(1) Nachdem die Mainstream-Presse nach dem jüngsten Anschlagsversuch auf D. Trump relativ zurückhaltend berichtet hatte, ist in den sozialen Medien inzwischen eine Flut von Einzelheiten über den verhinderten Attentäter aufgetaucht. Während man über den Schützen in Butler bis heute relativ wenig weiß und auch die näheren Umstände des Anschlags weiterhin im Dunkeln liegen, scheint es bei dem Täter in Florida kaum noch Geheimnisse zu geben. Innerhalb weniger Stunden sind seine Einträge bei Twitter/ X, Facebook usw. veröffentlicht worden und der Mann ist sozusagen zu einer öffentlichen Person geworden.
Unverkennbar ist zugleich eine gewisse Sympathie, mit der die Details zu seinem Lebenslauf und sein Engagement in der Ukraine behandelt werden. Es ist zwar zu spüren, dass mit dem Mann irgendetwas nicht stimmt, es fehlt aber die Abscheu und das Entsetzen, das man bei anderen Tätern beobachten kann. Schon die Bilder seiner Festnahme wirken, verglichen etwa mit der Fesselung des Täters in Solingen, geradezu freundschaftlich. Man könnte auf den Gedanken kommen, dass sich die amerikanische und vielleicht auch die westliche Gesellschaft in dem Bild des Mannes wiederfinden.
(2) Der Mann hat den klingenden Namen Ryan Routh und ist nicht mehr ganz so jung, mit 58 Jahren bereits fast im Rentenalter. Er stammt aus North Carolina, wo er als Dachdecker gearbeitet hat. Vor einiger Zeit ist er nach Florida gezogen, das als Rentnerparadies bekannt ist, wo aber auch Trump eine Villa besitzt und wo der Golfclub liegt, in dessen Nähe der Anschlagversuch stattgefunden hat. Bei der Wahl 2016 soll Routh Trump gewählt haben, was er inzwischen als größten Fehler seines Lebens bezeichnet. Routh ist verheiratet bzw. geschieden und hat einen erwachsenen Sohn. Er ist u.a. wegen Diebstahl, unerlaubtem Waffenbesitz und Widerstand gegen die Staatsgewalt vorbestraft.
Mit Beginn des Krieges in der Ukraine muss sein Leben eine dramatische Wendung genommen haben. Der Mann soll zunächst versucht haben, Mitglied der Fremdenlegion zu werden und an Kampfeinsätzen gegen Russland teilzunehmen. Weil er über keinerlei Kampferfahrung verfügte, wurde er abgelehnt und hat im Anschluss versucht, auf eigene Faust eine Kampftruppe zusammenzustellen. Angeblich soll er dazu auch Kontakte mit ukrainischen Regierungsbehörden aufgenommen haben, von denen er aber ebenfalls zurückgewiesen wurde.
Seit April 2022 soll er sich für mehrere Monate in der Ukraine aufgehalten haben. Auf Fotos ist zu sehen, wie er sich die Haare und das Gesicht in den Farben der ukrainischen Flagge gefärbt und seine Kleidung aus Teilen der amerikanischen und ukrainischen Flagge zusammengeflickt hat. Auf solchen Fotos sieht er aus wie ein Straßenkünstler oder ein dummer August, also wie das genaue Gegenteil eines entschlossenen Kriegers. Auch die Fotos, auf denen er, unter anderem in Gesellschaft der berüchtigten Asov-Kämpfer, schusssichere Westen und sonstige Kriegsbemalung trägt, überzeugen nicht recht. Roth scheint so etwas wie ein verhinderter Soldat und Attentäter, aber auch im normalen Leben ein verhinderter Mensch zu sein.
Menschen, die ihn in der Ukraine kennengelernt haben und von Journalisten befragt wurden, beschreiben Roth als unverbesserlichen Chaoten. Er soll weiterhin versucht haben, Soldaten für seine fiktive Fremdenlegion zu rekrutieren, u.a auch aus Afghanistan, dabei aber mehr Unruhe als irgendetwas Gutes erreicht haben. Anfang 2023 hat er im Selbstverlag ein Buch herausgegeben, in dem er auf immerhin mehr als 200 Seiten seine Erfahrungen mit dem Projekt Ukraine beschreibt, sich gleichzeitig auch bitter über mangelnde Anerkennung und Respekt seitens der ukrainischen Regierung beklagt haben. Der Originaltitel seines Buches lautet: Ukraine’s Unwinnable War: The Fatal Flaw of Democracy, World Abandonment and the Global Citizen-Taiwan, Afghanistan, North Korea and the end of Humanity.
(3) In Frankreich ist in den 2010er Jahren eine relativ erfolgreiche Serie über die Arbeit eines Analytikers entstanden, die auch in Deutschland (Arte) zu sehen war. Ein (fiktiver) Patient des Therapeuten sucht dessen Hilfe nach den Anschlägen auf das Bataclan, wo er er als Mitglied einer Spezialeinheit die Schüsse auf die Besucher der Diskothek erleben musste, ohne eingreifen zu können. In der Therapie wird herausgearbeitet, dass das Erlebnis die Wiederholung eines früheren Ereignisses darstellt, bei dem der Patient als kleiner Junge den mörderischen Überfall auf seine Familie in allen Einzelheiten ansehen musste, sich gleichzeitig aber nicht regen durfte, weil er sich sonst verraten hätte und wahrscheinlich ebenfalls umgebracht worden wäre.
Natürlich geht die Therapie nicht einlinig auf die Erinnerung dieser traumatischen Szene zu. Statt dessen wird beschrieben, wie sich das Erlebnis absoluter Ohnmacht, die unterdrückte Auflehnung gegen diese Situation und das Gefühl, schuldhaft an dem Ausgang des Überfalls beteiligt zu sein, im Verhalten des Patienten wiederholen. Bereits im Erstgespräch legt der Polizist zunächst seine Dienstwaffe auf den Tisch des Therapeuten, bevor er ihm eingestehen kann, dass er seit Tagen unter Schlaflosigkeit leidet. Später macht er sich an eine Patientin heran, die er im Wartezimmer trifft und gefährdet damit die eigene Ehe, aber auch den Therapeuten, dessen Eifersucht er weckt und der sich veranlasst sieht, mit ihm um die Patientin zu rivalisieren. Das bedeutet schließlich auch das Ende der Ehe des Therapeuten.
Nachdem in der Therapie die Szene aus der Kindheit des Patienten rekonstruiert werden konnte, führt das keineswegs zu einer Wende zum Besseren, sondern die Erkenntnis scheint vielmehr dazu beizutragen, dass der Polizist vollständig den Halt verliert. Er entscheidet sich, den Dienst zu quittieren und sich statt dessen den französischen Truppen anzuschließen, die in Syrien die Anhänger de IS bekämpfen. Offenbar will er die Szene, in der er ohnmächtig der Ermordung seiner Angehörigen zusehen musste, rückgängig machen und dabei auch die unterstellten Schuld-Vorwürfe seines Vaters beschwichtigen. Beim ersten Einsatz in Syrien verlässt er vorzeitig und unüberlegt die Deckung und wird von den Soldaten des IS erschossen.
In verschiedener Hinsicht befindet sich der Psychologe danach in einer ähnlicher Lage wie der kleine Junge während des mörderischen Überfalls. Er sieht alles, kann aber nichts tun. Nach dem Tod seines Patienten wird er von dem Vater des Patienten verklagt, weil er nach Ansicht des Vaters den Tod des Sohnes schuldhaft verursacht haben soll. Am Ende ist nicht nur sein privates Leben, sondern auch seine berufliche Zukunft in Frage gestellt.
(4) Die Fälle des Ryan Routh und des französischen Polizisten sind natürlich nicht ohne weiteres miteinander zu vergleichen. Routh stammt nicht wie der fiktive Patient des Psychologen aus einem migrantischen Milieu und es ist auch ungewiss, ob er in seiner Vergangenheit einer traumatischen Situation ausgesetzt war, wie sie in der Serie konstruiert wurde. Andererseits ist bekannt, dass Routh ein Waffennarr ist und sich in der Vergangenheit Verfolgungsjagden mit der Polizei geliefert hat. In seinem Leben gibt es etwas, was ihn zu Waffen und zu Kriegseinsätzen hinzieht. Wie der Patient in der Serie wird dies auch bei Routh damit begründet, ein großes Unglück abzuwenden, von dem die Menschheit bedroht sein soll und das bei Routh abwechselnd von Männern wie Putin oder Trump angezettelt wird.
Aus psychologischer Sicht erscheint die Hypothese vielleicht nicht ganz abwegig, dass dieses Unglück mit dem Gefühl der Ohnmacht sowie mit der Erfahrung zu tun hat, Dinge ansehen zu müssen, von denen man weiß, dass sie das eigene Leben zerstören. Vielleicht muss man nicht unbedingt Opfer eines Attentats geworden sein, um ein Attentat zu begehen. Es reicht vielleicht schon aus, wenn man das Gefühl hat, im Beruf nicht richtig auf die Beine zu kommen, nicht zu wissen, wie man seine Kredite bedienen soll oder von guten Freunden, Handwerkern oder Behörden übers Ohr gehauen zu werden. Es genügt vielleicht schon das Gefühl, den Glauben an die Menschen und die eigene Zukunft zu verlieren.
In der Vergangenheit waren das immer sehr gute Voraussetzungen für den Eintritt in die Armee. Der Krieg ist das Gegenteil von Untätigkeit und befreit nachdrücklich aus einer Situation, in der man dem eigenen Unglück nur noch zusehen kann. Für diese Lösung war der verhinderte Soldat Ryan Routh jedoch zu alt und mit der Idee einer Privatarmee hat er sich anscheinend nur lächerlich gemacht. Wahrscheinlich kommt hinzu, dass die USA in der Ukraine auch nicht offiziell als Kriegspartei auftreten dürfen und daher nicht nur ein Mangel an Einsatzmöglichkeiten für potentielle Krieger, sondern auch ein Mangel an Abfuhrmöglichkeiten für erlebte Ohnmachtsgefühle besteht.
Möglicherweise hat die Politik dem Möchtegern-Soldaten Ryan also den einzigen und letzten Ausweg versperrt, der ihm außer einem Selbstmord noch zur Verfügung stand. Das versuchte Attentat auf Trump war eine Möglichkeit, aus dem Gefühl der Ohnmacht und des tatenlosen Zusehen-Müssens herauszukommen. Wie offenbar vieles, was Routh in seinem Leben angefangen hat, ist auch dieser Versuch unprofessionell und dilettantisch ausgeführt worden – möglicherweise auch deshalb, weil er nicht Trump, sondern einen anderen treffen wollte. Immerhin steht Trump mit seiner Politik ja eigentlich für die endgültige Erlösung aus Untätigkeit und immerhin war auch Roth einmal ein Anhänger des Ex-Präsidenten.
(5) Das Beängstigende an dem Fall des verhinderten Attentäters ist wahrscheinlich, dass Ryan Routh zwar ein wenig verrückt zu sein scheint, im übrigen aber sehr wohl mit der Lebensweise und den Überzeugungen sehr vieler Amerikaner oder Westeuropäer übereinstimmt. Routh ist kein islamistischer Terrorist, sondern ein weißer Amerikaner, der wie der Westen insgesamt mit eher fragwürdigen Begründungen in den Krieg gegen Russland gezogen ist. Wie im Westen ist auch bei Ryan Routh das „Projekt Ukraine“ schlecht geplant, dilettantisch organisiert und letztlich zum Scheitern verurteilt. Und wie für den Westen sind auch bei Routh sämtliche Gründe für den Kriegseinsatz nur vorgeschoben: Die Ukraine wird für den Kampf gegen eigene Ohnmachts- und Unterlegenheitsgefühle instrumentalisiert – was sich im übrigen für die wesentlichen politischen Entscheidungsträger wie Nuland oder Blinken auch anhand ihrer privaten Biographien eindrücklich nachweisen lässt (vgl. Todd 2024).
Deshalb ist das Schicksal des verhinderten Attentäters möglicherweise auch kein Einzelfall. Es gibt in Europa nicht nur zahlreiche Männer, die sich für die verschiedenen Söldner-Bataillone gemeldet haben, die auf der Seite der Ukraine kämpfen, sondern zu Beginn des Krieges konnten die Bürger westlicher Länder auch nicht genug Spenden sammeln und Hilfe für die notleidende Bevölkerung anbieten: Es gab Berichte davon, dass Privatleute im Wochenrhythmus mit dem eigenen Kombi in die Ukraine fuhren, um dort Matratzen oder Wasserkocher abzuladen. Bei REWE existiert bis heute ein Projekt, bei dem die Kunden heruntergebrannte Wachskerzen spenden können, die dann in die Ukraine geschickt werden sollen, damit Soldaten in ihren Unterständen daraus neue Wachskerzen gießen können.
Dieses Engagement hat sich inzwischen deutlich gelegt, weil die Menschen gemerkt haben, dass ihnen der Krieg näher kommt, als ihnen lieb sein kann. Geblieben ist aber das Gefühl, nicht nur zusehen zu wollen, sondern etwas tun zu müssen, tätig zu werden, sich einzusetzen, also letztlich: selbst in den Krieg zu ziehen, zumindest militärisch aufzurüsten, kriegstüchtig zu werden. Man schickt den Soldaten eine heruntergebrannte Kerze, weil man hofft, dass sie in den Schützengräben ein neues Feuer entfachen, das eigene Gefühl der Rat- und Hilflosigkeit, die Verzweiflung darüber, den Geschehnissen nur noch ohnmächtig zusehen zu müssen, beenden können.
(6) Wenn die Annahme stimmt, dass der Krieg ein Ersatz für den Selbstmord ist, dann wissen wir zum einen, warum so viele Menschen bereit sind, für ihr Vaterland zu sterben. Dann wissen wir auf der anderen Seite aber auch, dass Attentate und Amokläufe zunehmen werden, wenn den Menschen die Möglichkeit genommen wird, an realen Kriegen teilzunehmen. Eine Gesellschaft, die das Gefühl von Ohnmacht und Ausweglosigkeit züchtet, die züchtet auch den Krieg und sämtliche Ersatzformen des Krieges.
Drittens wissen wir aber auch, dass ein unprofessionell und halbherzig geführter Krieg, der nur ein Gefühl der eigenen Ohnmacht beschwichtigen soll, nicht zu gewinnen ist. Am Ende steht vielleicht das Bild des dummen Augusts, der seine eigenen Fähigkeiten überschätzt, der sich übernommen und den Bezug zur Realität verloren hat. Ein Aufschneider, der nur so tut, als hätte er unendlich viele Truppen versammelt, der in Wirklichkeit aber völlig mittellos ist und nur noch zusehen kann, wie die Dinge um ihn herum zerfallen.
Todd, Emmanuel (2024): La défaite de l’Occident. Paris: Gallimard.
Bildnachweis: Ryan Wesley Routh being detained after being the suspect of former president Donald Trump’s second assassination attempt on September 15th, 2024. Quelle: Martin County Sheriff’s Office, Public domain, via Wikimedia Commons. URL: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Arrest_of_Ryan_Wesley_Routh.jpg