Corona-Krieg: Über den Aufstand der Jungen
(1) Das sind schon verstörende Bilder aus Brüssel, die über die sozialen Medien geteilt werden. Im Park Bois de la Cambre hat sich am 1. April eine große Gruppe Jugendlicher versammelt, die Polizei spricht von bis zu 2000 Menschen. Die jungen Leute haben einen Aprilscherz, das schöne Wetter und die Entscheidung eines belgischen Gerichts zum Anlass genommen, um zu feiern. Es verbreitet sich ein Gefühl wie beim Fall der Berliner Mauer: als hätten die Verantwortlichen die Pandemie nach einem Jahr endlich für beendet erklärt. Diese Annahme wird sich als tragischer Irrtum herausstellen.
Was genau passiert ist, wissen wir nicht, aber so könnte es gewesen sein: Während sich immer mehr Jugendliche auf dem Treffpunkt einfinden, patrouillieren Polizeifahrzeuge, die hier auch schon an den Tagen zuvor zu sehen waren. Die Beamten fordern die Jugendlichen über Lautsprecher auf, das Gelände zu räumen – und werden durch Nichtachtung bestraft. Nach und nach tauchen immer mehr Polizeifahrzeuge auf. Einsatzwagen und Fahrzeuge mit Wasserwerfern kommen hinzu. Die Jugendlichen schließen sich zu kleineren Gruppen zusammen und fangen an zu tanzen. Protest- und Freiheitsgesänge sind zu hören.
Wenig später marschiert eine Hundertschaft aus schwer gerüsteten Einsatzkräften auf und versucht die Jugendlichen in die Richtung eines Sees zu treiben. Hinterher wird behauptet, man hätte die Menge auseinandertreiben wollen, aber der Einsatz wirkt eher so, als wäre eine Einkesselung geplant. Die jungen Leute scheinen den Ernst der Lage noch immer nicht begriffen zu haben. Jemand wirft eine Bierflasche in die Richtung der Polizisten, später sieht man das Foto eines Polizisten, der eine Kopfwunde davongetragen hat. Ob hier ein Zusammenhang besteht, ist unklar. Ein weiterer Jugendlicher schlägt immer wieder mit einem in der Umgebung gefundenen Ast gegen einen Einsatzwagen der Polizei.
Dann setzen sich die Wasserwerfer in Bewegung. Man sieht Beamte, die Polizeihunde auf einzelne Jugendliche hetzen; man sieht Polizisten, die eine einzelne Person auf dem Boden fixieren und mit Schlagstöcken auf ihn einknüppeln; man sieht Menschen, die versuchen, auf die Polizisten einzureden und ohne Vorwarnung mit großen Mengen Pfefferspray vertrieben werden; man sieht Jugendliche, die der drohenden Einkreisung in Panik entfliehen wollen und von den Einsatzkräften zurückgetrieben werden.
Schließlich erscheint eine Reiterstaffel der Polizei auf der Szene. Sie reitet am Rand der Menge entlang und versucht die Jugendlichen weiter in Richtung See zu treiben. Eine Gruppe von etwa acht berittenen Polizisten prescht im halben Galopp durch die Menschen, die kaum Zeit haben, zur Seite zu springen. Eine junge Frau, die gerade dabei ist, sich eine Jacke um die Hüfte zu binden, wendet den Reitern den Rücken zu und kann nicht sehen, dass sie auf sie zukommen. Wenig später hat ein Reiter sie niedergerissen. Die Frau landet mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden und bleibt zum Entsetzen der Umstehenden besinnungslos liegen.
(2) Ähnliche Bilder kennen wir sonst nur aus China oder aus südamerikanischen Diktaturen. In unserer Gesellschaft haben wir uns noch nicht daran gewöhnt, dass Polizei oder Militär bereitstehen, eine Menschenmenge unter Anwendung äußerster Gewalt aufzulösen. Wir waren bisher der Überzeugung, dass der Staat davor zurückschrecken würde, solche extremen Mittel gegen das eigene Volk anzuwenden. Wir sind davon ausgegangen, dass der Staat bei der Wahl seiner Zwangsmittel klug und besonnen vorgeht und das Prinzip der Verhältnismäßigkeit wahrt.
Was hat die belgische Polizei dazu veranlasst, dieses Prinzip in Frage zu stellen? Man kann annehmen, dass die Entscheidung im Zusammenhang mit dem Urteil steht, in dem die rechtlichen Grundlagen der belgischen Corona-Politik kassiert wurden. Sicher wird auch eine Rolle spielen, dass das schöne Wetter bereits in den Tagen vor dem 1. April immer mehr Jugendliche nach draußen gelockt hatte und die Untätigkeit der Polizei in der in- und ausländischen Presse heftig kritisiert wurde. Schließlich kommt hinzu, dass die 7-Tage-Inzidenz in ganz Belgien seit einiger Zeit erheblich angestiegen ist.
Aber sind das schon Gründe genug, um feiernde Jugendliche mit staatlicher Billigung verprügeln zu lassen? Welches Verbrechen haben die jungen Leute begangen, die sich bei schönem Wetter in einem Stadtpark treffen und feiern wollen? Sollen sie dafür bestraft werden, dass sich nicht, wie es die deutsche Regierung in ihrem zynischen Werbespot verlangt, freiwillig in Einzelhaft begeben wollen? Will man die Jungen ersticken, damit die Alten leben können?
(3) Wir wissen, dass Feiern und Partys zur Entwicklung in diesem Lebensalter dazugehören. Es ist eben nicht so, dass die Jugendlichen nur ihren Spaß haben und feiern wollen. Sie müssen feiern, weil sie sonst nicht erwachsen werden können. Sie müssen feiern, so wie sie auch zur Schule gehen, eine Ausbildung machen und studieren müssen. Sie müssen tanzen, sich betrinken und umarmen, weil sie nur so ihr altes Leben in den Familien hinter sich lassen und eine neue Rolle in der Gesellschaft finden können. Wer den jungen Leuten das Recht zu feiern nimmt, der nimmt ihnen auch das Recht auf ein Leben in der Welt der Erwachsenen.
Man muss ja hier nicht gleich von Woodstock oder Spring Break anfangen, um den alten Leuten klarzumachen, dass sie selbst auch einmal jung gewesen sind. Man muss das auch nicht alles gut finden, was die Jungen machen. Der Witz am Generationenverhältnis besteht ja gerade darin, dass sich die Jungen und die Alten um die künftige Gestalt der Gesellschaft streiten. Deshalb können die Alten den jungen Leuten sogar sagen, wenn die Party vorbei sein soll und man seine Ruhe haben will. Aber nirgendwo steht geschrieben, dass man die Jungen niederknüppeln und mit einer Reiterstaffel überrennen sollte, wenn man mit ihrer Feierei nicht einverstanden ist.
Die jungen Leute, die da feiern, sind nicht irgendwelche durchgeknallten Extremisten. Es sind unsere Kinder und unsere Enkel, die sich in den Parks versammeln. Es sind diejenigen, die einmal Handwerker, Facharbeiter, Lehrer, Ärzte und vielleicht sogar Polizisten sein werden. Es sind die Menschen, die unsere künftige Gesellschaft tragen und stützen werden. Seit wann kann es sich ein demokratischer Staat leisten, im Namen der Volkgesundheit die eigene Zukunft zu opfern?
(4) Wir haben in unseren letzten Beiträgen darauf aufmerksam gemacht, dass sich hinter den Eindämmungen und Beschwichtigung der gegenwärtigen Krise ein massives Konfliktpotential angestaut hat. Wir haben außerdem die Prognose gewagt, dass sich dieses Potential entladen wird, je länger die Regierungen auf ihrer Politik des Einsperrens und der Abriegelung beharren. Was mit dem Kampf gegen das Virus begonnen hat, das könnte in einem Kampf gegen die Menschen enden.
Die Ereignisse in Brüssel beweisen, wie schnell sich diese Entwicklung verselbständigen kann. Auf den Videos ist zu sehen, wie die Polizei geradezu besinnungslos auf einen Jugendlichen einschlägt, der möglicherweise derselbe ist, der kurz zuvor das Einsatzfahrzeug demoliert hatte. Genauso ungebremst und ungehemmt rennt auch die Reiterstaffel die junge Frau zu Boden. Selbst wenn der einzelne Reiter es gewollt hätte, er hätte nicht stoppen können, die Gruppe hat ihn einfach mitgezogen. Der Reiter ist Teil eines Apparates geworden, der einen Auftrag ausführt und zu Ende führen muss.
Man wird fragen müssen, wer diesen Auftrag angeordnet hat. Man wird nach der Rolle der Medien fragen müssen, die den Druck erhöht oder zumindest als Claqueure am Rande gestanden haben. Und man wird nach der Dienstauffassung der Polizisten fragen müssen, die nicht kühl und besonnen gehandelt haben, wie es das Amt von ihnen verlangt. Wenn man den Bilder trauen kann, dann haben sie mit einer Wut zugeschlagen, die man sonst nur von Eltern kennt, die ihre eigenen Kinder schlagen.
(5) Am Abend eskalierte die Gewalt in dem Brüsseler Stadtpark. Jetzt waren es gewaltbereite und zu allem entschlossene Jugendliche, die sich eine offene Schlacht mit der Polizei lieferten. Es gab Festnahmen und auf beiden Seiten weitere Verletzte.
Belgiens Ministerpräsident De Croo rechtfertigte den ursprünglichen Einsatz der Beamten mit den Worten, das Verhalten der Jugendlichen sei eine Provokation für jede Krankenschwester, die sich um COVID-Patienten zu kümmern hätte. Es bleibt völlig schleierhaft, was der führende Politiker eines Landes damit bezwecken will, wenn er Bevölkerungsgruppen gegeneinander ausspielt.
Was aus der jungen Frau geworden ist, die von der berittenen Polizei zu Boden gerissen wurde, wissen wir nicht. Wir können nur hoffen, dass sie keine bleibenden körperlichen Schäden davontragen wird. Die seelischen Schäden werden immens sein. Niemand, der sich im Park eine Jacke umbindet, wird verstehen, können, warum er im nächsten Moment von einem Pferd zu Boden gerissen wird. Es gibt einfach keinen sinnvollen Zusammenhang, der die beiden Ereignisse verknüpfen könnte.