Antreten zum Appell

 

Antreten zum Appell – Zur Psychologie des Alarmismus 

(1) Der bundesweite Warntag war in verschiedener Hinsicht eine Premiere. Zum ersten Mal wurde in allen Teilen des Landes ein einheitliches Warnsignal ausgesendet und zum ersten Mal wurde dieses Signal auch an die Handys der Bundesbürger weitergeleitet. Zwei Tage nach Nikolaus und einen Tag nach der Razzia gegen die Reichsbürger schrillte bei (fast) allen Bürgern gleichzeitig das Handy und erinnerte sie daran, dass ihr Smartphone noch viel mehr leisten kann, als sie sich bisher vorgestellt haben: Ab sofort kann der Staat seine Bürger binnen Sekunden jederzeit alarmieren, aber auch für die übergeordneten Zwecke des Staates „anrufen“, in Beschlag nehmen oder requirieren. 

In den Medien wurde das Ereignis von Sondersendungen begleitet, in denen Politiker und besorgte Bürger über Gründe für die Modernisierung des Katastrophenschutzes nachdachten. Es wurde über den Ab- und Rückbau der Sirenen geklagt, die nach dem Ende des Kalten Krieges nur noch vereinzelt heulen und von manchen Menschen ernsthaft vermisst zu werden scheinen. An die Überschwemmung im Ahrtal und das Versagen der Landespolitik wurde erinnert und natürlich wurde auch über den Krieg in der Ukraine gesprochen und darüber, dass die Gefahr einer kriegerischen Auseinandersetzung im eigenen Lande nun sehr viel näher gerückt sei.

Am bundesweiten Warntag heulten die Sirenen und die Menschen in Deutschland heulten mit. Sie stimmten ein Lied an von großen Gefahren und zahllosen Entbehrungen, die demnächst auf sie zukommen könnten. Bis Weihnachten sind es nur noch wenige Tage, aber von festlicher Adventsstimmung scheint das Land wie in den vergangenen Jahren weit entfernt zu sein. Die Menschen bewegen sich im Katastrophen-Modus und manchmal hat man den Eindruck, dass sie eher einen kommenden Schrecken herbeisehnen als ein Ereignis, das ihnen den Frieden bringen könnte.

(2) Es ist nicht ausgeschlossen, dass der Warntag einiges dazu beigetragen hat, die schon länger herrschende, bange Stimmung Stimmung in der Bevölkerung zu befördern. Auf den ersten Blick handelt es sich zwar nur um eine Übung, wie sie im Rahmen des Katastrophenschutzes nun einmal üblich ist und wie sie seit Jahr und Tag in Schulen, Betrieben oder Behörden durchgeführt wird. Wenn man genauer hinsieht, dann stellt man aber fest, dass sich doch einiges verändert hat. Das eingespielte Setting, das man vom Feueralarm in den Schulen kennt, war dieses Mal jedenfalls nicht dabei.

Neu ist beispielsweise die Durchführung einer Notfallübung, die von einer Bundesbehörde geplant und organisiert wird. Angelegenheiten des Zivil- und Katastrophenschutzes gehören eigentlich in die Kompetenz der einzelnen Bundesländer, die diese Angelegenheiten im Rahmen ihrer eigenen staatlichen Hoheitsbefugnisse regeln. Neben historischen und verfassungsrechtlichen Gründen spielen dabei vor allem auch praktische Überlegungen eine Rolle, denn die Länder können in der Regel schneller, flexibler und möglicherweise auch angemessener reagieren als der Bund, der zuerst Informationen aus den Ländern einholen, anschließend Entscheidungen treffen und diese dann wieder an die Länder zurückgeben muss.

Anscheinend ist man auf politischer Ebene gegenwärtig aber sehr daran interessiert, in möglichst vielen Bereichen Einheit und Geschlossenheit zu demonstrieren. Der Kanzler hat vom „Unterhaken“ gesprochen und das bedeutet auch, dass die Reihen möglichst fest geschlossen werden sollen, dass Rangeleien um Kompetenzen und Befugnisse oder das Beharren auf Eigenständigkeit vermieden werden sollen. Ein „bundesweiter“ Warntag passt zu einer solchen Devise. Er kann auch als Übung in politischem Zusammenhalt, in Einverständnis, Schulterschluss und Disziplin verstanden werden.

(3) So, wie der Warntag jetzt durchgeführt wurde, umfasst er aber auch die Nivellierung regionaler, lokaler oder individueller Unterschiede. Der Alarm wurde in ganz Deutschland unter fast identischen Bedingungen realisiert. Es gab keine Gemeinde, keinen Landkreis und keine Stadt, in der die Übung nicht stattfand oder die sich nicht daran beteiligen sollte. Der Staat gab ein Signal und im ganzen Land wurde das Signal erhört.

Eine besondere Rolle spielt in diesem Zusammenhang das Handy, das neben den traditionellen Warninstrumenten als zusätzlicher Signalgeber verwendet wurde. Mit dem Handy lässt sich die Reichweite eines Signals tendenziell ins Unendliche steigern. Während man bei herkömmlichen Signalanlagen nie sicher sein kann, ob der Signalton auch tatsächlich bei allen ankommt, die man erreichen will, ist das Handy fast immer empfangsbereit. Seit dem bundesweiten Warn-Tag trägt jeder Bundesbürger eine versteckte Sirene mit sich herum, die ihn jederzeit ansprechbar macht.

Weil das Signal alle Menschen im Lande auf dieselbe Weise anspricht, treten individuelle Abweichungen und Unterschiede zurück. In dem Moment, in dem der Warnton auf dem Handy ertönt, werden alle Bürger des Landes in eine ähnliche Ausgangssituation versetzt. Unabhängig davon, ob sie sich gerade in der Bahn, an der Einkaufstheke oder in einem Meeting befinden, werden sie mit einem identischen Alarmton konfrontiert und dazu aufgefordert, sich irgendwie zu diesem Signal zu verhalten.

Man kann wohl behaupten, dass es in der Vergangenheit noch keine Situation gegeben hat, in der sämtliche Menschen eines Landes zum gleichen Zeitpunkt mit Hilfe eines technischen Hilfsmittels mit einer spezifischen, von staatlicher Seite ausgegebenen und im Vorfeld exakt berechneten Botschaft konfrontiert wurden.

(4) Das Signal, das auf das Handy gesendet wird, ist zugleich ein sehr spezielles Signal. Von den Technikern ist es offenbar so eingerichtet worden, dass es laut genug ist, um andere Alltagsgeräusche zu übertönen. Das Sound-Engineering hat den Ton aber auch so manipuliert, dass er an der Grenze des gerade noch Erträglichen, in der Nähe eines fast körperlich spürbaren Schmerzes liegt. Verglichen mit der Zudringlichkeit des aktuellen Warntons lässt sich der monotone oder der in regelmäßigen Abständen auf- und abschwellende Ton der herkömmlichen Sirenen fast schon als melodiös bezeichnen.

Die Zudringlichkeit des Warntons zeigt sich auch darin, dass er sämtliche Beschäftigungen, denen die Menschen im Augenblick des Alarms nachgehen, unweigerlich unterbricht oder zum Erliegen bringt. Die Menschen schrecken auf, halten mitten in der Handlung inne und unternehmen alles Mögliche, um den Ton möglichst schnell wieder abzustellen. Der Ton dringt also nicht nur physisch in das Gehör ein, sondern er drängt sich auch im übertragenen Sinne in die jeweils aktualisierten Handlungsvollzüge ein und setzt sich selbst an die Stelle dieser Handlungen.

Wie jeder andere Warnton hat auch der neuerdings verwendete Warnton etwas Raumgreifendes. Er beansprucht einen eigenen Platz und bringt dabei die bereits angelaufenen Möglichkeiten der „Raumerfüllung“, d.h. die Chancen auf aktiven Teilhabe im Raum oder auf Gestaltung gemeinsamer Raumerfahrungen zum Erliegen. Das Eindringliche des Warntons ist auch ein Eindringen in den persönlichen Raum, ein Bedrängen oder Verdrängen des erlebten und gelebten Raumes. Es hat den Charakter eines „Raumverlustes“ (Binswanger 1942).

Erwachsene, die einen Krieg erlebt haben, stellen aus Anlass eines Probealarms fast immer Verbindungen zu längst vergangenen Kriegsereignissen her. Verbindungen zu solchen Ereignissen sind auch bei den gegenwärtig durchgeführten Übungen sehr wahrscheinlich, etwa in Form von Phantasien über Bombenangriffe oder allgemeine Kriegszerstörungen. Aus psychologischer Sicht ist jedoch zu vermuten, dass sich in solchen Phantasien die unmittelbare Erfahrung des Raumverlustes, wie sie durch das Signal selbst ausgelöst wird, widerspiegelt. Das erste ist also die Erfahrung eines körperlichen Bedrängt- oder Überwältigt-Werdens durch den Alarmton. Die Phantasien sind bereits eine weitergehende Verarbeitung dieser Erfahrung. Sie sind ein Versuch, den aktuell erlebten Raumverlust mit bestimmten Ereignissen in der äußeren Wirklichkeit zu verbinden und dadurch fassbar zu machen.

(5) Während es bei einem herkömmlichen Probealarm möglich war, sich dem Alarmton zu entziehen und bereits angelaufene Beschäftigungen weiterzuführen, ist dies im Fall des auf das Handy eingespielten Warntons nicht möglich. Anders als traditionelle Warnsignale erzwingt dieses Signal eine spezifische Antwort auf den Alarm. Der Empfänger kann sich gegenüber dem Signal weder gleichgültig verhalten noch kann er passiv bleiben. Er muss auf das Signal reagieren und dem Signalgeber auf diese Weise bestätigen, dass ihn die Nachricht erreicht hat. Er muss den „Anruf“, der ihn von staatlicher Seite erreicht hat, mit einer spezifischen Reaktion beantworten.   

In der Regel sieht diese Reaktion so aus, dass die Menschen nach der Stelle suchen, von der sie vermuten, dass sie den Ablageort ihres Handys bezeichnet. Sie springen beispielsweise mitten im Gespräch auf, greifen an die Brusttasche, an der sie üblicherweise ihr Handy unterbringen, suchen in einer Tasche, die neben dem Stuhl steht oder verlassen manchmal auch fluchtartig das Zimmer, um die Suche nach dem Handy in einem Nebenraum fortzusetzen.

Wenn es ihnen gelingt, das Handy ausfindig zu machen, drücken sie in hektischer Folge alle möglichen Knöpfe, bis das Display aufleuchtet und die Anwendung sichtbar wird, die immer noch mit konstanter Lautstärke ihren zu- und eindringlichen Warnton aussendet. Die meisten Menschen finden anschließend ohne größere Umstände die richtige Taste, mit der sich dieser Ton zum Schweigen bringen lässt und atmen anschließend erleichtert auf.

Die wenigsten dürften sich allerdings darüber im klaren sein, dass sie mit dem erfolgreichen Tastendruck auch den Empfang des Warnsignals quittiert und die zuständige Bundesbehörde über den Ausgang des Probealarms informiert haben. Mit dem Druck auf den roten Knopf, der den Warnton abschaltet, ist aus dem Empfänger dieses Signals ein Signalgeber geworden. Der Bürger hat den Ton abgeschaltet, aber sich selbst bei der Behörde angemeldet. Er hat die „Anrufung“ (Althusser 1970) durch den Staat beantwortet, indem er den Empfang der Botschaft quittiert hat.

(6) Übungen zum Katastrophenschutz sind notwendig und wichtig, weil damit im Ernstfall erhebliche Schäden an Leib und Leben verhindert werden können. Sinnvoll und richtig ist dabei auch der Einsatz von Warnsignalen, die geeignet sind, bestehende Routinen zu unterbrechen und die Aufmerksamkeit der Bevölkerung auf Anweisungen und Informationen zu lenken, die dazu beitragen können, das Leben vieler Menschen zu retten. Die Vorbereitung und Organisation der dazu erforderlichen Maßnahmen kann auch als Musterbeispiel einer legitimen Beeinflussung durch staatliche Ämter oder Behörden verstanden werden.

Im Fall des bundesweiten Warntages irritiert aber die zeitliche Nähe zu faktisch bereits eingetroffenen Krisen, wie sie beispielsweise durch die gerade überstandene Corona-Krise, den Krieg in der Ukraine oder die die Mangelwirtschaft im Energiesektor beschrieben werden können. Der Alarmismus, mit dem die Politik auf solche Krisen reagiert, legt den Eindruck nahe, dass es sich bei dem „Warntag“ nicht lediglich um eine Übung, sondern bereits um die Vorbereitung auf einen Ernstfall handelt, der nicht einfach nur von selbst immer näher rückt, sondern durch die Warnung vor seinem Eintreffen überhaupt erst heraufbeschworen wird. 

In diesem Zusammenhang darf man auch die Wirkung der neuen, „interaktiven“ Medien nicht unterschätzen, die bei der Durchführung des Warntages zur Anwendung gekommen sind. Das Smartphone ist nicht bloß eine technische Spielerei, mit der die Reichweite eines akustischen Warnsignals verstärkt wird, sondern es ist auch ein massiver Eingriff in das bisher gültige Setting des Probealarms, bei dem die Möglichkeiten einer Störung alltäglicher Lebensformen ausgebaut und perfektioniert worden sind: bis hin zu einem Punkt, an dem diese Störung im Grunde bereits selbst schon den Charakter eines Angriffs, einer Überrumpelung, einer Zerstörung annimmt.

Entscheidend ist hier vor allem das Ende des Probealarms, das durch die Warn-App vorgezeichnet wird und die Menschen dazu veranlasst, unmittelbar zur Tat zu schreiten. Denn nur indem sie selbst tätig werden, d.h. indem sie aufspringen, nach dem Handy suchen, Knöpfe drücken, Kniffe und Handgriffe anwenden, können sie den Raum zurück erobern, der ihnen genommen wurde. Erst indem sie sich auf ein „Handgemenge“ einlassen, im Wortsinne tätig und tätlich werden, können sie die Gefahr abwenden, in die sie zuvor durch künstliche Manipulationen hineinversetzt worden sind.

Die Überwältigung durch ein Geräusch, das an den Nerven zerrt; der Wunsch, sich dieser Überwältigung zu entziehen; das unvermittelte Aufspringen und die hektische Suche nach Hilfe; der Griff nach einem Gegenstand, mit dem man einen Zustand der Bedrängnis abwenden will; schließlich der Druck auf einen roten Auslöseknopf: das sind Stationen einer Handlungsfolge, die eindeutig aggressiven oder kriegerischen Charakter hat. Es geht darum, sich mit allen verfügbaren Mitteln seiner Haut zu erwehren und einen Aggressor auf Abstand zu halten.

Der Sinn des „Warntags“ besteht also letztlich nicht in der Warnung vor einem kommenden Krieg, sondern diese Warnung ist schon der Krieg selbst. Am vergangenen Donnerstag haben mehr als 80 Millionen Bundesbürger an einer staatlich verordneten Simulation des Krieges teilgenommen. Auch wenn diese Simulation nicht länger als dreißig Sekunden gedauert haben mag, sind doch alle, die auf den roten Knopf gedrückt haben, unwissentlich zu Komplizen eines Staates geworden, der die Möglichkeit eines Krieges im eigenen Land nicht mehr ausschließen will.

 

Althusser, Louis (1970): Ideologie und ideologische Staatsapparate. Deutsch in: Louis Althusser, Über die Reproduktion. Hamburg (2012): VSA.

Binswanger, Ludwig (1942): Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins. Zürich: Niehans.

Print Friendly, PDF & Email