Das Jahres-Fest

Das Jahres-Fest: Silvester im Wachkoma

(1) Mit deutlichen Worten hat sich der Ministerpräsident des Saarlandes, Tobias Hans, zum Thema Silvester geäußert. An Weihnachten hätten sich die Menschen „sehr zurückgenommen“, konzediert der Politiker. Es sei jedoch zu befürchten, dass „an Silvester gefeiert wird.“ Und mahnend setzt er hinzu: „Das muss dringend unterbunden werden.“

Auch demokratische Regierungen sind nicht unbedingt als Freunde des feiernden Volkes bekannt. Herumschweifende Massen sind schwer zu berechnen und zu kontrollieren. Man weiß nie, welche Dynamik sich in einer größeren Menschenansammlung entwickelt und wohin sich die Masse von dieser Dynamik treiben lässt. Feierndes Volk bewegt sich immer am Rande der Anarchie.

Nachdem die Preußen das Rheinland besetzt hatten, gehörte es zu ihren ersten Amtshandlungen, die Umtriebe des rheinischen Karnevals zu regulieren. In Köln setzten sie ein „festordnendes Komitee“ ein, das bis heute existiert und den Karneval immer noch so langweilig und humorlos organisiert, wie sich die Preußen das vor 200 Jahren vorgestellt hatten. „Das muss unterbunden werden“, scheint ein universales Motto aller Regierungskünste zu sein.

(2) Zumindest wenn es um Silvester geht, verstehen auch die Politiker, die heute in Berlin regieren, keinen Spaß. Im Angesicht des Virus darf den Massen verständlicherweise keine Ausnahme gegönnt werden. Spontane „Ansammlungen“ sind deshalb ebenso verboten wie von langer Hand eingefädelte oder geplante „Versammlungen.“ Statt dessen gilt weiterhin die Regel, dass sich maximal fünf Personen aus zwei unterschiedlichen Haushalten treffen dürfen. Zuwiderhandlungen sollen mit Ordnungsmaßnahmen und Bußgeldern geahndet werden.

Darüber hinaus sind der Ausschank und der Genuss von Alkohol in der Öffentlichkeit verboten. Zur Begründung heißt es, dass die Menschen unter dem Einfluss von Alkohol die mühsam eingerichteten Abstands- und Hygieneregeln möglicherweise ignorieren oder vergessen könnten. Alkoholisierte Massen sind noch unberechenbarer als jede andere Art von Menschenansammlung.

Natürlich ist auch das Zünden von Raketen und Böllern verboten. Der große, grelle Aufwand, mit dem traditionell das neue Jahr begrüßt und ganze Städte in helles Licht und ohrenbetäubenden Lärm getaucht werden, soll in diesem Jahr entfallen. Das alte Jahr soll in aller Stille beerdigt und das neue schweigsam, ruhig und unauffällig begrüßt werden.

(3) Die Verbote der Regierung beziehen sich in erster Linie auf das bunte Treiben, das üblicherweise wenige Stunden vor Mitternacht beginnt und spätestens in den Morgenstunden des Neujahrstags endet. Damit wird allerdings nur ein kleiner Aspekt aus einem viel umfassenderen Treiben thematisiert.

Ähnlich wie das Weihnachtsfest enthält auch der Jahreswechsel eine Chance auf Veränderung und Neu-Anfang. Wenn alle Tage im gleichen Trott abliefen, könnten wir seelisch nicht existieren. Wir brauchen die Hoffnung und das Versprechen auf eine Wendung unseres Alltags. Wir brauchen den Abschied von schlechten Gewohnheiten, die guten Vorsätze, die Hoffnung auf unvorhergesehene oder überraschende Begegnungen, aber auch die Beschwörungen eines günstigen Schicksals, das uns entgegenkommt.

All das wird an Silvester und an Neujahr in einem rauschhaften Wechsel gegensätzlicher Bilder aufgerufen und belebt. Der Jahreswechsel wird als ein Übergang inszeniert, in dem für einen kurzen Moment alles möglich scheint, im nächsten Moment aber auch schon alles wieder zu Ende ist. Im Hin und Her zwischen diesen gegensätzlichen Erfahrungen entfaltet sich das Erleben einer Jahres-Wende.

(4) Zum Übergang in das neue Jahr gehört deshalb nicht nur die ausgelassene Feier am Silvesterabend, sondern auch der Kater am Morgen danach. Es gehören dazu: das Hochsteigen der Raketen, die Farben, die am Himmel explodieren, die Blicke, die davon angezogen werden; aber es gehören auch dazu: die verbrannten Finger, das viele Geld, das man für die kurze Zeit des Vergnügens bezahlen muss sowie die Reste der Raketen, die auf die Köpfe der Passanten fallen oder am nächsten Tag zerfleddert und vom Regen durchnässt auf dem Asphalt liegen.

Vielleicht ist das Interessante am Jahreswechsel gar nicht so sehr die ausgelassene Party, sondern das Gefühl des Zusammensinkens am nächsten Tag. Der Kontrast zu den rauschenden Feiern ist jedenfalls sehr eindrucksvoll. Die Leichtigkeit, die das Sekttrinken, die Auffrischung alter Bekanntschaften oder das Knüpfen neuer Kontakte ausgelöst hatte, verschwindet auf einmal wie hinter einem dichten Nebel oder Schleier. Das neue Jahr beginnt so, als sollten Hoffnungen geweckt und gleichzeitig vorenthalten werden.

Vielleicht gehört zum Jahreswechsel auch das Gefühl, ein altes, verbrauchtes Jahr endlich hinter sich lassen zu können, andererseits aber auch der lange Zeitraum, der noch vor einem liegt. Der Januar ist „janusköpfig“ und hat zwei Gesichter: die Dunkelheit, die noch aus dem alten Jahr herüberragt und lange nicht weichen will; und die Hoffnung, dass es bald anders werden und sich im Verborgenen bereits neues Leben zu regen beginnt.

Aus psychologischer Sicht ist die Jahreswende ein tolles Bild für das, was man den Anfang oder den Ursprung des Lebens nennen könnte. Silvester und Neujahr bilden eine Einheit, in der im Grunde schon alles drin ist, was das neue Jahre bringen könnte: das Aufsteigen und Zusammenfallen; der zündende Funke und die Weltschöpfung, die daraus entstehen könnte; der Erfolg und das Scheitern der Gestalten, die in unser seelisches Leben ausmachen.

Am Jahreswechsel vergegenwärtigen wir uns in einer großartigen Inszenierung unseren eigenen Ursprung. Das ist vielleicht mehr als nur die Chance auf Neu-Anfang. Es ist ein phantastisches Bild für das Leben und das Leben-Können der Menschen.

(5) Und jetzt haben wir beschlossen, auf diese tolle Feier zu verzichten. Aus Rücksicht auf Gefahren, die überall lauern könnten, meiden wir Straßen und Plätze, die Ansammlung von Menschen, den Alkoholrausch und das Lichterfest am Himmel. Wir bleiben zu Hause und warten, bis der Jahreswechsel über uns hinweggegangen ist.

Man kann jetzt schon sagen, dass dieses Abwarten nicht ganz ungefährlich ist. Wenn wir uns von der Jahreswende nicht berühren lassen, dann verpassen wir nicht nur die Chance auf einen Neu-Anfang, sondern auch den Übergang, der uns die neuen Entwicklungen aufschließen, schmackhaft und erträglich machen könnte.

Ein Jahreswechsel ohne Feuerwerk und Partys ist eigentlich so, als wollten wir versuchen, aus dem Werden und Vergehen der Zeit auszusteigen. Es ist ein Leben in der Nicht-Zeit und entspricht vielleicht dem, was die Philosophen den Nicht-Ort nennen: den Aufenthalt in einem Wirkungsraum, in dem es keine Enttäuschung, aber auch keine Hoffnung mehr gibt. Ein Leben, das gleichsam nicht mehr über sich selbst hinausreichen kann.

An einem Nicht-Ort oder in einer Nicht-Zeit leben zu müssen, wäre eine Alptraum, aus dem niemand mehr erwachen könnte. Keine Regierung dieser Welt kann allen Ernstes daran glauben, dass sie den Menschen einen solchen Alptraum zumuten darf.

(6) Ausgerechnet die Kölner haben sich zum Jahresende noch einmal mit einem Vorschlag ins Gespräch gebracht, der in den übrigen Teilen der Republik für einiges Kopfschütteln gesorgt hat. Als Ersatz für das von amtlicher Seite untersagte Feuerwerk sollten die Einwohner zum Jahreswechsel für exakt fünf Minuten (!) das Wohnungslicht ein- und ausschalten und die Stadt am Rhein auf diese Weise in das „größte Lichtfeuerwerk der Welt“ verwandeln.

Die Mischung aus Größenwahn und Gleichgültigkeit, mit der die Kölner sich durch die Fährnisse des Lebens zu manövrieren versuchen, überrascht auch den Psychologen immer wieder. In diesem Fall ist es aber ratsam, ein wenig Nachsicht zu üben und darauf hinzuweisen, dass die Stadt Köln mit ihrem Vorschlag eine seelische Befindlichkeit getroffen hat, die der gegenwärtigen Lage der Bevölkerung doch in verschiedener Hinsicht sehr nahe kommt.

Gemeint ist hier die Lage von Patienten, die sich im Wachkoma befinden und denen in diesem Zustand keine andere Lebensäußerung zur Verfügung steht als das Auf- und Zuklappen der Augenlider. Nimmt man einmal versuchsweise an, das Ein- und Ausschalten der Zimmerbeleuchtung ließe sich mit dem Blinzeln solcher Patienten vergleichen, dann wäre damit der Zustand beschrieben, in den der bayerische Ministerpräsident das Volk schon vor Wochen versetzen wollte: nämlich in den Zustand eines kollektiven Tiefschlafs, aus dem nur noch gelegentlich ein Licht- oder Geistesblitz herausdringen kann.

 

Augé, Marc (1994): Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit. Frankfurt/ Main: Fischer.