Corona-Ängste

Corona-Ängste: Kinder als Ansteckungsgefahr

(1) In den vergangenen Wochen haben sich Kinderärzte in verschiedenen Bundesländern mit offenen Briefen an die zuständigen Landesministerien gewandt. In den Briefen teilen sie ihre Beobachtung mit, dass in ihren Praxen vermehrt Kinder und Jugendliche erscheinen, die über psychisch bedingte Störungen klagen: allgemeine Nervosität und Reizbarkeit, Schlaflosigkeit, Zwangsstörungen, Schulängste.

Die Kinderärzte bringen diese Symptome damit zusammen, dass ihre jungen Patienten im Zuge der Corona-Krise, vor allem aber auch durch die in den Schulen angeordnete Regelungen zum Infektionsschutz in hohem Maße überfordert werden. Nach ihrer Ansicht führen diese Regelungen dazu, dass vor allem jüngere Kinder mit Situationen konfrontiert werden, die sie aus eigener Kraft nicht angemessen verarbeiten können.

In ernster Sorge um die körperliche und psychische Entwicklung von Kindern und Jugendlichen fordern die Kinderärzte eine Überprüfung der bisher getroffenen Maßnahmen zum Infektionsschutz in Schulen. Dazu gehört nach ihrer Ansicht die sofortige Aufhebung der Maskenpflicht im Schulunterricht, aber vor allem auch ein stärkerer Abgleich aller Maßnahmen mit den Voraussetzungen und Bedingungen der kindlichen Entwicklung.

(2) Schon während des Lockdowns haben Institutionen wie der Deutsche Kinderschutzbund auf die schwierige Situation aufmerksam gemacht, in der sich Familien mit Kindern befinden. Auch von den Betroffenen selbst wurden Berichte veröffentlicht, in denen die Belastungen beschrieben wurden, die durch Ausgangssperren, Kontaktverbote oder beengte Wohnverhältnisse entstanden waren. Die Statistik scheint zu belegen, dass familiäre Gewalt und körperliche Misshandlungen zugenommen haben.

Nach dem Ende der Ferien hatte man sich eigentlich eine Entspannung der Situation erhofft. Die Rückkehr zum Regelbetrieb der Schulen sollte sowohl den Familien ein Stück weit Normalität zurückgeben als auch die Perspektive auf schulische Bildung und Entwicklung sicherstellen. Für einen kurzen Moment wurde sichtbar, welche Bedeutung die Schule im Alltag der Familien spielt und wie sehr diese darauf angewiesen sind, die Erziehung ihrer Kinder durch die Angebote einer gesellschaftlichen Institution zu ergänzen.

Wenige Wochen nach Schulbeginn zeigt sich jedoch, dass sich die Hoffnungen, die an den Neustart der Schule geknüpft waren, nicht erfüllt haben. Zwar kann man der Verwaltung nicht vorwerfen, dass sie sich keine Gedanken zur Wiederaufnahme des Schulbetriebs unter Corona-Bedingungen gemacht hat. Die entsprechenden Regelungen lassen allerdings Umsicht und Augenmaß vermissen. Die Schulen leiden darunter, dass sich viele Vorkehrungen zur Eindämmung der Ansteckungsgefahr in der Praxis als unbrauchbar erweisen und deshalb wieder zurückgenommen oder neu formuliert werden müssen.

In den Schulen führt das dazu, dass Schulleitungen und Lehrkräfte mit immer neuen Vorschriften und Direktiven überschüttet werden. Die Organisation des Schulbetriebs ist zu einer Dauerbaustelle geworden. Fast pausenlos gehen E-Mails oder Nachrichten über WhatsApp ein, die den neusten Stand der Planungen verkünden und sehr häufig Beschlüsse zur Makulatur erklären, die man erst wenige Stunden zuvor in der Lehrerkonferenz beschlossen oder mit der Elternschaft diskutiert hatte. Das allgemeine Durcheinander lässt erkennen, wie wenig man darauf vorbereitet war, eine gesellschaftliche Großorganisation wie die Schule innerhalb kürzester Zeit mit einem neuen „Betriebssystem“ für den Alltag unter Corona-Bedingungen auszustatten.

(3) All das wäre vielleicht noch auszuhalten, wenn im Hintergrund nicht die Furcht vor Ansteckung und Infektion stünde. Die Schulen gelten als potentielle Hotspots für die Verbreitung des Virus. Eltern befürchten, zu Quarantänemaßnahmen verpflichtet zur werden, wenn in der Klasse ihrer Kinder das Virus nachgewiesen wird; Lehrkräfte sehen sich mit der Gefahr konfrontiert, das Virus unbemerkt in die eigene Familie einschleppen zu können; die Verwaltungen haben Angst, wichtige Details des gesetzlichen Verordnungen zum Infektionsschutz übersehen zu können und dafür von übergeordneten Stellen zur Verantwortung gezogen zu werden.

Die allgegenwärtige Angst vor dem Ausbruch der Krankheit führt bei den Beteiligten dazu, dass sich die Gedanken fast ausschließlich um Fragen des Infektionsschutzes drehen. Pädagogische Überlegungen oder didaktische Fragen werden verdrängt von Planungen zur Logistik, zum Verfolgen von Kontaktwegen oder zum Anbringen von Richtungspfeilen. Manchmal sieht es so aus, als sollten die Schulen in Einrichtungen verwandelt werden, die wie eine medizinische Klinik oder ein naturwissenschaftliches Labor funktionieren.

Seltsamerweise führen diese Maßnahmen aber nicht zu einer Reduktion der Ängste und Befürchtungen. Es hat vielmehr den Anschein, als würden die Ansteckungsherde, die durch die verschiedenen Maßnahmen bekämpft werden, durch diese Maßnahmen überhaupt erst sichtbar. Je mehr Abstandsregeln man einführt, je häufiger man auf der Desinfektion von Tischen oder Türklinken besteht, um so mehr rückt in den Blick, wo überall Keime oder Viren lauern könnten. Psychologisch betrachtet, erhalten die Maßnahmen zur Bekämpfung der Infektion auch das „gefühlte“ Infektionsrisiko am Leben.

Von außen betrachtet, muss aber auch erstaunen, dass sich die Ängste vor allem um die Kinder drehen. Als eigentlicher „Infektionsherd“ werden nicht Eltern oder Lehrkräfte erlebt, sondern die Kinder, mit denen die Erwachsenen aus beruflichen Gründen zu tun haben. Die Kinder sind diejenigen, die die sorgsam zurechtgemachten Regeln und Vorschriften stören oder außer Kraft setzen. Sie halten Abstände nicht ein, setzen die Maske nicht oder verkehrt herum auf oder nehmen, vor allem in der Grundschule, ganz unvermutet körperlichen Kontakt mit ihren Lehrerinnen oder Lehrern auf.

In einer Institution, die wie der Reinraum eines High-Tech-Labors entworfen wird, sind solche Vorgänge der größte anzunehmende Störfall. Maskenmuffeln im Supermarkt kann man aus dem Weg gehen oder man kann sie mit einem strafenden Blick in die Schranken weisen. In der Schule, in der tendenziell Hunderte solcher Abweichler unterwegs sind und in der man darüber hinaus nur in beschränktem Maße über Möglichkeiten verfügt, an die „Vernunft“ dieser Abweichler zu appellieren, wird jede neue Regel, die man einführt, zum Anlass für einen endlosen, letztlich aber auch aussichtslosen  Kampf.

(4) In ihren offenen Briefen weisen die Kinderärzte darauf hin, dass viele Corona-Maßnahmen auch deshalb sehr kritisch betrachtet werden müssen, weil sie die Entwicklungskräfte der Kinder nicht fördern und stärken, sondern diese Kräfte tendenziell schwächen oder sogar dauerhaft beschädigen.

Auf der Grundlage unserer Erfahrungen können wir diese Beobachtung bestätigen. In der Corona-Schule stehen die Kinder nicht mehr für die Hoffnung auf künftige Entwicklungen, sondern sie sind zu Feinden dieser Entwicklung geworden, die man auf Abstand halten, isolieren oder sogar ausgrenzen muss.

In der gegenwärtigen Situation sind jedoch nicht nur die Kinder gefährdet, sondern alle, die mit dem System Schule zu tun haben: die Lehrkräfte, die bei jedem Eintritt in den Klassenraum von der Furcht vor Ansteckung befallen werden; die Eltern, die ihre Kinder am liebsten komplett desinfizieren würden, bevor sie sie in die Arme schließen; die Verwaltung, die den Alltag in der Schule erträglich machen will, dabei aber nur noch mehr Anlässe für Verwirrung und Ängste schafft.

Aus psychologischer Sicht hat diese Situation große Ähnlichkeit mit einer Psychose: Der Umgang mit Corona bietet offenbar gute Bedingungen dafür, die Menschen verrückt zu machen. Was die Kinderärzte über die Schüler schreiben, bezeichnet eigentlich die Ausgangslage eines Systems, das kurz davor steht, einen maßvollen und methodisch begründeten Kontakt mit der Realität zu verlieren.

Es ist sehr schwer, in dieser Situation einen guten Rat zu geben. Wie behandelt man eine Organisation, die das Verhalten ihrer eigenen Klientel tendenziell als eine tödliche Bedrohung versteht? Es ist anzunehmen, dass die Schule ihrem Erziehungsauftrag unter dieser Voraussetzung nur noch sehr unvollkommen gerecht werden kann.

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