Lehrkräfte mit Masken

Lehrkräfte mit Masken: Über Formwahrnehmung im Unterricht

(1) Deutschunterricht in der Oberstufe eines Gymnasiums. Es ist die zweite Woche nach dem Beginn des neuen Schuljahres. Die Klasse behandelt einen Sachtext zum Thema Spracherwerb, in dem die verschiedenen Theorien zur kindlichen Sprachentwicklung vorgestellt werden: die Konzepte der Behavioristen, Kognitivsten, Strukturalisten usw.

Obwohl es noch fast zwei Schuljahre bis zum Abitur dauern wird, hängt die Aussicht auf das Ende der Schulzeit als Ansporn, aber auch als verhaltene Drohung über dem Unterricht. Die Klasse wirkt fahrig und gleichzeitig wie gelähmt. Die sommerliche Hitze macht konzentriertes Arbeiten fast unmöglich. Es wird wenig gesprochen, dafür aber umso mehr getrunken. Wegen der Maskenpflicht müssen die Schüler jedes Mal die Maske anheben, bevor sie die Trinkflasche ansetzen.

Ungefähr in der Mitte der Stunde hat der Lehrer den Eindruck, dass ihm nur noch wenige Schüler folgen können Er hat eine Wasserflasche auf den Schreibtisch gestellt, bisher aber noch nicht davon getrunken. Jetzt unterbricht er seinen Vortrag, hebt die Maske an und nimmt einen kurzen Schluck aus der Flasche.

In diesem Moment geht ein Raunen durch die Klasse. Es ist, als würden die Schüler den Atem anhalten. Diejenigen, die sich vor Müdigkeit halb über die Tischplatte gelegt haben, werden von ihren Nachbarn angestoßen und mit einer Kopfbewegung aufgefordert, nach vorn zu blicken. Als sie der Aufforderung nachgehen, machen sie ebenfalls große Augen.

Der Lehrer, der neu an der Schule ist und erst seit Beginn des Schuljahres in der Klasse unterrichtet, tut so, als sei nichts passiert. Er merkt jedoch, dass sich die Situation nach dem Ereignis deutlich verändert hat. Die Schülerinnen und Schüler wirken wie verwandelt. Auf einmal machen alle mit, produzieren Einfälle und Beiträge zum Thema. Am Ende wird die Stunde richtig rund.

Die glückliche Wendung ermutigt den Lehrer, sich nach der Ursache für das Erstaunen der Schüler zu erkundigen. Diese drucksen ein wenig herum, aber weil er nicht nachgibt, bekennen sie, dass sie sich sein Gesicht ganz anders vorgestellt hätten. Sie hätten ihn für jünger gehalten, vielleicht wie Anfang 20. Nachdem sie ihn mit Bart gesehen hätten, würden sie ihn auf 40 schätzen.

In Wirklichkeit ist der Lehrer Anfang dreißig. Als er uns die Geschichte erzählt, überlegt er, dass zur Einschätzung der Schüler vielleicht seine jugendliche Sprache beigetragen hat. Er hätte manche Ausdrücke benutzt, die ältere Erwachsenen normalerweise nicht verwenden. Vielleicht hätten die Schüler in ihm bloß einen Aushilfs- oder Nachhilfelehrer gesehen. So richtig scheint er an diese Erklärung aber nicht zu glauben.

(2) Eine Maske, die nur eine Hälfte des Gesichts freigibt, bewirkt eine erhebliche Veränderung der Physiognomie. Von weitem sehen manche Gesichter aus, als wären sie durch eine schreckliche Krankheit entstellt worden. Es ist nicht nur ein Detail, das verrutscht ist oder fehlt, etwa ein falsch gezogener Wimpernstrich oder eine schlecht verheilte Narbe. Wenn eine Hälfte des Gesichts fehlt, dann verwandelt sich das ganze Erscheinungsbild eines Menschen.

Möglicherweise liegt hier ein Grund dafür, warum viele Menschen versuchen, ihre Masken so zu verändern, dass die leere Stelle irgendwie ausgefüllt wird. Die Minister tragen Masken in den Landesfarben, normale Menschen malen sie schwarz oder rot an oder tragen Masken mit lachenden Lippen oder gefletschten Zähnen. Wie in dem Kinderspiel, in dem man die untere Hälfte einer Figur nach einem bestimmten Muster verschieben oder ergänzen kann, machen sich die Menschen zum Ungeheuer, zur femme fatale oder zum langweiligen Beamten.

Die Schülerinnen und Schüler im Deutschunterricht verhalten sich eigentlich ganz ähnlich. Sie verpassen dem neuen Lehrer eine Ergänzung für die zweite Hälfte seines Gesichts, das sie bis dahin noch nicht kennengelenrt haben. Dabei greifen sie zu dem Muster, das ihnen am nächsten liegt: Sie machen aus dem großen Unbekannten eine Figur, die ihrer eigenen Altersgruppe oder Clique entspricht. In dem Moment, in dem er die Maske hochschiebt und ein bärtiges Gesicht erscheint, erkennen sie ihren Irrtum und erschrecken ebenso über die wirkliche Erscheinung des Lehrers wie über die Phantasien und Projektionen, die sie mit dieser Erscheinung verbunden haben.

Die Psychoanalyse hat gezeigt, dass solche Zuschreibungen in Schule und Unterricht eine sehr große Rolle spielen. Kinder und Jugendliche können die distanzierte und formale Rolle des Lehrers zunächst nicht von den Beziehungen zu seiner Person trennen. Sie bauen diese Rolle vielmehr in die Muster ein, die sie aus Familie oder Freundeskreis kennen und machen sich sein Verhalten nach diesem Vorbild zurecht (vgl. Freud 1914). Erst allmählich schält sich daraus das Bild der amtlich bestellten Lehrkraft heraus, der sie Rechenschaft schuldig sind, die befugt ist, Prüfungen abzunehmen und ihre Leistungen zu beurteilen.

Neue oder junge Lehrkräfte sind besonders anfällig für solche Vereinnahmungen. Weil sie selbst unsicher sind, wie ihre Rolle vor der Klasse auszusehen hat, haben sie häufig auch selbst den Wunsch, den Erwartungen ihrer Schüler entgegenzukommen. Die eigene Angst vor Auseinandersetzungen oder entschiedenen Festlegungen ergänzt sich mit dem Wunsch der Schüler, den formalisierten Anforderungen der Unterrichtssituation auszuweichen. Beide Seiten finden sich zu einer Art Symbiose zusammen, in der der Abstand zwischen Lehrern und Schülern so weit verringert wird, dass Unterschiede kaum noch erkennbar sind.

(3) Wenn man die Unterrichtssituation genauer betrachtet, ergibt sich allerdings noch eine andere Erklärung. Der Text, mit dem die Schüler arbeiten, ist sehr anspruchsvoll. Er hat die verschiedenen Ansätze zur Erklärung des Spracherwerbs zum Inhalt und versucht Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen diesen Ansätzen herauszuarbeiten. Man muss sehr viel Hintergrundwissen mitbringen, um einigermaßen zu verstehen, worauf der Text hinaus will.

Leider werden in dem Text nicht nur sehr viele Fachbegriffe verwendet, die den Schülern noch unbekannt sind, sondern es werden auch zahlreiche Begriffe unscharf und unpräzise gebraucht, etwa wenn die unterschiedliche Bedeutung von „Imitation“ und „Verstärkung“ ignoriert wird. Hinzu kommt, dass es sich bei dem Text lediglich um die Zusammenfassung eines Aufsatzes handelt, die selbst wieder nur in geraffter Form vorliegt: Ungefähr in jedem zweiten Abschnitt des gerade einmal einseitigen Textes ist eine Lücke gelassen.

Auch als Außenstehender, dem die Texte vorgelegt werden, hat man Mühe, dem Ganzen einen Sinn abzugewinnen. Was im Germanistikstudium ein ganzes Semester beanspruchen würde, das wird in der Unterrichtsreihe offenbar in wenigen Stunden abgehandelt. Beim Lesen bleibt man hängen, man verliert den Faden, plötzlich ist der Text wie abgeschnitten: Fast wie bei dem maskierten Corona-Gesicht fehlt mehr als die Hälfte der Figur. Es ergibt sich nirgendwo eine fassbare Gestalt.

Seit der Einführung der Kompetenzdidaktik spielen solche extrem gerafften Sachtexte eine große Rolle im Schulunterricht. Man kann fast annehmen, dass der isolierende, trennende und sinnentstellende Aufbau dieser Texte zum heimlichen Lehrplan der PISA-Schule geworden ist: Anscheinend sollen die Schüler davon abgehalten werden, sich über längere Zeit in einen einzelnen Text zu vertiefen und statt dessen lernen, die Aufgabe aus möglichst wenigen Anhaltspunkten selbständig zu rekonstruieren und zu beantworten. Der zeitgenössische Unterricht bereitet auf ein oberflächliches Abarbeiten von Aufgaben in der Logik des „flexiblen Menschen“ vor (Sennett 1998).

Wir wissen aber auch, dass der Unterricht normalerweise nicht so funktioniert, wie die PISA-Konstrukteure sich dies vorstellen. Die fehlende Sinn-Hälfte der Texte wird nämlich von den Lehrkräften im Unterricht ergänzt. Sie erläutern, legen aus, bringen Beispiele und Verweise und füllen auf diese Weise die Lücken aus, die der Text offen lässt. Nur so kann ein Sachtext im Unterricht wirken, nur so kommt ein lebendiger Unterricht zustande: weil die Lehrer dafür einstehen, dass unvollständige Entwicklungsfiguren „ganz“ gemacht werden.

(4) An unserem Beispiel lässt sich nun zeigen, dass die ganzmachende Funktion des Lehrers unter bestimmten Bedingungen außer Kraft gesetzt wird. Wenn die Schüler nicht wissen, wer sich hinter der Maske verbirgt, dann kann sich die ausgleichende und vermittelnde Funktion des Lehrers nicht entfalten. Den Schülerinnen und Schülern fehlen ganz einfach wichtige Anhaltspunkte, die ihnen dabei behilflich sein könnten, den Weg durch den Text zu finden. Der Text ergänzt sich nicht mehr zu einer prägnanten Gestalt, die man verstehen und weiterentwickeln kann.

Das Anheben der Maske wirkt demgegenüber wie eine Erlösung. Fast so wie im Märchen, wo der Bär die falsche Haut abwirft und auf einmal als strahlender Prinz dasteht, so wird auch im Unterricht eine Entwicklungsperspektive sichtbar, die aus einem ganz und gar verhexten Zustand heraus helfen und das Gemenge aus Halbwissen, vagen Ahnungen und Befürchtungen mit einem Schlag beenden könnte. Der Anblick des Lehrers ist wie eine Gewähr dafür, dass die eigene Entwicklung nicht stillstehen oder scheitern wird.

Wir können annehmen, dass solche Verhältnisse in jeder Unterrichtsstunde wirksam werden. Der Unterricht braucht den Lehrer, weil er die offenen Stellen im Verstehen ergänzen muss; weil er Brücken bauen muss von dem, was schon da, ist zu dem, was noch kommen soll; weil er Hoffnung machen muss, dass dieser Weg trotz aller Anstrengung und Schwierigkeiten zu schaffen ist; weil er die Verantwortung dafür übernehmen muss, dass unterwegs niemand zu weit vom Wege abkommt usw.

Offenbar kann das alles aber nur dann funktionieren, wenn der Lehrer selbst Gesicht zeigt und als vollständige, d.h. als nicht lückenhafte oder beschädigte Gestalt auftritt: Es muss z.B. erkennbar sein, dass er nicht nur ein Kopfmensch ist, sondern ab und zu das Bedürfnis verspürt zu trinken; er darf auch nicht wie mancher Minister als zahnloser Tiger auftreten, dem man sein lautes Gebrüll nicht abkauft; und er darf schließlich nicht den Anschein erwecken, dass er seine wirklichen Absichten hinter einer Maske zu verbergen versucht.

Der Lehrer ist der Garant einer vollständigen Entwicklung, aber dies ist er nur unter der Voraussetzung, dass er auch vollständig in Erscheinung tritt.

Wenn diese Beobachtungen stimmen, dann bringt die Maskenpflicht im Unterricht umgekehrt eine nicht zu unterschätzende Beeinträchtigung der Professionalität des Lehrers mit sich. Die Maske verwischt die Rolle der Lehrer und die der Schüler. Sie gleicht beide Seiten aneinander an und beseitigt damit auch die Chance, aus einer erlebten Rollendifferenz heraus inhaltliche Unterschiede zu fixieren oder zu verstehen.

Freud, Sigmund (1914): Zur Psychologie des Gymnasiasten. Gesammelte Werke, Bd. 10, S. 204-207.

Sennett, Richard (1998): Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. Berlin: Berlin-Verlag.

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