Maskenpflicht

Maskenpflicht: Über die soziale Bedeutung des Gesichts

(1) In NRW ist ähnlich wie in anderen Bundesländern zu Beginn des neuen Schuljahres die Maskenpflicht ausgeweitet worden. Schülerinnen und Schüler aller Jahrgangsstufen sind ab sofort verpflichtet, auch während des Unterrichts Masken zu tragen. Dasselbe gilt für die Lehrkräfte, die ebenfalls nicht mehr ohne Mund- und Nasenschutz vor die Klasse treten dürfen.

In der ersten Schulwoche nach den Ferien wurde das Einhalten der Maskenpflicht wegen der sommerlichen Hitzewelle für alle Beteiligten zu einer enormen Herausforderung. Darüber hinaus berichten Lehrkräfte aber auch davon, dass es ihnen unter den neuen Bedingungen sehr schwerfällt, die Gesichter ihrer Schüler zu unterscheiden und die passenden Namen zuzuordnen. Besondere Probleme gibt es bei den Fünftklässlern sowie in den Jahrgangsstufen, in denen die Klassen wegen der Einführung des Kurssystems neu gemischt werden.

(2) Psychologen wissen, wie zentral die Bedeutung des Gesichts für die menschliche Kommunikation ist. Sehr bekannt geworden sind beispielsweise die Befunde von R. A. Spitz (1996), der nachweisen konnte, dass Neugeborene bereits im dritten Lebensmonat auf das Gesicht der Mutter mit einem Lächeln reagieren und sich dabei vor allem an den Achsen von Augen, Mund und Nase orientieren. Spitz nahm an, dass der Säugling anhand des bewegten Gesichts der Mutter eine erste grundlegende Unterscheidung zwischen belebten und unbelebten Objekten ausbildet – was nach seiner Ansicht eine lebenserhaltende Fähigkeit darstellt.

Natürlich haben Lehrkräfte in ihrem Unterricht nicht mehr mit Säuglingen zu tun. Trotzdem spielen auch hier Vorgänge des Erkennens und Unterscheidens eine wichtige Rolle. Schülerinnen und Schüler wollen wissen, wen sie vor sich haben, wie die Worte des Lehrers oder der Lehrerin gemeint sind, ob darin vielleicht Bedeutungen enthalten sind, die über das Gesagte hinausgehen. Wenn das Gesicht durch eine Maske verdeckt wird, dann sind die Anhaltspunkte zur Einschätzung von Mimik und Ausdruck sehr stark eingeschränkt. Man hat Schwierigkeiten, das Verhaltens des Gegenübers richtig zu deuten und sich selbst entsprechend darauf einzustellen.

Umgekehrt brauchen aber auch die Lehrkräfte eine Vorstellung davon, wen sie eigentlich vor sich haben. Sie wollen wissen, wo diejenigen sitzen, die den Unterricht voranbringen, die ihn aufhalten oder stören oder die nicht richtig mitkommen. Erst wenn sich die Lehrkräfte ein einigermaßen verlässliches Bild von der Klasse gemacht haben, gewinnen sie einen Standpunkt, von dem aus sie handeln und entscheiden können. Fehlt ihnen ein solches Bild, dann sind sie im Grunde handlungsunfähig.

(3) Früher hat man davon gesprochen, dass ein guter Lehrer seine Klasse „im Blick“ haben muss. Der Blick des Lehrers kann ein fordernder, tadelnder oder strafender Blick sein, aber oft ist es auch ein aufmunternder, bestätigender oder klärender Blick. Der Blick des Lehrers kann seinen Schülern anzeigen: Ich trage Verantwortung für eure Entwicklung; ich kümmere mich; ich lasse euch nicht fallen.

Wie soll ein solcher Blick eingerichtet werden, wenn Schüler und Lehrkräfte dazu verpflichtet werden, Gesichtsmasken zu tragen? Wenn die Gesichter durch eine Maske verdeckt sind, dann sind nicht nur Missverständnisse in der Kommunikation vorprogrammiert, sondern dann ist auch damit zu rechnen, dass langfristig jede Form von menschlicher Kommunikation erstirbt. Wie R. Spitz in seinen Untersuchungen auf eindrucksvolle Weise zeigen konnte, werden die Ausdrucksbewegungen „maskenhaft“, es kommt zum Abbruch jeder Form von Beziehung und letztlich zum Entwicklungsstillstand.

Im Gegensatz zum Schulministerium in NRW hat der Hamburger Schulsenator Ties Rabe entschieden, dass es im Schulunterricht seines Bundeslandes keine Masken geben wird. Er hat diesen Beschluss damit begründet, dass es für den Unterricht von größter Bedeutung sei, „dem anderen wirklich in die Augen zu gucken, die Mimik wahrzunehmen, sich sicher zu verständigen“ (FAZ vom 03.08.2020). Für seine Aussage und die daran geknüpfte Entscheidung müsste dem Senator eigentlich eine Auszeichnung der deutschen Lehrerverbände überreicht werden.

Spitz, René Arpad (1996): Vom Säugling zum Kleinkind. Naturgeschichte der Mutter-Kind-Beziehungen im ersten Lebensjahr. Stuttgart: Klett-Cotta.

Frankfurter Allgemeine Zeitung (2020): Maskenpflicht an Schulen in Hamburg. In: FAZ vom 03.08.2020. Verfügbar unter: https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/maskenpflicht-an-schulen-in-hamburg-16887899.html [03.08.2020]

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