Corona-Schule: Maßnahmen zum Social Distancing
(1) Corona bedeutet für die Schulen ohne Zweifel eine große Herausforderung. Wie alle anderen gesellschaftlichen Institutionen sehen sich auch die Schulen gezwungen, sehr weitreichende Maßnahmen zur Begrenzung der Krise einzuleiten. Da diese Maßnahmen zum großen Teil während des laufendem Schulbetriebs erfolgen müssen, hat die Situation Ähnlichkeit mit einem Eingriff am offenen Herzen.
In der Online-Ausgabe des SPIEGEL ist am 20.09.2020 ein Videobericht erschienen, der auf sehr anschauliche Weise deutlich macht, wie weit die Maßnahmen inzwischen den Alltag in der Schule verändert haben. Der Bericht beginnt mit Aufnahmen, die den Eingangsbereich der Schule zeigen und offenbar mit einer Drohne aufgezeichnet wurden. Aus der Vogelperspektive ist zu sehen, dass der Schulhof in verschiedene Zonen aufgeteilt ist, die jeweils mit Ziffern versehen sind und daher eine gewisse Ähnlichkeit mit den Laufbahnen in einem Leichtathletikstadion haben.
Der eingespielte Kommentar klärt den Zuschauer darüber auf, dass die Zonen für einzelne Schüler-Kohorten vorgesehen sind, in denen sich die Schüler während ihres Aufenthaltes in der Schule ausschließlich bewegen dürfen. Die Zonen regulieren also bereits den Zugang zum Schulgebäude und sollen verhindern, dass sich die Schülerinnen und Schüler auf dem Wege zu den Klassenräumen beliebig vermischen. Man versucht Wege und Kontaktmöglichkeiten einzugrenzen, um ein Überspringen des Erregers von einer Kohorte auf die andere zu verhindern.
(2) Die nächste Einstellung zeigt, wie dieses Prinzip im Innern der Schule fortgesetzt wird. Am Eingang zum Klassenraum hält ein Sozialarbeiter die ankommenden Schülerinnen zurück und lässt sie immer nur paarweise und in gebührendem Abstand voneinander eintreten. Während er die ersten Schülerinnen hereinbittet und ihre Klassenkameraden zum Zurückbleiben auffordert, macht er für alle deutlich sichtbare Handzeichen. Sie ähneln ein wenig den Bewegungen, die das Flughafenpersonal beim Einweisen großer Düsenjets auf ihre finale Parkposition macht.
In der Schulklasse dürfen sich die Schülerinnen und Schüler allerdings nicht ohne weiteres auf ihre Sitzplätze begeben, sondern müssen sich zunächst einer aufwendigen Reinigungsprozedur unterziehen. Die Kamera zeigt eine Schülerin, wie sie vor einem Waschbecken steht und sich unter fließendem Wasser gründlich die Hände wäscht – ähnlich, wie man es von Ärzten kennt, die sich vor einem operativen Eingriff die Hände desinfizieren. Erst danach dürfen sie an ihren Platz gehen und erst danach darf die nächste Zweiergruppe den Klassenraum betreten.
In einer weiteren Einstellung wird eine Gruppe von Schülern gezeigt, die sich in der Mensa zum Mittagessen versammelt hat. Wir erfahren, dass auch der Mensabetrieb selbstverständlich im Schichtbetrieb durchgeführt wird und immer nur die Mitglieder einer bestimmten Kohorte zusammenkommen dürfen. Die Schülerinnen und Schüler sitzen an Einzeltischen und in großem Abstand von ihren benachbarten Mitschülern und müssen ihr Essen gleichsam in vollständiger Isolation zu sich nehmen.
Wir sehen allerdings auch, dass die Schüler sich über weite Abstände hinweg zu unterhalten versuchen. Damit sie die räumliche Distanz überwinden können, sprechen sie lauter als sonst üblich, so dass auch in der relativ kleinen Gruppe ein erheblicher Lärmpegel herrscht.
(3) Das Stichwort für die Maßnahmen zur Bekämpfung der Infektionsgefahr lautet „social distancing“. Um eine unkontrollierte Ausbreitung des Virus zu verhindern, soll ein spontaner und ungeregelter Kontakt zwischen den Individuen möglichst eingeschränkt werden. Die Schülerinnen und Schüler werden in feststehende Gruppen eingeteilt, die sich nicht mischen dürfen; es werden Zugangswege und Bewegungsrichtungen vorgeschrieben; es werden Schüler voneinander getrennt oder auf Abstand gehalten.
Ein besonderes Augenmerk wird dabei offensichtlich auf Situationen gelegt, für die im bisherigen Schulbetrieb noch nicht so strenge Regeln galten wie beispielsweise im Unterricht. Im Zuge der Corona-Krise werden auch die Ankunft im Schulhaus oder vor dem Klassenraum, der Aufenthalt in Gängen und Fluren, die Begegnungen während der Pausen reguliert. Ein freies Herumlaufen wie in der Vergangenheit ist in den meisten Schule nicht mehr möglich. Überall deuten Richtungspfeile, Flatterbänder und Abstandsmarkierungen an, dass der zugewiesene Platz und die damit verbundenen Wege und Abstände unbedingt eingehalten werden müssen.
Das Ausleuchten der Grauzonen und der „dunklen Ecken“ macht derzeit offenbar die Hauptarbeit in der Organisation der Schule aus. Es scheint inzwischen so etwas wie einen informellen, von den Behörden aufmerksam beobachteten „Wettbewerb“ zwischen den Schulen zu geben, der darin besteht, immer neue Techniken zur Definition des schulischen Raumes zu entwickeln: Techniken der Absonderung, der Isolierung, der Festlegung von Aufenthaltsorten, der Verhinderung spontaner Begegnungen, der Vermeidung unkontrollierter Anhäufungen usw.
In vielen Fällen gehen die Schulen dabei deutlich über das hinaus, was von den Gesundheitsämtern oder den Schulbehörden gefordert wird. Die Schulen scheinen das Plansoll gleichsam überzuerfüllen und unter dem Zwang zu stehen, den Bewegungsraum der Schule bis in den letzten Winkel hinein definieren zu wollen. Es gibt einen Perfektionsanspruch, der darauf hinausläuft, alle Eventualitäten möglichst schon im Vorfeld zu bestimmen und ein unkontrolliertes Herumschweifen oder „Vagabundieren“ der Schüler im Keim zu ersticken.
(4) M. Foucault (1975) hat darauf hingewiesen, dass Techniken des Trennens und Isolierens, des Aufteilens und Verteilens, des Parzellierens und Absonderns zu den zentralen Mechanismen gesellschaftlicher Disziplinaranstalten gehört. Nach seiner Ansicht sind Institutionen wie Krankenhäuser, Kasernen, Fabriken oder Gefängnisse in erster Linie dadurch gekennzeichnet, dass sie die spontane Beweglichkeit einer großen Anzahl von Menschen einzugrenzen und zu kanalisieren versuchen. Durch bestimmte Anordnungen des Raumes und der Zeit werden Grenzen aufgerichtet, die ungeregelte oder unvorhergesehene Kontakte zwischen den Individuen unmöglich machen.
Foucault hat auch die Schule zu den großen Disziplinaranstalten der modernen Gesellschaft gezählt. Auch die Schule versucht eine „umherschweifende Masse“ festzusetzen“ und den einzelnen Individuen genau definierte Aufenthalte und Funktionen zuzuweisen. Die zellenförmige Anordnung der Klassenräume, die Aufteilung der Schüler in Jahrgänge oder „Kohorten“, aber auch das Einüben vorgeschriebener Abläufe und Routinen ähnelt den Vorgängen, die sich auch bei der ärztlichen Visite, der Ausbildung von Rekruten oder der Arbeit am Fließband beobachten lassen.
Dabei verkennt Foucault nicht, dass zwischen den einzelnen Institutionen große Unterschiede bestehen. Die Schule lässt sich zwar durchaus als eine Abwandlung der Disziplinaranstalten begreifen, aber sie hat in der Vergangenheit doch immer wieder genügend Spielräume für pädagogische Entwicklungskonzepte gelassen. Anders als das Krankenhaus und das Gefängnis ist sie auch keine totale Institution geworden, sondern hat ihren Mitgliedern die Möglichkeit erlaubt, neben der Schule noch andere Dinge zu verfolgen.
Trotz dieser Einschränkungen ließe sich mit Foucaults Ansatz erklären, warum die Schulen so bereitwillig Anordnungen übernehmen, die ja eigentlich von einer fachfremden Institution, nämlich vom Gesundheitssystem, erlassen werden und in starkem Gegensatz zum eigenen pädagogischen Selbstverständnis stehen. Aus der Perspektive Foucaults betrachtet, würde sich dieser Widerspruch gar nicht einstellen, denn beide Institutionen sind sich sehr ähnlich. Die Corona-Krise würde der Schule sozusagen die Möglichkeit geben, die Strukturähnlichkeit mit anderen Disziplinaranstalten und damit ihren Ursprung aus einem gesellschaftlichen System zu entdecken, das vor gut zweihundert Jahren im Zusammenhang mit der Aufklärung und der französischen Revolution entstanden ist.
Andererseits kann man mit Foucault aber auch annehmen, dass das Medizinsystem im Zuge der Corona-Krise eine bedeutende gesellschaftliche Führungsrolle übernommen hat. In der Vergangenheit waren politische, administrative, militärische, schulische oder therapeutische Räume der Gesellschaft deutlich voneinander getrennt. Seit dem Beginn der Corona-Krise müssen sich sämtliche gesellschaftlichen Institutionen dem „Quarantäne-Regime“ (J. Spahn) des Gesundheitssystems unterwerfen. Das Krankenhaus ist zum neuen Leitbild einer Gesellschaft geworden, die dabei ist, ihre kulturellen Errungenschaften dem Gott der Gesundheit zu opfern.
(5) Der Videobericht im SPIEGEL lässt bereits jetzt erkennen, welche Konsequenzen eine Umstellung auf das neue Leitbild der Medizin haben könnte. Als problematisch muss hier nicht nur die ununterbrochene Gängelei der Kleinsten oder das Wideraufleben längst für überwunden geglaubter Tugenden – wie das Aufstellen in Zweierreihen – erscheinen. Wirklich erschreckend ist vor allem die weitreichende Unterdrückung der menschlichen Kommunikation, die dieses Leitbild zur Folge hat.
So zeigt der Videobeitrag an einer Stelle die Situation im Klassenzimmer, nachdem alle Schülerinnen und Schüler ordentlich gewaschen und gekämmt an ihren Plätzen sitzen: völlig vereinzelt, schweigend über ihre Hefte oder Bücher gebeugt und ohne jede Möglichkeit, mit einem anderen Menschen in Kontakt zu kommen. Das Schweigen der Schülerinnen und Schüler ist bedrückend. Es wirkt so, als wäre alle Lebendigkeit aus ihren Körpern gewichen und als hätten sie sich in ferngesteuerte Roboter verwandelt.
Demgegenüber zeigt die Szene in der Schulmensa, dass nur eine sehr kleine Abweichung hinzukommen muss, um diese Situation in ein großes Durcheinander zu verwandeln: Wenn einem bei einer Vergrößerung der räumlichen Distanz gestattet wird, miteinander zu sprechen, muss man notgedrungen die Stimme erheben. Die Folge ist ein Anwachsen der Lautstärke, bei dem man am Ende überhaupt nichts mehr versteht.
Möglicherweise ist mit diesen beiden Zuständen die künftige Gestalt der Schule beschrieben. Sie wird einerseits bestimmt werden durch eine möglichst vollständige Eindämmung menschlicher Beziehungen und dabei auf Unterrichtsformen hinauslaufen, die im Grunde auch durch die Arbeit am Computer oder die bereits in Gang gebrachten Online-Versionen des Unterrichtens ersetzt werden können.
Daneben wird es immer wieder zu Ausbrüchen einer ungeregelten und ungesteuerten Kommunikation kommen, die aber unverständlich und sinnlos bleiben muss, weil sie sich nicht auf ein gemeinsames Bild des Zusammenlebens oder Arbeitens beziehen kann. Jeder sagt nur das, was ihm gerade durch den Kopf geht und lässt sich nicht mehr beeindrucken von dem, was sein Gegenüber oder die Situation im Ganzen verlangen.
Das neue Bild der Schule wird sich zwischen totalem Schweigen und unverständlichem Gestammel abspielen. Die Schule wird in fataler Weise an die Verhältnisse in einer psychiatrischen Anstalt erinnern.
Foucault, Michel (1975). Überwachen und Strafen. (Deutsche Ausgabe). Frankfurt/ Main (1977): Suhrkamp.
Großekathöfer, Birgit; Pieper, Fabian (2020): Corona-Wirrwarr an Schulen. Waschbecken gibt es keine, Stoßlüften unmöglich. In: DER SPIEGEL, 20.09.2020, https://www.spiegel.de/panorama/corona-massnahmen-an-schulen-fehlende-waschbecken-stosslueften-unmoeglich-a-6d0c25c6-6212-4200-84d9-38c2ca3c6fa4
Welt, 26.8.2020: Staatliche Anordnung. Spahn kündigt „verstärktes Quarantäne-Regime“ an. Verfügbar unter: https://www.welt.de/politik/deutschland/article214346690/Jens-Spahn-kuendigt-verstaerktes-Quarantaene-Regime-an.html