Das Schweigen der Psychologen

Therapeutische Reinräume: Über das Schweigen der Psychologen

Von Michael Ley und Carl Vierboom

(1) In der gegenwärtigen Krise bleiben die Psychologen auffällig schweigsam. Es gibt einige wenige Psychologen, die sich mit Kritik an der Corona-Statistik zu Wort melden, die auf die schwierige Situation in den Familien aufmerksam machen oder die darüber nachdenken, wodurch die Angst vor dem Virus motiviert sein könnte. Die meisten halten sich mit Stellungnahmen zu Corona aber zurück. Besonders, wenn es um kritische Äußerungen zu einzelnen Maßnahmen der Bundesregierung geht, überlassen sie den Ärzten oder Psychiatern das Wort. Man hat den Eindruck, als wollten sich Psychologen im Angesicht von Corona nicht zu Bekenntnissen hinreißen lassen.

Das überrascht um so mehr, als Psychologen in der Vergangenheit keineswegs unpolitisch waren. Der kritische Blick auf gesellschaftliche und politische Zusammenhänge gehörte einmal zum Selbstverständnis der Psychologen dazu. Es gab eine Zeit, in der sich bestimmte Gruppierungen innerhalb der Psychologie sogar ausdrücklich zu einer „Kritischen Psychologie“ bekannten. Davon abgesehen gibt es kaum ein soziales oder politisches Phänomen, zu dem sich einzelne Psychologen oder ihre Zunft im ganzen nicht geäußert hätten: angefangen bei Fragen zur Erziehung, über die Auswüchse des Städtebaus oder beim Medienkonsum bis hin zur Atomkraft oder zur Lage in den Gefängnissen und Psychiatrien.

Psychologen haben sich nie darauf beschränkt, bloß individuelle Leiden zu therapieren. Sie haben die seelischen Nöte der Menschen immer auch in den Zusammenhang gesellschaftlicher Verhältnisse gerückt und sich berechtigt gesehen, dazu Stellung zu nehmen. Dabei sind sie möglicherweise auch über das Ziel hinausgeschossen und haben die Dinge zu einseitig oder zu naiv gesehen – wie beispielsweise Freud (1915), wenn er über die Ursachen des Krieges spricht. Trotzdem haben sie ihr Recht als Staatsbürger wahrgenommen und sich zu Wort gemeldet. Bei Corona dagegen bleiben die meisten stumm.

(2) Dabei müssten die Psychologen es doch eigentlich wissen. Dass man absolute Zahlen nicht hochrechnen kann, wenn man dafür nicht einen Vergleichsmaßstab heranzieht, gehört zum Basiswissen, das den Studierenden in allen sozialwissenschaftlichen Studiengängen von Anfang an eingetrichtert wird, das im Fall der Inzidenzwerte aber anscheinend komplett ignoriert wird. Später lernen die Psychologen zudem, dass man keinen Test anwenden kann, wenn man ihn nicht zuvor gründlich validiert hat: Man muss schon wissen, was ein Test misst, ehe man mit irgendwelchen Zahlen hantiert. Beim PCR-Test setzt man jeden positiven Messwert dagegen umstandslos mit einem „Fall“ gleich – ohne sich darüber Gedanken zu machen, wie ein solcher Messwert zustande kommt, welche Rolle das Messinstrument dabei spielt und wie dieser Wert nach statistischen Regeln einzuordnen ist. Der einzige, der diese Widersprüche öffentlich anspricht, ist der Regensburger Psychologe Kuhbandner (2020), der dafür prompt in die Ecke der Corona-Leugner gestellt wird.

Wenn sie in Beratungsstellen oder in therapeutischen Praxen arbeiten, haben die Psychologen es außerdem mit Menschen zu tun, die unmittelbar von der Krise betroffen sind. Entweder sehen sie dann, dass ihre Patienten einigermaßen zurechtkommen oder sie sehen, dass sich ihr Zustand unter den Bedingungen der Krise deutlich verschlechtert. In beiden Richtungen wären Befunde denkbar, die für die Einschätzung der gesellschaftlichen Lage von großer Bedeutung wären. Die Psychologen erstellen solche Befunde aber nicht. Sie spekulieren allenfalls über das Charakterprofil der angeblichen Verschwörungstheoretiker und psychiatrisieren damit diejenigen, die vielleicht noch am ehesten spüren, dass an den herrschenden „Narrativen“ etwas nicht stimmen kann.

Schließlich könnte man von ausgebildeten Psychologen aber auch erwarten, dass sie darüber nachdenken, welche Auswirkungen die Corona-Maßnahmen auf die eigenen Arbeitsbedingungen haben. Die Folgen dieser Maßnahmen für die therapeutische Praxis sind ja nicht ganz unerheblich. Es macht einen Unterschied, ob man seinen Patienten im traditionellen therapeutischen Setting begegnet oder ob dieses Setting durch Seifenspender und Plexiglasscheiben bestimmt wird. Die von staatlichen Gesundheitsbehörden erzwungenen Auflagen sind ohne Zweifel Einmischungen in den therapeutischen Prozess, über dessen Folgen zumindest gesprochen und diskutiert werden müsste.

Von den meisten Psychologen hört man aber nichts zu diesem Thema. Fast ohne Widerspruch akzeptieren sie die Hygiene- und Abstandsregeln und streiten sich eher über Möglichkeiten ihrer technischen Umsetzung als über die Frage, ob unter den vorgeschriebenen Bedingungen ein therapeutisches Gespräch überhaupt noch möglich ist. In vielen Fällen machen es Psychotherapeuten oder psychologische Berater aber auch einfach den anderen Berufsgruppen nach und verabschieden sich ins Home-Office. Im Verlauf des vergangenen Jahres scheint die Online-Beratung geradezu zum Lieblings-Setting der Psychologen geworden zu sein. Ausgerechnet in einer gesellschaftlichen Situation, in der ihre Hilfe vielleicht so dringend gebraucht wird wie nie zuvor, sind sie zu ihrer Klientel gründlich auf Abstand gegangen.

(3) Die meisten Menschen wissen nicht, dass es die Psychologen als eigenen, anerkannten Berufsstand noch gar nicht so lange gibt. Die Diplomprüfungsordnung für Psychologen ist erst 1941 erlassen worden, also mitten in der Nazizeit. Hintergrund war die Arbeit, die von der sogenannten Heerespsychologie geleistet wurde und für die Auslese von Bewerbern für die einzelnen Heeresteile oder die Offizierslaufbahn verwendet werden konnte. Die Wehrmacht war mit dieser Arbeit sehr zufrieden und versetzte die Psychologen, die mit dieser Arbeit betraut waren, sogar in den Beamtenstatus (Geuter 1984, S. 350).

Die Professionalisierung der Psychologie hat ihren Ursprung daher nicht ausschließlich in der Entwicklung wissenschaftlicher Theorien oder Verfahren, und sie geht auch nicht auf die Leistung einzelner, herausragenden Psychologen zurück. Entscheidend war ihre Verwertbarkeit für den gesellschaftlichen Apparat, wobei in Deutschland ebenso wie in anderen Staaten zunächst vor allem das Militär die entscheidende Rolle spielte. Die Psychologie wurde stark durch Eignungsdiagnostik mit dem Ziel der Leistungsmaximierung im Kriegseinsatz.

Nach dem zweiten Weltkrieg gelang es den Psychologen, auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen Fuß zu fassen, beispielsweise in Industrieunternehmen, in Krankenhäusern und Psychiatrien, in Gefängnissen oder im Bereich der Jugendämter, in deren Verantwortung die zahlreichen öffentlichen Familien- und Erziehungsberatungsstellen geführt werden. Individuelle Psychotherapie war in diesem System lange Zeit ein purer Luxus und in berufsrechtlicher Hinsicht allein den Ärzten vorbehalten. Psychologen konnten hier nur nach einer zeit- und kostenintensiven Zusatzausbildung und lediglich im Rahmen bestimmter Ausnahmeregelungen (z.B. TK-Regelung) tätig werden. Therapeutische Behandlung ist Behandlung am Menschen und hier wollten die Ärzte die psychologische Konkurrenz auf Distanz halten.

Das änderte sich erst am Ende der 90er Jahre, als die gesellschaftlichen Probleme so groß wurden, dass die Mediziner die Psychotherapie als ein neues Geschäftsfeld zu entdecken begannen. Mit der Einführung eines Psychotherapeutengesetzes erlaubten sie es den Psychologen, sich an diesem Geschäftsfeld zu beteiligen – allerdings nur zu den Bedingungen, die dem ärztlichen Professionsverständnis entsprachen: Die Psychotherapeuten mussten jetzt dieselben Ausbildungs-, Zulassungs- und Abrechnungsverfahren über sich ergehen lassen, wie sie auch für die Gründung einer ärztliche Praxis gelten.

(4) Die Psychologen waren zuerst froh darüber, dass man sie überhaupt mit ihrer therapeutischen Kunst ernst nahm und feierten das Psychotherapeutengesetz als einen großen Sieg. Für einen Moment sah es so aus, als würde für die Psychologen ein lang gehegter Wunsch in Erfüllung gehen und als könnten sie endlich so sein wie die Ärzte, die sie insgeheim so sehr bewunderten. Endlich hatten sie eine Kassenzulassung, eine eigene Praxis, vielleicht sogar eine Sekretärin und ein Wartezimmer. Vor allem dauerte es aber auch nicht lange, da bekamen sie wie die Ärzte ein Lesegerät für die Versichertenkarte ihrer Patienten, mit dem sie ihre Leistungen mit den Kassen abrechnen und sich eine halbwegs bürgerliche Existenz aufbauen konnten.

Allerdings übersehen die meisten Psychologen bis heute, dass sie vom Kassen- und Medizinsystem für einen Hungerlohn abgespeist werden. Der durchschnittliche Jahresgewinn einer psychotherapeutischen Praxis liegt weit unter der Summe, die noch von der am schlechtesten verdienenden Ärztegruppe, den Kinderärzten, erwirtschaftet wird. Rechnet man das Gesamtvolumen aller psychotherapeutischer Leistungen einschließlich der von den ärztlichen Therapeuten erbrachten Leistungen zusammen, dann machen diese nicht einmal sie Hälfte eines Promille aller medizinischen Leistungen in der Bundesrepublik aus. Aus finanztechnischer Perspektive betrachtet spielt die Psychotherapie im deutschen Gesundheitssystem so gut wie keine Rolle.

Leider übersehen die Therapeuten ebenfalls, dass das Gesundheitssystem auch in inhaltlicher und konzeptioneller Hinsicht sehr übergriffig werden kann. Wie alle anderen staatlich organisierten Apparate ist auch das Medizinsystem auf Normierung und Standardisierung angelegt. Ähnlich wie die ärztlichen Behandlungen werden daher auch die psychotherapeutischen Behandlungen zu Verwaltungszwecken in einzelne Teilstücke zerlegt, mit bestimmten Kennzahlen versehen, einzeln abgerechnet und geprüft usw. Eine zusammenhängende psychologische Begründung der Behandlung ist damit nicht gegeben, sie wird durch die Verwaltungslogik vielmehr nachhaltig behindert.

Die meisten Therapeuten sind der Meinung, dass die Auflagen des Kassensystems nur Formalkram wären und ihre tägliche Arbeit davon lediglich am Rande berührt würde. In Wirklichkeit hat das Medizinsystem aber längst die Führung übernommen. Es schreibt nicht nur vor, wie lange und wie viele Stunden eine Therapie dauern kann, welche seelischen Leiden mit welchen therapeutischen Verfahren zu behandeln sind, in welchem Umfang Diagnostik gemacht werden darf usw., sondern es richtet unbemerkt auch das Denken und die Sprache der Therapeuten aus. Nach einiger Zeit im Dienst des Kassensystems sprechen selbst Analytiker von der rechten und der linken Gehirnhälfte, von neuronalen Netzwerken, vom Einfluss der Gene usw.

Die Psychologen glauben, in ihren Behandlungszimmern wären sie die eigentlichen Herren des therapeutischen Verfahrens. In Wirklichkeit hat sich die psychologische Behandlung allmählich auf das Gebiet der Medizin verschoben. Im Gesundheitsministerium ist inzwischen gar nicht mehr von Psychotherapie die Rede, sondern von „sprechender Medizin“. Das klingt, als würde man die Therapeuten wie mechanische Puppen aufziehen und sie an die Fäden des Medizinsystems hängen, wo sie dann nach den Vorgaben der Ärzte zu ihren Patienten sprechen sollen. Eine ziemlich gruselige Vorstellung, wenn man berücksichtigt, dass S. Freud (1926) einmal gesagt hat, auf dem Gebiet der Psychotherapie wären die Mediziner eigentlich die Laien.

(5) Wir können hier nicht im Einzelnen darauf eingehen, dass das Medizinsystem seinen Zugriff auf die Psychotherapie noch weiter ausgebaut hat, indem es etwa mit Hilfe mächtiger Stiftungen die Dominanz der Verhaltenstherapie unterstützt und diejenigen psychologischen Richtungen an den Rand gedrängt hat, die eine autonome Auffassung der seelischen Wirklichkeit vertreten. Auch der Umbau des Psychologiestudiums im Rahmen der Bachelor- und Masterstudiengänge ist im Grunde ein Skandal. Die Mediziner haben sich erfolgreich gegen die Zerlegung ihrer Ausbildung im Rahmen der konsekutiven Studiengänge gewehrt. Die Psychologen haben die Hochschulreform demgegenüber dazu genutzt, die letzten Ansprüche auf ein grundständiges Studium aufzugeben. Inzwischen kann man mit staatlicher Duldung sogar ein Psychotherapiestudium absolvieren, ohne dafür jemals Psychologie studieren zu müssen (hierzu kritisch: Hauten & Jungclaussen 2021).

Warum haben die Psychologen sich das alles gefallen lassen? Warum haben sie nicht protestiert gegen die schleichende Abschaffung ihres Berufsstandes? Warum haben sie nicht darauf bestanden, dass die Psychotherapie eine andere Perspektive auf Gesundheit und Krankheit darstellt, als sie von der Medizin vertreten wird? Warum haben sie diese Position nicht offensiv gegen die Übergriffe aus dem Medizinsystem verteidigt?

Ein Grund hat sicher damit zu tun, dass die Psychologen dazu neigen, ihre Kräfte zu überschätzen. Psychologen sind Einzelkämpfer. Sie lieben die Vereinzelung und sie betreiben die Vereinzelung. Sie verfügen nicht über einen schlagkräftigen Berufsverband und auch nicht über zugkräftige Bilder für ihre Arbeit. Jeder Lehrerverband, jeder Handwerker- und Bauernverband bringt mehr Mitglieder und vor allem: mehr Kampfkraft auf als der Berufsverband der deutschen Psychologen, die am liebsten allein in ihren Behandlungszimmern sitzen und den Patienten zuhören.

Psychologen sind aber auch ängstliche Menschen. Sie sind nicht zufällig Psychologen geworden, sondern sie sind es deshalb geworden, weil sie spüren, dass ihre Wahrnehmungen von den Wahrnehmungen anderer Menschen abweichen. Meistens haben sie schmerzhaft und am eigenen Leibe erfahren müssen, dass etwas in ihren Familien, in der Schule oder in den Betrieben nicht stimmt und dass da anders gehandelt wird, als offiziell behauptet wird. Sie spüren einen Riss in der Welt, in der sie leben, aber sie denken meistens, dass sie es selbst sind, durch die dieser Riss geht. Manche Psychologen werden Therapeuten, weil sie sich auf diese Weise klarmachen können, dass es anderen ebenso geht wie ihnen selbst.

Das muss nichts Schlechtes bedeuten. Auch Ärzte, Politiker oder Lehrer haben bestimmte Gründe dafür, warum sie ihren Beruf ergreifen. Mit einem guten Konzept, mit einer psychologischen Methode und mit einer Schulung im Beschreiben und Beobachten kann der Psychologe seine lebensgeschichtlichen Erfahrungen dazu nutzen, den Rissen in der Biographie anderer Menschen nachzugehen und sie von seiner eigenen Biographie zu unterscheiden. Das kostet viel Zeit und Mühe, aber das ist nun einmal das, was den Kern der Profession ausmacht.

Wenn das psychologische Denken heute aber vor allem durch die Medizin beherrscht wird, dann fehlt den Psychologen auch ein Zugang zu den eigenen biographischen Verwicklungen. Ein ganzer Teil dessen, was Psychotherapie ausmacht, bleibt ausgeklammert oder wird durch medizinische Scheinerklärungen verdinglicht. Die Psychologen spüren nach wie vor, dass etwas nicht stimmt, aber sie haben keine Begriffe mehr, mit denen sie diese Erfahrung in eine Fassung bringen können. Sie werden beunruhigt durch eigene und fremde Lebenskrisen, für die sie keinen Namen mehr finden.

(6) Corona ist ein Bild für diese Verhältnisse. Viele Psychologen tun so, als wäre Corona eine Realität, die mit ihrer therapeutischen Arbeit nur am Rande etwas zu tun hat. Sie behandeln Corona als ein medizinisches Phänomen und akzeptieren die Auflagen, die sich daraus ergeben – ähnlich, wie sie auch schon die Abrechnungsmodalitäten des Kassensystems und das Lesegerät für die Versichertenkarte akzeptiert haben. Corona ist etwas, das von außen kommt und das psychologisch nicht weiter befragt werden kann.

Für viele Psychologen ist Corona aber auch eine Möglichkeit, ihre Patienten auf Distanz zu halten. Sie zwingen die Leute zu Händewaschungen und Hygienemaßnahmen, sie bauen Plexiglasscheiben im Empfang und manchmal auch in den Besprechungsräumen auf, sie schieben die Sessel mindestens zwei Meter auseinander und je nach Krankenkasse wechseln sie auch schnell mal in ein Online-Setting. Eigentlich wissen die Psychologen, dass sich die eigenen und die fremden Ängste, die in den Therapien thematisiert werden wollen, nicht durch Plexiglasscheiben aufhalten lassen (Lamparter 2020). Sie machen es trotzdem und sie scheinen dabei keine Skrupel zu haben. 

Der Grund ist darin zu sehen, dass Corona den Psychologen eine Berechtigung dafür liefert, die therapeutische Praxis endgültig in eine Arztpraxis zu verwandeln. Corona führt dazu, dass die therapeutische Behandlung in eine berührungs- und kontaktlose Behandlung überführt wird. Sie nähert sich den Reinräumen der Ärzte und der Mediziner an, im Zeitalter der Digitalisierung sogar den Reinräumen der Tele-Medizin, die aus der Heil-Kunst des Arztes eine Fern-Wirkung werden lässt, in der alle persönlichen Anteile getilgt sind.

In den Reinräumen der Medizin wird der Arzt als verantwortlicher Akteur des gesamten Behandlungs-Settings bestätigt, andererseits aber auch vor kritischen Nachfragen und Beobachtungen durch die Patienten geschützt. Devereux (1967) ist der Ansicht, dass dieses Vorgehen darauf hinausläuft, die Reziprozität der Beziehung zwischen Arzt und Patient zu unterbinden: Durch Isolieren, Trennen und Quantifizieren der empirischen Daten versucht der Arzt oder der Experimentator im naturwissenschaftlichen Experiment, sich gegen ein Berührt-Werden durch die Wirklichkeit zu schützen, mit der er es zu tun bekommt.

Devereux weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die psychotherapeutische Methode, und zwar vor allem in der Ausformung, wie die Psychoanalyse sie vorgenommen hat, eigentlich dazu erfunden wurde, diese Trennung aufzuheben. Mit dem Konzept von Übertragung und Gegenübertragung wollte Freud die Reziprozität des Beobachtens und Beobachtet-Werdens ausdrücklich in Rechnung stellen. Die eigene Betroffenheit liefert für den Psychologen das wichtigste Material zur Erforschung einer nur scheinbar fremden Wirklichkeit.

Eine Psychologie, die ganz im Setting der Medizin aufgeht, verfehlt diese Möglichkeit. Sie befördert die Indifferenz sowohl gegenüber den Erfahrungen der Patienten als auch gegenüber den Äußerungen der eigenen seelischen Wirklichkeit. Eine solche Psychologie ist im Grunde ein Betäubungsmittel. Es macht taub und stumm gegenüber den Fragen, mit denen die Menschen zum Psychologen kommen, aber es hindert die Psychologen auch daran, diese Fragen in einem Kontext zu verorten, der über die engen Grenzen der eigenen Praxis hinausreicht.

Im Grunde läuft die „Indifferenz gegenüber der Reziprozität“ der therapeutischen Erfahrung darauf hinaus, dass der Anspruch einer psychologischen Therapie nicht mehr ernsthaft vertreten werden kann. Mit der Unterwerfung unter das Medizinsystem haben die Psychologen ihre Fähigkeit zum Miterleben und zum Mitempfinden verloren. Sie haben nicht nur zugelassen, dass die Ärzte ihr ureigenes Berufsfeld usurpiert haben, sondern sie haben sich auf diesem Berufsfeld auch selbst  zum Verschwinden gebracht.  

Corona könnte Abschluss und Höhepunkt dieser Entwicklung sein. Über Corona wird man vielleicht später einmal sagen, dass dies der Zeitpunkt war, zu dem die Psychologen ihre Seele verkauft haben.

 

Devereux, Georges (1967): Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften. Frankfurt (1984): Suhrkamp.

Freud, Sigmund (1915): Zeitgemäßes über Krieg und Tod. Imago, 4 (1), 1-21.

Freud, Sigmund (1926): Die Frage der Laienanalyse. Unterredungen mit einem Unparteiischen. Wien: Internationaler Psychoanalytischer Verlag.

Geuter, Ulfried (1984): Die Professionalisierung der deutschen Psychologie im Nationalsozialismus. Frankfurt/ Main: Suhrkamp.

Hauten, Lars; Jungclaussen, Ingo (2021): 150 Jahre Kampf um die Psychotherapie – Ende gut, alles gut? Ein historischer Rückblick anlässlich der Ausbildungsreform. PDP – Psychodynamische Psychotherapie, 20. Jg. (2), 100-111.

Kuhbandner, Christof (2020): Von der fehlenden wissenschaftlichen Begründung der Corona-Maßnahmen. URL: https://www.heise.de/tp/features/Von-der-fehlenden-wissenschaftlichen-Begruendung-der-Corona-Massnahmen-4709563.html

Lamparter, Ulrich (2020): Corona, Corona, Corona. Forum der Psychoanalyse, 36, 333-335.

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