigen von Wirklichkeit.

Wir müssen davon ausgehen, dass Corona eine Möglichkeit darstellt, dieses reduzierte Bild von Wissenschaft weiter zu befestigen. Zugleich können wir aber auch sehen, wie daraus Säuberungsaktionen erwachsen, die sich immer mehr auch gegen die Menschen richten, für die die Hochschulen einmal erfunden wurden: nämlich gegen die Studierenden, die offenbar in immer größerem Umfang an einem kontinuierlichen Besuch von Hochschulen und Universitäten gehindert werden sollen.

Eine Gesellschaft, die die Deutungshoheit über die Fragen von Wissenschaft und Hochschulen einer kleinen Clique von Funktionären und Technokraten überlässt, die zulässt, dass der wissenschaftliche Nachwuchs ausschließlich in einem vorher festgelegten Bild von Wissenschaft erzogen wird und die schließlich denjenigen den Zutritt zu den Hochschulen verweigert, die diesem Bild nicht entsprechen, beteiligt sich nicht nur an der allgemeinen Zerstörung des Bildungswesens. Sie zerstört darüber hinaus auch die Zukunft der nachfolgenden Generation und damit die Zukunft der Gesellschaft. Eine solche Gesellschaft ist dabei, Selbstmord zu begehen

 

Ley, Michael; Vierboom Carl (2020): Die verlassene Generation. Studierende ohne Wissenschaft und Religion. Münster: Aschendorff.

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