Das letzte Aufgebot

Das letzte Aufgebot – Über Corona im Ruhrgebiet
Von Michael Ley & Carl Vierboom

(1) Das Theater an der Niebuhrg in Oberhausen gehört wahrscheinlich nicht zu den großen Bühnen der Republik. Es hat ein paar Musicals, Zaubershows sowie Soloauftritte von eher unbekannten Kleinkünstlern im Programm. Die Niebuhrg ist wohl in erster Linie ein Volkstheater, eine Art Jahrmarkt für die Theaterbühne. Bundesweite Maßstäbe im Bereich der Kunst werden hier nicht unbedingt jeden Tag gesetzt.

Dafür ist das Theater jetzt über die Stadtgrenzen hinaus mit der Ankündigung bekannt geworden, sein Publikum ab sofort nur noch mit dem Nachweis einer vollständigen Corona-Impfung zuzulassen. Während der Rest der Republik noch über 2 G diskutiert, prescht das kleine Haus vor und setzt eine neue Markierung im Kampf gegen die Ungeimpften.

1 G und sonst nix, heißt es ziemlich frech auf der Website des Theaters. Das klingt nach der direkten und rustikalen Sprache aus dem Ruhrgebiet, aber auch nach der Rede von der Alternativlosigkeit, mit der die Kanzlerin sich ihre Entscheidungen in der Vergangenheit leicht gemacht hat. In Oberhausen bevorzugt man jedenfalls klare und einfache Regeln. Was stört, muss draußen bleiben.

(2) Trotzdem gibt es erst einmal keinen Grund, über das Theater, das sich da so mächtig aufplustert, die Nase zu rümpfen. Es existieren schlimmere Etablissements im Ruhrgebiet und in NRW, wo nicht nur Kunst und Kultur, sondern auch die umsatzstarken Unternehmen längst Mangelware geworden sind, wo das Geld an allen Ecken und Enden fehlt und die Städte jeden Tag mehr zerfallen. Das Land hängt am Tropf des Länderfinanzausgleichs; es wird versorgt von den reichen Ländern der Republik und den Subventionen aus Brüssel. Aus eigener Kraft kommt es so schnell nicht wieder auf die Beine, wenn man einmal von prosperierenden Regionen wie dem Münsterland absieht.

Dabei war das Ruhrgebiet lange Zeit eine Goldgrube. Es stand für den Mythos, der mit dem Steinkohlebergbau verbunden war, der die Industrialisierung befeuert und den Aufstieg Deutschlands zur führenden Industrienation befördert hat. Das Ruhrgebiet war Maloche und harte Arbeit. Es hat mit Eisen und Stahl die Rüstung für die beiden Weltkriege besorgt und nach dem Krieg das Wirtschaftswunder angetrieben. Bundesländer wie Bayern, die heute über die Höhe ihrer Transferleistungen klagen, haben bis in die 1980er Jahre hinein selbst von Geldern aus dem Ruhrgebiet gelebt.

Wegen seiner strategischen Bedeutung war das Ruhrgebiet im zweiten Weltkrieg schon früh das Ziel alliierter Luftangriffe. Die Wunden, die der Krieg geschlagen hat, sieht man den Städten noch heute an, ebenso wie die Schneisen, die durch den Wiederaufbau verursacht wurden. Wahrscheinlich hat A. Mitscherlich nicht zuerst an das Ruhrgebiet gedacht, als er von der „Unwirtlichkeit unserer Städte“ schrieb. Auf den ersten Blick wirkt die Region aber nicht besonders einladend.

(3) Der Kohlebergbau hat aber auch noch andere Probleme hinterlassen, die auf den ersten Blick nicht so leicht zu erkennen sind. Das Ruhrgebiet ist nämlich unter der Oberfläche löchrig wie ein Schweizer Käse. An vielen Stellen hat sich der Boden so stark abgesenkt, dass die Flächen unter dem Niveau der umliegenden Gewässer liegen und von Überschwemmungen bedroht sind. Hin und wieder gibt es auch Meldungen über Erdsenkungen, bei denen ganze Häuser in die Tiefe rutschen.

Damit die aufgegebenen Stollen nicht überflutet werden und keine Schwermetalle in das Grundwasser eindringen können, sind im gesamten Ruhrgebiet aufwendige Pumpanlagen dauerhaft im Einsatz. In jedem Jahr werden Wassermengen in Rhein und Ruhr gepumpt, die dem Wasserverbrauch aller privaten Haushalte in NRW entsprechen. Da das gesamte Ruhrgebiet buchstäblich absaufen würde, wenn die Pumpen abgestellt würden, handelt es sich bei den Kosten für den Unterhalt der Pumpwerke um eine „Ewigkeitslast“, für die unsere Gesellschaft in alle Zukunft aufkommen muss.

Trotzdem gibt es immer wieder Menschen, die sich mit dem Unabwendbaren nur schwer anfreunden wollen. Deshalb hat auch für das Ruhrgebiet jemand den Vorschlag gemacht, die stillgelegten Gruben einfach volllaufen zu lassen und abzuwarten, bis sich die Region in ein riesiges Sumpfgebiet verwandelt hat. Morastige Sümpfe statt blühender Landschaften, das ist die zynische Perspektive, mit der sich die Menschen an der Ruhr konfrontiert sähen, wenn ihnen nicht Apparate und Maschinen das Wasser buchstäblich vom Halse hielten.

(4) Wer will es diesen Menschen verdenken, wenn sie von alledem nichts wissen wollen, sondern froh sind, dass sie irgendwie über die Runden kommen und sich gelegentlich ein kleines Vergnügen in einem Theater wie der „Niebuhrg“ gönnen? Wenn man von den Politikern, den Parteien und den Gewerkschaften verlassen wurde, dann tut es wohl gut, sich mit anderen zu treffen, die einem das Gefühl geben, nicht ganz allein zu sein. Das kann man Eskapismus nennen, aber vielleicht ist das für viele Menschen die einzige Aussicht, die sie nicht verzweifeln lässt.

Andererseits scheint es an der Niebuhrg mit der Ruhe dann doch ein wenig zu weit zu gehen. Das Programm arbeitet mit allen möglichen Versatzstücken aus der Theaterwelt, die vereinfacht und klischeehaft neu zusammengesetzt werden. Nachdenklichkeit und Tiefe sind hier nicht gefragt, sondern eher Direkt-Symbolik und sofort Greifbares. Die „Niebu(h)rg“ klammert schon im Namen wesentliche Dinge aus und scheint insgesamt eher an der Errichtung von Trutz-Burgen als an Öffnung und Austausch interessiert zu sein.

Irgendwie fühlt man sich mit der Niebu(h)rg an die Konzerte von Nena und Helge Schneider im vergangenen Sommer erinnert. Dort hat man die Menschen in eine Box aus Cola- und Bierkästen gesperrt und vollmundig behauptet, sie säßen in einer VIP-Lounge. Eine solche Form von Ruhigstellung scheint man auch in Oberhausen anzustreben. Die Box nimmt hier zwar die Größe eines ganzen Theaters an, aber das täuscht nicht darüber hinweg, dass es eine Box ist. Der Laufstall ist nur ein wenig geräumiger geworden.

(5) In den 80er Jahren haben die ehemals blühenden Industriegebiete in England ein ähnliches Schicksal erlitten wie das Ruhrgebiet. Unter dem Regime von M. Thatcher, die das böse Wort von der „Alternativlosigkeit“ noch vor der deutschen Kanzlerin erfunden hat, wurden auch hier ganze Wirtschaftszweige stillgelegt, die Gewerkschaften zerschlagen und das Selbstbewusstsein der Arbeiterschaft zerstört. Es war einer der ersten Raubzüge des Neoliberalismus, den die britische Regierung seinerzeit zuließ, ein Krieg gegen die eigene Bevölkerung und ein Vorbild für vieles, was nachher kam im Zeitalter des globalisierten Kapitalismus.

Die Engländer haben ein paar Jahre später einen Film über dieses gesellschaftliche Trauma herausgebracht. „Ganz oder gar nicht“ heißt er in der deutschen Übersetzung. Er handelt von der verzweifelten Lage der Arbeiter, denen jede Hoffnung genommen ist: der Job, den sie zum Lebensunterhalt brauchen; die Unterstützung durch Parteien oder Freunde; der Rückhalt durch Partner und Familien. Der Film zeigt, wie es Menschen ergeht, denen man buchstäblich das letzte Hemd ausgezogen hat.

Aber der Film zeigt auch, wie die Arbeiter ihrem Schicksal eine andere Wendung zu geben versuchen. Sie fassen den nur scheinbar unsinnigen Entschluss, es einer beliebten Gruppe männlicher Stripper gleichzutun und in ihrer Stadt nach dem Vorbild der „Chippendales“ aufzutreten. Das ist riskant, weil sie damit zeigen, dass sie verwundbare und zerbrechliche Menschen sind. Aber dieses Wagnis hat auch eine eigene Souveränität, weil darin zum Ausdruck kommt, dass sich die Männer zu der Situation bekennen, in die sie ohne eigene Schuld hineingeraten sind.

Im dem Film haben die Männer mit dieser Idee am Ende Erfolg. Nach einigen Irrungen und Wirrungen, von denen die Filmgeschichte in der Hauptsache lebt, ist das Lokal, in dem die arbeitslosen Stripper auftreten, zum Bersten voll. Die Stadt, die Freunde und die Familien finden zu ihnen, weil sie die Situation, die ihnen die Männer vorspielen auch ihre eigene ist. Am Ende bleibt ihnen vielleicht nur noch der eigene Körper, über den sie verfügen können. Aber dieser Körper ist nicht nur banale Natur, sondern er bedeutet auch das Besondere, das Individuelle, letztlich vielleicht sogar das „Heilige“ (G. Agamben), das man dem Menschen nicht nehmen kann.

(6) Die Sache mit dem Theater in Oberhausen wäre nicht der Rede wert, wenn man sich daran nicht klarmachen könnte, wie die Corona-Gesellschaft im ganzen konstruiert ist. Es ist ja nicht nur das Ruhrgebiet, das in Deutschland auf unsicherem Grund gebaut ist und sozusagen an der Abbruchkante lebt. Wir haben einen Schuldenberg, der mindestens so hoch ist wie früher die Abraumhalden im Ruhrgebiet. Wir haben die Bankenkrise, die Eurokrise, die Flüchtlingskrise, die Krise des Gesundheitssystems und diejenige der Schulen und der Hochschulen.

Und das sind nur die Probleme, über die öffentlich gesprochen werden darf. Die strukturellen Probleme der Republik liegen noch viel tiefer. In den vergangenen Jahren und Jahrzehnten wurden Einrichtungen und Institutionen der Gesellschaft genauso durchlöchert wie der Boden unter dem Ruhrgebiet. Ohne gigantische Pump- und Stellwerke, die immer neue Hilfs- und Rettungsgelder zur Verfügung stellen, wäre die Republik längst abgesoffen.

Doch obwohl allen klar ist, dass man angesichts dieser Lage nicht einfach weitermachen kann, verhalten sich die meisten Menschen genauso wie die Theatermacher in Oberhausen. Sie machen mit bei gesellschaftlichen Inszenierungen, die von den drängenden Fragen ablenken und statt dessen alle möglichen Ersatzprobleme in den Blick rücken: das Klima, die Geschlechterfrage oder den Krieg am Hindukusch. Riskante Entscheidungen oder neue Ideen, die sich auf die Zukunft der eigenen Gesellschaft beziehen, bleiben dagegen Fehlanzeige.

In bestimmter Hinsicht ist auch Corona Teil solcher Inszenierungen. Corona wird als Gefahr für die Gesundheit beschworen, aber das ist auch Anlass für die Einrichtung von Rettungsinseln und Versorgungsparks. An keiner Stelle müssen die Menschen irgend etwas einsetzen oder riskieren, um mit dem Virus fertigzuwerden. Sie müssen einfach nur zu Hause bleiben und nichts tun oder auf die Rettung durch ein medizinisches Wundermittel warten. Es ist eine Betäubungswelt, die durch Corona aufgebaut wird und die den Blick in den Abgrund ersparen soll.

Wenn man das letzte Hemd verloren hat, dann bringt es allerdings nicht weiter, auf Abfindungen durch das Arbeitsamt oder auf eine Droge zu warten, die dem Volk von der Medizin verabreicht wird. Wenn man die Dinge einfach laufen lässt, dann ist irgendwann die eigene Zukunft und die der Gesellschaft verspielt. Dann ist das Land wirklich auf dem Weg, sich in eine Sumpflandschaft zu verwandeln.

Vielleicht wird es selbst dann noch das eine oder andere Theater wie das an der Niebuhrstraße in Oberhausen geben. Das werden aber allenfalls die Rückzugsorte für das letzte Aufgebot sein können. Es werden Einrichtungen sein, die wie schon heute in stillgelegten Zechen- und Industrieanlagen untergebracht sind und als zweifelhafte „Leuchttürme“ aus einer ansonsten unbelebten Einöde herausragen.

 

Agamben, Giorgio (2020). Der Gebrauch der Körper. Frankfurt/Main: Suhrkamp.

Mitscherlich, Alexander (1965). Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Print Friendly, PDF & Email