Das Kind als Virus: Über Erziehung im Corona-Staat

Das Kind als Virus: Über Erziehung im Corona-Staat

Von Michael Ley & Carl Vierboom

(1) Es hat zwar etwas gedauert, aber inzwischen scheint man sich in der Gesellschaft darauf geeinigt zu haben, dass die Kinder zu denjenigen Gruppen gehören, die am meisten unter den Corona-Maßnahmen zu leiden hatten. Den Kindern hat man die Schließung der Schulen auferlegt, man hat ihnen verboten, sich mit Freunden zu treffen und man hat ihnen eingeredet, dass die Viren vor allem durch sie verbreitet würden, weil sie von Natur aus so spontan und lebendig wären und sich nicht an die vorgeschriebenen Abstandsregeln halten könnten.

Mit Spontaneität und Lebendigkeit, so wird befürchtet, ist es als Folge der Maßnahmen nun aber leider vorbei. In ersten Studien zu Auswirkungen der Corona-Zeit wird festgestellt, dass die Kinder auch nach dem Ende der Krise dazu neigen, lieber zu Hause zu bleiben als sich mit Freunden zu treffen, dass sie sich kaum noch bewegen und daher kontinuierlich an Körperfülle zunehmen und dass auch klinische Störungsbilder wie Depression und Suizidalität zunehmen.

Besorgte Ärzte, Psychiater oder Politiker lassen daher gelegentlich ein Wort des Bedauerns fallen und gestehen zu, dass man mit den Maßnahmen im Fall der Kinder möglicherweise zu weit gegangen sei. Gerade den jüngsten Mitgliedern der Gesellschaft hätte man vielleicht allzu zu große Opfer abverlangt. Jedenfalls sei es jetzt an der Zeit, die Kinder für diese Opfer zu entschädigen und ihnen zur Abwechslung auch einmal etwas Gutes zu tun. Der Ethikrat (?) empfiehlt beispielsweise dringend die Digitalisierung der Schulen, damit die Kinder Gelegenheit hätten, die entstandenen Lernrückstände aufzuholen.

(2) Die Menschen, die sich hier sorgenvoll um das Schicksal der jungen Leute bekümmern, sind in den meisten Fällen dieselben, die während der Krise auch noch die härtesten Maßnahmen befürwortet haben. Von Aufarbeitung, Reflexion über eigene Beteiligung oder dem Eingeständnis von Verantwortung hält man nicht viel. Man hätte es damals ja nicht wissen können, wird behauptet. Man hätte in einer schwierigen Situation entscheiden müssen, in der nicht immer klar gewesen sei, welche Folgen diese Entscheidungen gehabt hätten.

In der Regel beschränkt man sich daher auch darauf, lediglich einzelne Fehler oder Irrtümer einzuräumen und gleich eine Liste von Maßnahmen hinterherzuschicken, die dazu dienen sollen, solche Fehler in Zukunft zu vermeiden. Mit viel Statistik, Tabellen und Diagrammen versucht man herauszufinden, wo sich unter den Kindern und Jugendlichen die besonders „vulnerablen“ Gruppen befinden, wie die demographischen Merkmale in diesen Gruppen verteilt sind oder welche „Indizes“ dazu geeignet sind, potentielle Gefahren möglichst frühzeitig zu erkennen.

Das sind dieselben Methoden des Einkreisens, des Isolierens und Dingfest-Machens, die auch schon während der Krise Anwendung gefunden haben. An keiner Stelle befassen sich Wissenschaftler oder Politiker auch nur mit einem einzigen individuellen Schicksal; an keiner Stelle wird der Versuch gemacht, Zusammenhänge herzustellen, die über die künstlich erzeugten Cluster der Statistik hinausgehen; nirgendwo gibt es auch nur den Versuch, den eigenen wissenschaftlichen Ansatz zu befragen oder zu begründen.

Politiker und Wissenschaftler machen im Grunde so weiter, wie sie auch in der Krise gehandelt haben. Sie verlegen sich auf den Blick der Funktionäre, die von sich behaupten, dass sie am besten wüssten, wie es der Gesellschaft ergeht und was dafür zu tun ist. Es ist der überlegene Blick gesellschaftlicher Eliten, die nicht nur die Welt nach ihren eigenen Vorstellungen formen, sondern auch nach alle anderen dazu zwingen wollen, diesen Vorstellungen zu folgen.

(3) Dabei könnte das Schicksal der Kinder durchaus ein Ansatz zum Verständnis der ungeheuren Verwerfungen werden, die in den vergangenen drei Jahren das Zusammenleben in sämtlichen Bereichen der Gesellschaft verändert haben. In der Krise ging es nämlich nicht nur darum, den Kindern für einige Wochen so etwas wie einen verlängerten Stubenarrest aufzubrummen. Corona war vielmehr eine Gelegenheit, die Kinder als einen gesellschaftlichen Faktor aus dem Verkehr zu ziehen. Ihr sollt am besten nichts tun, hieß es in einer Werbekampagne der Bundesregierung. Ihr seid Helden, wenn ihr euch möglichst ruhig verhaltet und den Rest der Gesellschaft nicht mit euren Ansprüchen belastet.

Entsprechend waren auch die Schulschließungen allein noch kein Sündenfall. In Kriegs- und Katastrophenzeiten kann man so etwas durchaus rechtfertigen. Während Corona ist es aber nicht bei zeitlich begrenzten Schulschließungen geblieben, sondern es gab einen langsamen Prozess der Auflösung, der sich über Wochen und Monate hinzog, der zwischen Öffnungen und Schließungen hin und her schwankte, bei dem alle möglichen Formen des Distanz-, Hybrid- und Wechselunterrichts ausprobiert wurden und der am Ende nur noch ein blasses Surrogat der alten Schule in Form des Bildschirmunterrichts übrig ließ.

Eine einigermaßen verlässliche Perspektive war damit nicht verbunden. Die Schule erwies sich für alle Beteiligten, für Eltern, Lehrer, Schüler als ein völlig unberechenbarer Partner. Kaum hatte man Pläne für den nächsten Tag gemacht, kam eine Anweisung oder Verordnung, die alles wieder über den Haufen warf. Die Schule mutierte gleichsam wie das Virus. Sie tauchte jeden Tag in einer anderen Variante auf und hielt alle, die mit ihr zu tun hatten, durch Aufforderung zu permanentem Aktivismus in Atem. Unter Corona war die Schule genauso hyperaktiv wie die Schüler, denen manche Lehrer so gerne das ADHS-Syndrom anhängen.

Wenn man bedenkt, dass die Idee der modernen Schule mit Konstanz, Regelmäßigkeit und Vorhersagbarkeit zusammenhängt, dann war Corona ein spürbarer Bruch mit dieser Idee. Mit Corona ist der Zerfall einer gesellschaftlichen Institution sozusagen in Zeitlupe ins Werk gesetzt worden. Der ganze Rahmen, in dem die Schule als eine Lebensperspektive für die nachfolgende Generation organisiert wird und für dessen Aufbau und Unterhaltung die modernen Gesellschaften enorme Aufwände mobilisieren, ist nach und nach abgebaut worden: als sei das alte Bild der Schule überflüssig geworden und als könnte man das viele Geld zu ihrer Unterhaltung auch irgendwie anders verwenden.

(4) Parallel dazu geschah aber noch etwas anderes. Während das alte Bild der Schule an den Rand gedrängt wurde und nur noch ein Schattendasein fristete, hielt der Geist der Medizin Einzug in die Schule. Lehrer und Schüler liefen mit medizinischen Masken herum und fingen an, Tische, Türklinken und die eigenen Hände mit Desinfektionsmitteln zu bearbeiten. Die Kinder wurden kollektiv getestet, bevor der Unterricht überhaupt losgehen konnte. Kaum hatte der Unterricht begonnen, wurden auch schon zum ersten Mal die Fenster aufgerissen, weil man der Ansicht war, dass auf diese Weise alle ansteckenden Elemente, die sich noch im Raum befanden, endgültig vertrieben werden könnten.

Corona war immerhin eine Konstante, aber es war keine pädagogische Bezugsgröße. Es war kein Maßstab, der aus dem Kontext der Schule, aus dem Zusammenhang von Unterricht und Erziehung entwickelt wurde, sondern allein den Gesichtspunkten der Medizin und des Bevölkerungsschutzes entsprach. Die Schule wurde sozusagen zur Außenstelle der Gesundheitsämter umfunktioniert. Aus einer pädagogischen Anstalt wurde ein Betrieb, der mit seinen Putz- und Reinheitsidealen immer mehr an ein Krankenhaus erinnerte.

Für die Kinder hatte das zur Folge, dass alle spontanen Ausdrucksbewegungen unterdrückt werden mussten. Wer aufstand und sich den anderen näherte, wurde ebenso sanktioniert wie diejenigen, die keine Maske trugen oder durch einen positiven Test auffielen. Sport und Musik waren verboten, gemeinsame Ausflüge, Klassenfahrten oder Abi-Bälle fielen aus. Selbst wenn die Kinder nur noch auf ihrem Platz saßen und sich nicht mehr bewegten, fürchteten sich die Lehrer noch vor ihrem Atem, der angeblich voller Keime war.

Am Ende waren die Kinder nur noch auf der Oberfläche eines Bildschirms anwesend. Sie waren zusammengeschrumpft zu Avataren, die einen festen Platz in einer Liste am Rande des Computerbildschirm hatten. In dieser Anordnung waren sie zwar endlich hygienisch rein, geräusch- und geruchlos geworden, dafür hatten sie aber auch keinen Körper und keine Leidenschaften mehr. Die Schule war zu einer Einrichtung geworden, die ausschließlich nach den Maßstäben der Erwachsenen funktionierte und in der die Kinder als leibhaftige Wesen verschwunden waren.

(5) Wenn man erklären will, wie es dazu kommen konnte, dann muss man sich klarmachen, dass es auch schon vor Corona mit dem Ruf der Schule nicht zum Besten stand. Trotz der weitreichenden Reformen, die im Anschluss an Pisa und Bologna in Gang gesetzt worden waren, zeigten sich viele Gruppen in der Gesellschaft unzufrieden mit dem „Output“ der Schulen: zu viel Mittelmaß in der Spitze, zu wenig Differenzierung in der Mitte, zu wenig Abschlüsse und Perspektiven an den unteren Rändern des Systems.

Mit dieser Kritik werden aber nicht nur strukturelle Kennzeichen des Schulsystems, sondern immer auch allgemeine Verhältnisse in der Ordnung der Gesellschaft beschrieben. Im Hintergrund der Dauerklage über den Zustand der Schulen steht die Befürchtung vor allem der Mittelschicht, nicht mehr in ausreichender Weise von den Leistungen des Staates profitieren zu können. Gesellschaftliche Gruppen, die in der Vergangenheit auf der Grundlage ihrer eigenen schulischen und beruflichen Qualifikation mit auskömmlichen Stellen rechnen konnten, müssen inzwischen mit Recht befürchten, dass ihre Kinder später einmal große Schwierigkeiten haben werden, einen attraktiven Job oder bezahlbaren Wohnraum zu finden. Schule und Bildung sind längst keine Garantien mehr für gesellschaftlichen Aufstieg und Wohlstand, sondern genauso wie andere Segnungen des ehemaligen Wohlstandstaates zu einer unsicheren Perspektive geworden.

Man kann Corona in diesem Zusammenhang auch als eine Möglichkeit verstehen, die Verunsicherungen zu bannen, die durch die Umwälzungen im Zuge der Hyper-Globalisierung und der damit verbundenen Auflösung konstanter Lebensperspektiven ausgelöst wurden. Corona ist auch ein Versuch, an den Orientierungen der Mittelstandsgesellschaft festzuhalten und die Kräfte an den Rändern dieser Gesellschaft in die Schranken zu weisen. Corona sagt den Menschen nicht nur, dass die Menschen zu Hause bleiben sollen. Corona heißt auch: Jeder bleibt auf dem Platz, auf den er hingestellt wurde! Versuchen Sie nicht mehr zu erreichen, als Ihnen zusteht! Verbünden Sie sich nicht mit anderen, gründen Sie keine neuen Parteien oder Gewerkschaften, verlieren Sie sich nicht in der Kritik am Bestehenden! Es ist am besten, wenn alles so bleibt, wie es der Staat für Sie eingerichtet hat.

Zugespitzt könnte man auch sagen: Corona ist ein Coup der Mittelschicht, die sich durch die Dauerkrise einer neoliberalen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung in ihrer Existenz bedroht sieht, dabei aber nicht gewillt ist, auf ihre Privilegien und Herrschaftsansprüche zu verzichten.Wenn gerade die Parteien, die Kirchen, die Medien, die Lehrer, die Anwälte und Richter zu den größten Unterstützern der Corona-Maßnahmen gehören, dann heißt das auch: Unsere Werte, nämlich diejenigen der etablierten Mittelschicht, sind die richtigen. Taste diese Werte nicht an, denn wenn das geschieht, dann wissen wir wirklich nicht mehr, was kommen wird. Dann wird das Virus der Veränderung und der Verwandlung über uns hereinbrechen und anschließend nichts mehr so sein, wie es vorher war.

(6) Dass sich dieses Programm auch gegen die eigenen Kinder richtet, kann man als einen bedauerlichen Unfall ansehen, mit dem die Politfunktionäre nicht gerechnet haben und für den sie nun auch beflissen um Nachsicht bitten. Selbstverständlich kann man der bürgerlichen Mittelschicht nicht unterstellen, dass sie ihren eigenen Kindern die Zukunft rauben will. Am Beispiel der Schule kann man aber andererseits auch erkennen, dass diese Zukunft nur noch nach einem bestimmten Muster gestaltet werden soll. Es ist eine durch und durch vorgeplante und vorprogrammierte Kindheit, die hier entworfen wird und in der die spontanen, die unberechenbaren und die überraschenden Seiten der Kindheit keinen Platz mehr haben sollen.

Im Grunde geht es in diesem Programm auch darum, die veränderliche und verändernde Kraft der kindlichen Lebenswelten stillzulegen. Den Kindern wird nicht mehr die Möglichkeit gegeben, sich von dem Vorbild der älteren Generation zu distanzieren und sich auf die Suche nach neuen Lebensmöglichkeiten zu machen, sondern sie werden dazu gezwungen, sich ohne Abweichungen in ein bestehendes Weltbild einzufügen. Damit wird nicht nur die Beweglichkeit der kindlichen Lebensäußerungen eingefroren, sondern auch die Chance auf die Entwicklung einer anderen gesellschaftlichen Lebensperspektive vertan.

Aus dieser Perspektive betrachtet, ist die Sorge um mögliche psychische Beeinträchtigungen der Kinder eigentlich eine Verharmlosung der wirklichen Folgen. Corona war – und ist immer noch – eine Zeit, in der die liberale Gesellschaft vorsätzlich, in vollem Bewusstsein und unter Aufbietung aller verfügbaren Kräfte eine Beziehung mit dem autoritären Staates eingegangen ist. Das Schicksal der Schule ist dabei kein Unfall, sondern eine unausgesprochene Aufforderung zur Diffamierung der Kindheit und der damit verbundenen Entwicklungsansprüche. Die Schule unter Corona ist das Trainingslager für eine Erziehung, die ausschließlich in der Logik der Erwachsenen funktionieren soll und in der das Kind nur noch als bedrohlicher Fremdkörper, als ein Virus vorkommt.

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